"Make poverty history!" Diese von Bob Geldorf aufgenommene und populär gemachte Aufforderung, Armut Geschichte werden zu lassen, hat selbst eine lange, heute kaum noch bekannte Geschichte. An sie erinnert eine ideen- und sozialgeschichtliche Studie von Gareth Stedman Jones, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Cambridge in Großbritannien. Jones will mit dem Rückgriff auf die Geschichte natürlich nicht nur Erinnerungen wecken, sondern einen Beitrag zur gegenwärtigen Armutsdebatte leisten. Und das tut er auch.
von Lothar Brock
Die Sache, um die es geht, ist in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im Rahmen der Entwicklungspolitik diskutiert worden. Dem lag die (stillschweigende) Einschätzung zugrunde, dass Armut in den modernen Demokratien bereits Geschichte sei. Soweit es sie dennoch gab, galt sie als bloßes Überbleibsel vergangener Zeiten. Dass diese Einschätzung falsch ist, tritt mit jedem Armutsbericht der Bundesregierung deutlicher zutage. Erst recht gilt für die Welt des "Südens", dass Modernisierung nicht gleichbedeutend mit einem Abbau von Armut ist. Die Weltbank ging in den 1960er Jahren im Einklang mit dem modernisierungstheoretisch gestützten Optimismus der damaligen Zeit davon aus, dass die Früchte des wirtschaftlichen Wachstums zu den Armen durchsickerten. Diese "trickle down"-Erwartung ließ sich schon Anfang der 1970er Jahre nicht mehr halten. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass man sich direkt um die Armen kümmern müsse. Dem sollte die dann ebenfalls von der Weltbank propagierte Grundbedürfnisstrategie Rechnung tragen. In der Verschuldungskrise der 1980er Jahre wurde die Grundbedürfnisstrategie aber auf eine soziale Abfederung der Strukturanpassung reduziert. Dass das ein Irrweg war, wurde von den Weltwirtschaftorganisationen in den späten 1980er und in den 1990er Jahren eingestanden. Seitdem wird einer Politik der systematischen Armutsbekämpfung das Wort geredet. Dabei stand zunächst die Mobilisierung von Ressourcen im Vordergrund, die unter Bedingungen der Armut brachlägen, wie die Weltbank meinte. Später avancierte die Armutsbekämpfung zu einem Teil einer weitgefassten Sicherheitspolitik, die spätestens seit dem 11. September 2001 auch die Terrorbekämpfung einschließt. Gerade auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik, so ließe sich argumentieren, schließt die Armutsproblematik des Südens an die der modernen Industriegesellschaften an: Die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in diesen Gesellschaften wird von vielen als möglicher Anstoß für die Herausbildung von Terrorgruppen gesehen. Man mag diese Sicht teilen oder nicht. Entscheidend ist, dass Armut offenbar weltweit ein ungelöstes Problem darstellt, auch wenn ihre Ausprägungen sehr verschieden sind und die Entwicklung der Problematik etwa im Vergleich von Asien und Afrika uneinheitlich verläuft.
Um so wichtiger ist es, sich darüber Klarheit zu verschaffen, unter welcher sozialgeschichtlichen Perspektive und mit welchen Erwartungen heute über Armut als soziale Herausforderung nachgedacht und Armut zum Gegenstand der Politik wird. Hier kommt Jones gerade recht. Wenn sogar die Industrieländer erneut mit der Armut zu kämpfen haben, wie sollen es dann die Entwicklungsländer schaffen, aus dem Teufelskreis von Staatsversagen und Armut herauszufinden? Ist Armut (die sich ja immer auf einen ihr gegenüberstehenden Reichtum bezieht) nicht ohnehin eine Konstante des menschlichen Zusammenleben? Diese Frage verweist auf eine Debatte, die weit hinter die Erfindung der heutigen Armutsbekämpfung zurückreicht aber ihr möglicherweise doch vorauseilt, wie Gareth Stedman Jones in seiner ideen- und sozialgeschichtlichen Studie zu den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Armut seit dem späten 18. Jahrhundert meint. Den Angelpunkt seiner Betrachtungen bilden die Schriften, die Thomas Paine und Antoine-Nicolas de Condorcet zu diesem Thema verfassten. Beide Autoren wollten Armut nicht länger als unaufhebbare Gegebenheit oder eine von Gott auferlegte Bestrafung der sündigen Menschheit verstanden wissen, sondern als gesellschaftliches Phänomen, dem folglich durch gesellschaftlichen Wandel beizukommen ist. Dieser Wandel sollte sich als Übergang von einer auf Mildtätigkeit beruhenden Armenpflege, die die Armut perpetuiert, zu einer auf Wohlfahrt ausgerichteten Sozialpolitik vollziehen, die den Armen das Recht einräumt und die Mittel an die Hand gibt, ein Leben in relativer sozialer Sicherheit zu führen oder wie wir heute mit Amartya Sen sagen würden die Unfreiheit der Armut zu überwinden. Als Instrumente zu diesem Zweck entwarfen Condorcet und Paine Pläne für ein durch Steuern finanziertes Sozialversicherungssystem bzw. für eine Alterssicherung und für eine allgemeine Erziehung, die in mancher Hinsicht moderne wohlfahrtstaatliche Einrichtungen vorwegnahmen und sich teilweise auch in den Millenniumszielen der Vereinten Nationen (UN) aus dem Jahr 2000, mit denen eine Reduzierung der Armut angestrebt wird, wiederfinden.
