Studierende aus Marokko an der Universität Granada
Trotz juristischer Benachteiligung und relativer Isolation genießen marokkanische Studentinnen und Studenten an der Universität Granada ihre Zeit in Spanien und bilden später gesellschaftliche und wirtschaftliche Netzwerke zwischen Andalusien und Nordmarokko.
von Eva María Gonzáles Barea und Dr. Gunther Dietz
Zum Hauptmerkmal ihrer Identitäts- und Tourismuspolitik hat die südspanische Stadt Granada - dank der Alhambra und des arabischen Viertels Albayzín - ihr "maurisches Erbe" erkoren. Doch seit einigen Jahren beginnt sich das Klischee vom moro, vom "Mauren", grundlegend zu wandeln. Einst war die südspanische Region Andalusien der Brückenkopf der islamischen Zivilisation in Europa. Doch seit Spaniens Beitritt zur Europäischen Union und der Unterzeichnung des Schengener Abkommens, wird Andalusien schrittweise in die profane Rolle eines EU-Grenzpostens gedrängt. In einem der klassischen Herkunftsgebiete vieler sogenannter Gastarbeiter-Familien der sechziger und siebziger Jahre sorgt die plötzliche Umkehr von einer Auswanderungs- in eine Einwanderungsregion für Verwirrung: "Wie schlimm muß es in Afrika zugehen, wenn immer mehr moros ausgerechnet ins arme Andalusien einwandern!" Das Bild der marokkanischen patera, des mit illegalen Einwanderern überfüllten Holzkahnes, hat seitdem die vorherrschende Wahrnehmung des Mauren in der spanischen Öffentlichkeit bestimmt.
Dieses Bild wird jedoch gerade in Andalusien zunehmend durch eine gänzlich andere Art der marokkanischen Einwanderung in Frage gestellt: Die Universität Granada, eine der ältesten und größten spanischen Universitäten, ist in den letzten Jahren zum Hauptanziehungspunkt der Söhne und Töchter einer aufstrebenden kaufmännischen und bildungsbürgerlichen Schicht geworden. Vor allem aus den nordmarokkanischen Städten Tetuan, Tanger, Nador, Al-Hoceïma und Larache stammen mehr als sechzig Prozent der rund 7.000 in Granada immatrikulierten ausländischen Studierenden.
Warum wird Granada, wo einst die maurische Nazriten-Dynastie die Alhambra erbaut hat, zum Magnet für Studentinnen und Studenten aus Marokko? Granada zieht zur Zeit mehr als die Hälfte aller in Spanien studierenden Marokkaner an. Die Bedeutung der Stadt für das marokkanische Bildungsexil ist nicht hinreichend mit der geographischen Nähe erklärbar oder damit, daß sich diese Studenten vom maurischen Erbe der Stadt angezogen fühlen. Schwerer als die Lage und die islamische Vergangenheit von Al-Andalus wiegt nach wie vor das koloniale und frankistische Erbe Spaniens. Daß bis in die fünfziger Jahre Teile Marokkos ein Protektorat Franko-Spaniens waren, hat ähnlich wie im Falle Frankreichs enge kulturelle Bande zwischen den lokalen Eliten der Rif-Region und der Kolonialmacht entstehen lassen. Eine Reihe spanischsprachiger Gymnasien, die ursprünglich für die Kinder der Protektoratsbeamten gegründet worden waren, bildet bis heute auch zahlreiche Söhne und Töchter einflußreicher nordmarokkanischer Familien aus und verleiht ihnen einen auch in Spanien anerkannten Abschluß.
Ein weiteres Merkmal des fortwirkenden kolonialen Erbes besteht in der diplomatisch umstrittenen Rolle, welche die im frankistischen Jargon plazas de soberanía genannten spanischen Enklaven Ceuta und Melilla spielen. Beide Garnisonsstädte, die von der marokkanischen Regierung nach wie vor nicht als spanisches Hoheitsgebiet anerkannt werden, sind zum einen wichtige Zwischenstationen für die illegale Einwanderung ins europäische Festland, weshalb ihre Außengrenzen in den letzten Jahren zunehmend militarisiert worden sind. Doch zum anderen wirken sowohl Ceuta als auch Melilla und die in ihnen lebenden islamischen Minderheiten als kulturelle Brückenköpfe in die benachbarten marokkanischen Städte hinein. So gut wie alle, die als spanische Staatsbürger islamischen Glaubens in Ceuta und Melilla leben, identifizieren sich ethnisch als Amazigh (Berber) - wie der Großteil der nordmarokkanischen Bevölkerung - und verfügen über enge verwandtschaftliche Beziehungen nach Marokko. Dank ihres spanischen Passes können sie sich relativ frei diesseits und jenseits der EU-Südgrenze bewegen.
