"Wir machen schließlich keinen Abenteuerurlaub"
Seit acht Jahren pflegt die Evangelische Kirchengemeinde Bovenden bei Göttingen eine intensive Partnerschaft zur Iglesia Luterana de Nicaragua "Fe y Esperanza" (ILFE), zur Lutherischen Kirche Nikaraguas "Glaube und Hoffnung". Seit 1992 reist alle zwei Jahre eine deutsche Delegation nach Nikaragua und im darauf folgenden Jahr besucht eine Gruppe Nikaraguaner Deutschland.
von Jan Fragel
Geleitet wird die Begegnungsarbeit in Bovenden von Diakon Lothar Weiß. Der 59-Jährige traf Anfang der 90er-Jahre bei einem Besuch in Managua auf eine der ersten lutherischen Gemeinden in Nikaragua. Gemeinsam mit dem dortigen Pastor Ilo Utech entstand die Idee eines regelmäßigen Jugendaustausches.
Im Mittelpunkt der Begegnungen stehen keine Hilfsprojekte, keine Entwicklungshilfe im eigentlichen Sinn, sondern das Erleben der anderen Kultur und Lebensweise - mit all den Reizen und Problemen, die der Alltag zu bieten hat. Nicht zuletzt geht es darum, zu erfahren, wie christlicher Glaube woanders gelebt wird. Dabei sind die Partnergruppen mittlerweile nicht mehr nur Gäste und schon gar keine Fremdlinge - mit den Jahren ist daraus mehr geworden.
Die Sonne brennt heiß über dem kleinen Dorf Santa Teresa an der Grenze nach Honduras. Dabei ist es erst morgens kurz nach halb neun. Santa Teresa gehört zu den 40 Gemeinden der ILFE in Nikaragua. 160 Einwohner zählt das Dorf, alle leben von der Landwirtschaft. "Ist das eine Hitze", stöhnt Andreas Mindt, ein Mitglied der siebenköpfigen Delegation, die 1999 mit Diakon Lothar Weiß Nikaragua besuchte.
Schweißtropfen perlen aus seinem Gesicht und seine helle Haut färbt sich in der prallen Sonne nach und nach rot. Andreas, Diakon Weiß und die anderen beteiligen sich am Aufbau eines Dorfgemeinschaftshauses. Gemeinsam mit den Mitgliedern der Gemeinde schachten sie das Fundament aus und füllen es mit Kies, Steinen und Beton. Die Baumaterialien wie Zement und Baustahl hat der kleine Lastwagen der Kirche gebracht. Junge Pastoren, Jugend- und Kindergruppenleiter der ILFE und auch die Deutschen saßen oben drauf und sind so aus Managua nach Santa Teresa gekommen.
Sprachbarrieren gibt es nicht oder sind schnell abgebaut. Für die zahlreichen Kinder sind Verständigungsprobleme ohnehin nicht vorhanden. Die Deutschen sind entweder Studenten oder Abiturienten, manche sprechen ein sehr gutes, andere ein weniger gutes Spanisch. Da auch die Erwachsenen in Santa Teresa aufgeschlossene Menschen sind, machen sie es den Jugendlichen leicht, mit den ungewohnten Lebensverhältnissen klar zu kommen.
Es gibt keine Elektrizität, "weil sich der Energieversorger keinen Profit davon verspricht, eine drei Kilometer lange Leitung zu uns armen Bauern zu legen", erzählt der Bürgermeister des Dorfes Plutarco Andrades. Wasser gibt es nur an einem zentralen Brunnen am unteren Rand des Dorfes.
Direkt daneben stehen zwei gemauerte Kabinen, in denen man mit einem Eimer voll Wasser und einer Schale duschen kann. Edvard Ziegeler steht in einer dieser Duschen. Gerade gießt er sich noch ein Schälchen Wasser über den Kopf und schon ist er fertig geduscht. Der 20-Liter-Eimer, den er benutzt hat, ist noch halb voll. "Also habe ich mit zehn Litern geduscht, das mach mal einer in Deutschland", erklärt er, nimmt seine Kleidung und wäscht mit den restlichen zehn Litern noch schnell seine Hose.
"Hier herrscht ein ganz besonderer Geist", beschreibt Timo Lüdecke begeistert die Stimmung im Dorf. Und den versprüht allen voran Plutarco Andrades. Er ist nicht nur Bürgermeister, sondern auch Pastor und - wenn es sein muss - auch mal Arzt. "Die Frau eines Bauern hatte vor ein paar Tagen ihr Baby entbunden", erzählt Dorothea Stresing, "sie hatte Schmerzen und bat Plutarco, ihr eine Spritze zu geben."
Um aus den Umstände das Beste zu machen, benötigen die Menschen eine ausgeprägte Improvisationskunst - insbesondere nach den häufigen Naturkatastrophen. Als im Herbst 1998 der Hurrikan Mitch in Zentralamerika eine Spur der Verwüstung hinterließ, hat auch Santa Teresa darunter gelitten. Glücklicherweise ist niemand in den Fluten ums Leben gekommen, aber die komplette Ernte wurde davon gespült. "Trotz dieser äußerst schlechten Voraussetzungen schaffen es die Leute immer wieder, etwas auf die Beine zu stellen und ihr Leben zu meistern", erzählt Timo Lüdecke fasziniert.
Die Jugendlichen aus Deutschland bekommen das Leben in Nikaragua hautnah mit. Sie leben in Familien und besuchen Freunde. Das betonen sie bei jeder Gelegenheit, und die Nikaraguaner bestätigen dies jedes Mal mit einem Lächeln.