Paine und Condorcet nahmen mit ihren Schriften zur Überwindung der Armut innovative Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie ihrer Zeit auf, so die von Newton und Leibniz verkörperten Fortschritte in der Mathematik, die es erlaubten, auf statistischer Grundlage Risiken zu berechen und von daher eine Lebens- oder Sozialversicherung überhaupt erst vorstellbar zu machen; die mit der Dampfmaschine sich ausbreitende Erwartung einer fortschreitenden Naturbeherrschung und die von Adam Smith artikulierte Überzeugung, dass der Merkantilismus in seiner Verbindung zum Feudalismus mehr und mehr zur Fessel der wirtschaftlichen Entwicklung geworden war und von daher eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft anstand. Diese Überzeugung wurde durch die Revolutionen in Amerika und Frankreich bekräftigt. Sie schufen das Klima, in dem weitreichende Entwürfe zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, zu denen auch Kants Friedensidee zählte, aus dem Ruch der reinen Utopie heraustreten und als historische Möglichkeit erscheinen konnten. Die Nutzung dieser Möglichkeit verlangte nach Paine und Condorcet eine aktive Politik, die neben sozial-technologischer Innovation (Rentenkassen, Lebensversicherungen) gravierende Einschnitte in die politische Ordnung (Demokratisierung) und in bestehende feudalistische Privilegien und politische Praktiken (Kürzung der Militärausgaben) einschloss. Die Armutsbekämpfung konnte damit als Teil der politischen Umbrüche der damaligen Zeit verstanden werden, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie wurde durch die politischen Umbrüche ermöglicht und sie trug zugleich zur Stabilisierung der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse bei; denn beide, Paine und Condorcet waren der Überzeugung, dass ein politisches Gemeinwesen nur Bestand haben kann, wenn in ihm ein Minimum an sozialer Gleichheit besteht.
Die Sorge um eine zu große Ungleichheit trieb auch Adam Smith um. Diese Sorge war aber moralisch begründet: diejenigen, die eine Gesellschaft mit dem Lebensnotwendigen versorgten, sollten selbst über das Lebensnotwendige verfügen. Paine und Condorcet dachten eher funktional, an den Zusammenhalt des Gemeinwesens. Smith glaubte, dass die Befreiung der wirtschaftlichen Kräfte von staatlicher Intervention (also die Überwindung des Merkantilismus) einen Weg zur besseren Versorgung aller wies. Paine und Condorcet gingen demgegenüber von der Notwendigkeit gezielter politischer Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen aus, um das von ihnen so verstandene notwendige Mindestmaß an gesellschaftlicher Gleichheit herzustellen. Gareth Stedman Jones sieht deshalb in den beiden Autoren die Väter eines sozialdemokratischen Grundverständnisses der Armutsproblematik. Sie bieten mit ihrer Argumentation aber nicht nur eine Alternative zu Adam Smith, mit dem sie den Fortschrittsglauben teilen, sondern auch und erst recht zu Malthus, der eben diesen Fortschrittsglauben nicht nur als illusionär, sondern auch als gefährlich verdammt, da er dazu führe, das Problem, das er zu lösen glaube, zu verschärfen. Aus der Sicht von Malthus reproduziert sich Armut aus sich selbst heraus, also aus den Verhaltensweisen, die die Menschen in Armut stürzt. Eine Lösung gab es nach Malthus nur in zweierlei Formen der Selbstaufgabe der Armen: die Erduldung des Todes durch Verhungern und die sexuelle Enthaltsamkeit (die durch den Verzicht auf Alkohol gefördert werden sollte). Nur so könne ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszahl und Verfügbarkeit von Ressourcen gewahrt werden. Jede Form der Sozialpolitik im modernen Sinne, würde diese Balance schwächen.