Das spanischsprachige Schulnetz Nordmarokkos fördert und verstärkt diesen kleinen Grenzverkehr, da Ceuta und Melilla für die marokkanischen Absolventen dieser Schulen aus hochschulpolitischen Gründen von zentraler Bedeutung sind. Obwohl im Laufe der als transión bekannten, schrittweisen Demokratisierung der spanischen Institutionen nach Francos Tod 1975 das spanische Universitätssystem den Anschluß an Europa erstrebt, bestehen zahlreiche Kennzeichen des frankistischen Systems fort. Hierzu zählt auch die Einteilung Spaniens in Hochschuldistrikte, deren Gymnasialabsolventen verpflichtet sind, in der für sie zuständigen Universität zu studieren. Nur zögerlich wird diese Einteilung heute aufgegeben. Entsprechend dieser Regelung zur Unterbindung der studentischen Mobilität ist für die nordmarokkanischen Enklaven Ceuta und Melilla seit Protektoratszeiten die Universität Granada zuständig. Ebenfalls aus der Franco-Zeit stammen zahlreiche Austauschprogramme, die Granada mit den Universitäten Tanger und Tetuan unterhält.
All diese in die Kolonialzeit zurückreichenden Faktoren haben seit den fünfziger Jahren eine gewisse Tradition geschaffen, nach der zahlreiche begüterte Familien Nordmarokkos ihre Söhne und Töchter weder im Lande selbst noch im frankophonen Ausland, sondern in Granada studieren lassen. Während für die zentral- und südmarokkanischen Regionaleliten ein Studium an französischen und in geringerem Umfang belgischen Universitäten der herkömmliche Weg zum sozialen und kulturellen Aufstieg ist, hat die nordmarokkanische Elite Granada beziehungsweise Spanien zum Vehikel ihres Emporkommens erkoren.
In dieser Wahl spiegelt sich nicht nur die koloniale Aufteilung Marokkos unter zwei europäischen Mächten wider. NordmarokkaniscHe Familien betonen vor allem die regional-ethnischen Besonderheiten der Mittelmeerküsten- und Rif-Region gegenüber dem übrigen Marokko. Und sie klagen, daß Nordmarokko seit der Unanbhängigkeit unter dem Vorwand des Verdachts eines "berberischen Sonderwegs" von der Regierung in Rabat an den Rand gedrängt und bevormundet worden sei. Die Wahl einer nichtfrankophonen Universitätsstadt kann man deshalb auch als zaghaften Beginn einer Identitätspolitik verstehen, die sich bewußt von der staatlichen Politik Rabats abhebt und den in Granada erworbenen andersartigen kulturellen Reichtum bewußt dem klassischen, französischen Universitätstitel gegenüberstellt. Das bestätigt sich auch in der Berufswahl. Die regionalwirtschaftlich einflußreiche Schicht Nordmarokkos ist bestrebt, ihre ökonomische Selbständigkeit nicht zugunsten einer Zwangsintegration in den marokkanischen Verwaltungsapparat aufzugeben. Die marokkanischen Studentinnen in Granada - rund die Hälfte der marokkanischen Studierenden dort sind Frauen - wählen vorwiegend die Fächer Pharmazie, Medizin oder Übersetzungswissenschaften, während ihre männlichen Kommilitonen Bauingenieurwesen, Informatik oder auch Medizin und Pharmazie bevorzugen. Dagegen sind die für eine Beamtenlaufbahn klassischen Studiengänge wie Jura, Staats- und Verwaltungswissenschaften sowie Lehramt bei den marokkanischen Studierenden in Granada unterrepräsentiert, während diese Studiengänge von Marokkanern an französischen und belgischen Universitäten durchaus belegt werden.