In Managua, dem Sitz der Zentrale der ILFE, wohnen die Deutschen gemeinsam mit den Jugendlichen auf einer kleinen Finca im Stadtteil Cedro Galan. Sie dient der Kirche als Fortbildungszentrum und Begegnungsstätte. Zwischen Nikaraguanern und Deutschen gibt es dort Gespräche über ihr Leben, ihre tägliche Arbeit und ihren Glauben: Wie haben sie den Hurrikan Mitch 1998 erlebt? Wie hart ist eigentlich die Arbeit in den so genannten Macilas, den Freihandelszonen, in denen die Menschen für einen Hungerlohn arbeiten, um zum Beispiel Markenjeans zu nähen? Wie sieht der Tagesablauf eines Jugendlichen in einem Dorf ohne fließendes Wasser und Strom aus? Welche Perspektiven sehen die Jugendlichen für ihr Leben?
Außerdem besuchen sie gemeinsam Umwelt-, Frauen- und Straßenkinderprojekte, um zu erfahren, mit welchen politischen und ökonomischen Problemen die Menschen dort täglich zu kämpfen haben. Beim Besuch 1999 lag ein Schwerpunkt beim Thema Erlassjahr 2000. In Diskussionen mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Präsidentin der ILFE, Victoria Cortez, erfuhren die Jugendlichen etwas darüber, wie sich die Menschen in Nikaragua einen Schuldenerlass vorstellen und was sie dabei von den Gläubigerländern erwarten.
Wenn die Jugendlichen wieder in Deutschland sind, ist die Arbeit der Partnerschaftsgruppe Bovenden nicht vorbei. In Kindergottesdiensten, bei Jugendgruppen, in Schulklassen, Seniorenkreisen und Gottesdiensten berichten sie von ihren Erfahrungen und Erlebnissen in Nikaragua. "Wir machen schließlich keinen Abenteuerurlaub, auch wenn Nikaragua es ein kleines Abenteuer ist", sagt Lothar Weiß. Kern der Arbeit sei die entwicklungspolitische Bildung im eigenen Umfeld. "Vielleicht auch so ein bisschen gegen den Trend." Weiß meint nämlich, dass sich seit gut zehn Jahren viele Kirchengemeinden in Deutschland mehr auf den eigenen Kirchturm konzentrieren. "Wir möchten nicht, dass die Menschen in der so genannten Dritten Welt in Vergessenheit geraten."
Im August 2000 besuchten sechs junger Erwachsene aus Nikaragua Bovenden. Die Deutschen hatten ein Programm vorbereitet, das inhaltlich die Themen des Vorjahres in Nikaragua fortsetzen sollte. Unter anderem ging es um Schuldenerlass, Erlassjahr 2000 in Nikaragua und die Ziele deutsche Nichtregierungsorganisationen in dieser Frage. In Berlin besuchten sie die Organisation INKOTA, die sich in der Erlassjahr-Kampagne engagiert. Mit dem Koordinator für die östlichen Bundesländer und Mittelamerikaexperten, Arndt Massenbach, diskutierten sie gemeinsam über Chancen und Wege einer Entschuldung ihres Landes. "Dabei konnten wir sehen, dass man hier in Deutschland die gleichen Ziele verfolgt, wie bei uns", sagt Melba Martínez, "das war sehr gut!"
Gefragt, was denn das beeindruckendste Erlebnis hier in Deutschland gewesen sei, antworteten alle Nikaraguaner geschlossen: das "Ökumenische Forum". Die nikaraguanische Delegation nahm am "Ökumenischen Forum" in Bovenden teil. Eine Woche lang lebten sie zusammen mit Jugendlichen und Erwachsenen aus der evangelischen und katholischen Gemeinde und mit Jugendlichen aus Ungarn. Themen waren unter anderen Erlassjahr 2000, Leben in der Kirche und ein Bibliodrama, ein Rollenspiel zu einem biblischen Thema. In drei Sprachen - Ungarisch, Spanisch und Deutsch - spielten sie eine Geschichte aus der Bibel nach (Apostel 8, 26 - 40). "Es gab überhaupt keine Unterschiede zwischen den Kulturen", schwärmt Darwing Ortíz. "Wir haben alle zusammen die Geschichte vom Text in die Realität übertragen." Und durch das Rollenspiel habe jeder verstehen können, worum es in der Geschichte geht, auch ohne zu verstehen, was der Andere sagt.
"Ich glaube, dass wir in diesem Jahr sagen können, dass sich die Partnerschaft verstärkt hat", sagt die Präsidentin der ILFE, Victoria Cortez. Was sie besonders freut ist, dass sich die Begegnungsarbeit zwischen Bovenden und Nikaragua "nicht auf hoher hierarchischer Ebene" bewegt, sondern von der Basis für die Basis gemacht ist. "Wir haben ein Stadium größerer Reife erreicht", erzählt sie weiter. "Unser Besuch ist gar nichts außergewöhnliches mehr. Wir sind in diesem Jahr gekommen, um unsere Familien zu sehen."
Hinweise:
Internet-Tipp:
www.plessejugend.de
Diese Internetseite enthält Informationen zur Jugendarbeit in Bovenden und
Umgebung sowie zur Partnerschaftsarbeit mit Nikaragua und anderen Ländern.
Buch-Tipp: Nicht Gäste und Fremdlinge - Reise gegen das
Vergessen
Dokumentation über die Reise der Jugendgruppe nach Nicaragua 1999, Verlag:
Weender Druckerei, 2000, ISBN: 3-930333-93-7
Kontakt: Evangelische Kirchengemeinde Bovende
Diakon Lothar Weiß, Rathausplatz 4, 37120 Bovenden, Telefon & Fax: 0551 81355
aus: der überblick 01/2001, Seite 140
AUTOR(EN):
Jan Fragel:
Jan Fragel ist freier Journalist