Die Ideen von Smith und Malthus fielen im 19. Jahrhundert auf fruchtbareren Boden als die von Paine und Condorcet. Das Ergebnis war eine Radikalisierung des politischen Denkens in zwei Richtungen - den Sozialismus und den laissez-faire-Liberalismus. In der damit verbundenen Polarisierung wurde der sozialdemokratische Ansatz zerrieben. Paine und Condorcet selbst erlebten den Beginn dieser Entwicklung am eigenen Leibe. Paines Buch "The Rights of Man" (1791) fand eine unerhört weite Verbreitung. Um so größer aber war der Hass, der gegen ihn in England und Wales geschürt wurde, weil Paine aus seinen gesellschaftspolitischen Vorstellungen die Notwendigkeit des Übergangs von der Monarchie zur Republik ableitete. So wurde "Paine" nicht nur hervorragend verkauft, sondern in seiner Heimat auch dreihundert Mal in effigy verbrannt, während er in Frankreich unter Robespierre im Gefängnis saß. Schlimmer erging es Condorcet. Auch seine Ideen fanden ein breites Echo. Nach dem 9. Thermidor (Sturz Robespierres im Juli 1794) wurde sogar angeordnet, dass seine "Esquisse d'un tableau historique des progr?s de l'esprit humain" in einer Auflage von 3.000 Exemplaren auf Staatskosten gedruckt werden sollte. Aber da war Condorcet, der sich im Unterschied zu Paine zunächst den Häschern derjenigen entziehen konnte, die für sich beanspruchten, den Fortschritt zu verkörpern, schon tot vergiftet, wie man vermutet. Seine Ideen gingen in den post-revolutionären Wirren, der Wirtschaftskrise von 1795 und der Kriegspolitik Frankreichs, ebenso unter wie die Thomas Paines' in der sich zuspitzenden sozialen Krise Englands.
Wie Gareth Stedman Jones resümiert, spiegelten die Ideen von Condorcet und Paine das Zusammentreffen des rationalistischen Optimismus der Aufklärung, der revolutionären Umbrüche in Amerika und Frankreich und der von Adam Smith eröffneten Denkmöglichkeit, die Idee des Handelsstaates mit der der Republik zu verbinden. So entstand eine neue Sprache der Staatsbürgerlichkeit (Citizenship), die im 19. Jahrhundert durch die polarisierende Konfrontation von Liberalismus und Sozialismus überlagert und in den Kriegen und der Gewalt des 20. Jahrhunderts fast ausgelöscht wurde. Sozialdemokratisches Denken der Gegenwart, zu dem auch der globale Kampf gegen die Armut gehört, hätte, so der Autor, viel zu viel Kraft darauf verwendet, sich zwischen den Extremen von Laissez faire-Liberalismus und Staatssozialismus als Mittelweg zu verorten. Es sollte sich demgegenüber auf die Anfänge besinnen: auf den Anspruch der "demokratischen Aufklärung, die Errungenschaften individueller Freiheit und des (globalen) Handels mit dem republikanischen Ideal größerer Gleichheit, einschließender Staatsbürgerlichkeit und des öffentlichen Gemeinwohls zu verbinden" und damit eine Alternative zum Radikalliberalismus und dem in den Stalinismus abdriftenden Sozialismus zu bieten. Das sind aufrüttelnde Überlegungen bezogen auf die heutige Armutsdebatte, der das droht, was immer wieder das Schicksal der Armutsbekämpfung war an einem Mangel an politischem Willen und politischer Entschlossenheit zu scheitern. Der Versuch von Jeffrey Sachs, dem durch sozialtechnologische Innovation in den Grenzen einer Win-Win-Lösung entgegenzusteuern, spricht nur die eine Hälfte des Problems an. Die andere, die Paine und Condorcet klar sahen, betrifft die Notwendigkeit der oben erwähnten tiefen Einschnitte in bestehende Ordnungen, Privilegien und Praktiken der Machtsicherung. Diese Seite wird in der heutigen Debatte über Armutsbekämpfung häufig übersehen oder bewusst heruntergefahren, um nicht in völliger Frustration und erneuten gewaltgeladenen Polarisierungen zu enden.
Gerade mit Blick auf diese etwas trübe Lage der realen Armutsbekämpfung wird der Leser mit der paradoxen Ahnung zurückgelassen, dass es immer wieder das Scheitern der Paines und Condorcets und die grausamen Konsequenzen dieses Scheiterns sind, denen Fortschritte bei der Eindämmung der Armut zu verdanken sind. Der Rückgriff auf die Väter der Armutsbekämpfung (die Mütter, wie Madame Berney aus Paris, gewährten ihnen Asyl) kann deshalb ebenso zur Resignation wie zur Mobilisierung neuer Kräfte beitragen. Gekämpft wird jedenfalls auch heute mehr um als gegen die Armut.
aus: der überblick 03/2006, Seite 118
AUTOR(EN):
Lothar Brock
Lothar Brock
ist Professor Emeritus für Politikwissenschaft, Vorsitzender der EKD-Kammer für nachhaltige Entwicklung und Mitherausgeber von "der überblick".