Das innermarokkanische Süd-Nord-Gefälle hat auch eine sprachpolitische Ausprägung. Nicht nur infolge des kolonialen Erbes ist in der nordmarokkanischen Ober- und Mittelschicht Spanisch und nicht Französisch die bevorzugte Sprache. Viele Studenten hatten diese Sprache bereits vor dem Besuch der spanischsprachigen Schule gelernt. Sie hatten schon als Kinder jahrelang Sendungen des spanischen Fernsehens, das man in Nordmarokko empfangen kann, geradezu verschlungen. Eine Marokkanerin erzählte, daß sie in ihrem ersten Studienjahr in Granada von ihren andalusischen Kommilitonen als Señorita Telediario (Fräulein Tagesschau) geneckt worden sei, weil sie - im Gegensatz zu den Studierenden aus Granada - das kastilische Hochspanisch der Fernsehnachrichtensprecher akzentfrei beherrschte.
Neuerdings schreiben sich aber auch mehr frankophone Studierende aus Marokko in der Universität von Granada ein. Wahrscheinlich sind restriktivere Zulassungspraktiken der einstmals von Zentral- und Südmarokkanern bevorzugten französischen und belgischen Universitäten die Ursache. Für die frankophonen Studenten ist Granada aber nicht die ersehnte Bildungsstätte, sondern eher dritte Wahl. Granada wird nur als Studienort ausgesucht, nachdem alle frankophonen Optionen gescheitert sind. Zwar kommt nach wie vor die große Mehrheit der marokkanischen Studierenden in Granada aus den nordmarokkanischen Städten, aber es gibt bereits erste Netzwerke von Studierenden aus Rabat und Casablanca.
Für die Universität in Granada tauchen dadurch neuartige Probleme auf: Es gibt Verständigungsschwierigkeiten zwischen Studenten und Lehrenden, weil diese neuen Erstsemestler Spanisch kaum beherrschen. Zum anderen stammen die süd- und zentralmarokkanischen Studierenden, für die Granada nur die "dritte Wahl" darstellt, nicht mehr ausschließlich aus den begütertsten Schichten. Die wohlhabenderen Familien reagieren nämlich auf eine Ablehnung ihrer Kinder an einer frankophonen Universität damit, daß sie diese an eine kanadische oder US-amerikanische Universität schicken.
Auch Kommilitonen aus anderen EU-Ländern haben in Granada natürlich solche Sprachprobleme und stammen nicht unbedingt aus begüterten Familien. Im Gegensatz zu diesen leiden jedoch die marokkanischen Studierenden darunter, daß sie juristisch stark benachteiligt werden: Das Visum für Studierende, das sie zur Einreise nach Spanien benötigen, erlaubt nur einen zeitlich begrenzten Aufenthalt zu Studienzwecken. Wer die jährliche Prüfung zur Aufnahme in das nächste Studienjahr nicht besteht, kann ausgewiesen werden und würde in diesem Fall die Erwartungen seiner Familie schwer enttäuschen.
Dieses alle marokkanischen Studierenden ständig bedrohende juristische Damokles-Schwert behindert ihre soziale Integration in die lokale Gesellschaft und die studentischen Subkulturen entscheidend. Während sich ihre andalusischen Kommilitonen seit Francos Tod besonders der sprichwörtlich gewordenen und häufig exzessiv gelebten movida, dem öffentlichen Nachtleben, widmen, konzentrieren sich viele Marokkaner fast ausschließlich auf das Studium. Diejenigen marokkanischen Studierenden, deren Aufenthalt nicht vollständig von ihren Familien finanziert werden kann, müssen außerdem wegen des mit dem Visum verbundenen Arbeitsverbots in der Schattenwirtschaft jobben.
Neben dieser relativen Isolierung erleben viele marokkanische Studierende in Granada zunächst eine Art Kulturschock. Sie führen diesen auf religiöse Unterschiede und damit verbundene Lebensstile zurück. Besonders der unter andalusischen Kommilitonen offen praktizierte Konsum von Alkohol und Tabak sowie deren angeblich laszive Einstellungen zu Sexualität und Partnerwahl stoßen auf nahezu einhellige Ablehnung unter marokkanischen Studierenden. Aus Marokko mitgebrachte Vorstellungen über die "Dekadenz" christlich-westlicher Lebensweisen scheinen sich hier zu bestätigen.
Auf die Erfahrung kulturell-religiöser Fremdheit reagieren die marokkanischen Studierenden jedoch je nach Geschlecht verschieden. Viele der männlichen lehnen den vorherrschenden studentischen Lebensstil für sich selbst zwar prinzipiell ab. Weil jedoch ihr Aufenthalt in Granada zeitlich begrenzt und auf die Ausbildung beschränkt ist, bietet gerade die angebliche Zügellosigkeit spanischer Studentinnen den Reiz und die Exotik des sexuellen Abenteuers. Diese häufig anzutreffende Einstellung des "marokkanischen Abenteurers" bestätigt andererseits bei andalusischen Studentinnen das Stereotyp vom marokkanischen Macho, der bloß Zuwachs für seinen Harem suche. Daher scheitert ein interkultureller Erfahrungsaustausch in diesem Bereich bereits in seinen Anfängen.
Die marokkanischen Studentinnen hingegen sehen sich vor der doppelten Anforderung, ihre eigene sexuelle Identität und Ehre sowohl gegenüber der "christlich-dekadenten" Mehrheitsgesellschaft als auch gegenüber dem kompromittierenden Verhalten ihrer männlichen Landsleute zu verteidigen. Die Isolation, in die dadurch viele gezwungen werden, wird durch Vorurteile der lokalen Mehrheitsgesellschaft verstärkt. Denn sobald eine Marokkanerin sich aus traditionellen Rollenvorstellungen löst und beginnt, sich "westlich emanzipiert" zu verhalten, werden ihr zum Teil verdeckt, zum Teil offen Prostitutionsabsichten unterstellt - und dies nicht nur von spanischer Seite, sondern oft auch von ihren männlichen Landsleuten.
Trotz der Integrationsprobleme genießen die marokkanischen Studierenden aber die Studienzeit in Granada als soziales Privileg und als Phase relativer Unabhängigkeit von elterlicher und verwandtschaftlicher Kontrolle. Und als Absolventen einer europäischen Universität können sie nach ihrer Rückkehr auf soziale Anerkennung und wirtschaftliche Prosperität hoffen. Im Rückblick wird das Abenteuer Granada daher oft verklärt erinnert. Trotz der vielfach erlittenen Isolation und sogar Schmach herrscht mehrheitlich eine positive Einstellung zur Universität und zur Stadt Granada vor, deren verwinkelte Gassen und Plätze von vielen nostalgisch mit denen von Fes verglichen werden. Folglich sind viele Rückkehrer bestrebt, die Kontakte zu Granada nicht ganz zu verlieren. Indem sie ihre jüngeren Geschwister, Cousins oder die eigenen Kinder zu einem Studium in Granada bewegen, knüpfen die Rückkehrer langsam ein verwandtschaftlich organisiertes Netzwerk, das generationenübergreifende Familienbande zwischen Nordmarokko und Andalusien entstehen läßt.
Hierin liegt trotz der zeitlichen Begrenzung und der Zweckbestimmtheit dieser "anderen Immigration" ein langfristiges Potential für die marokkanisch-spanischen Beziehungen. Da die Mehrheit der marokkanischen Studierenden in Granada eben nicht aus der staatstragenden Oberschicht stammt, verspricht ein derartiges, erst im Entstehen begriffenes transnationales Netzwerk zwischen beiden Küsten des Mittelmeeres für die "Grenzregionen" Andalusien und Nordmarokko mehr als einen rein diplomatischen Austausch, wie er zwischen Staatseliten üblicherweise gefördert wird.
So treiben die Absolventen der Universität Granada als regional tätige Geschäftsleute nicht nur die wirtschaftliche Verflechtung der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla mit ihrem marokkanischen Umland voran. Auch die EU-Austauschprogramme im Rahmen der transmediterranen Zusammenarbeit sowie die spanische und europäische Entwicklungskooperation mit Marokko werden zum großen Teil von zurückgekehrten, ehemaligen Studierenden der Universität Granada durchgeführt. Auf diese Weise bietet die "andere Immigration" für Granada die Gelegenheit, daß die Stadt ihre
Vorreiterrolle im christlich-islamischen Dialog, die sie 1492 mit dem Ende der Reconquista verloren hat, zumindest für die regionalen gesellschaftlichen Beziehungen Südspaniens und Nordmarokkos wiedererlangt.
aus: der überblick 04/1999, Seite 26
AUTOR(EN):
Eva María Gonzáles Barea:
Eva María González Barea ist Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Laboratorio de Estudios Interculturales (LdEI) der Universität Granada. Sie promoviert über Migrations- und Integrationsstrategien marokkanischer Studierender in Spanien.
Dr. Gunther Dietz:
Dr. Gunther Dietz lehrt an der Universität Granada Ethnologie und leitet am LdEI ein Forschungsprojekt über Folgen der afrikanischen Immigration in Andalusien.