Meditation über das Buch Jesus Sirach 49
»Nehemia ist allezeit zu loben, der uns die zerstörten Mauern wieder aufgerichtet und mit Toren und Riegeln versehen und unsere Häuser wieder gebaut hat.« (Das Buch Jesus Sirach 49,15)
von Axel Noack
Im Herbst diesen Jahres liefen in Berlin angestrengte Bemühungen zur neuen Gestaltung unseres politischen Gemeinwesens. In Koalitionsverhandlungen und zahllosen Gesprächen wurde versucht, eine möglichst klare Linie herauszuarbeiten. Orientierung für die nächsten Jahre wird gesucht.
Möglicherweise hilft da auch die Erinnerung an einen alten biblischen Zeugen, nämlich an den Politiker Nehemia, dem einzigen Politiker, nach dessen Namen ein biblisches Buch benannt worden ist. Er ist ziemlich in Vergessenheit geraten und kommt auch in der christlichen Gemeinde nur selten zu Wort. Dabei hat er ein Lebenswerk vollbracht, das sich sehen lassen kann.
Aus jüdischem Hause stammend, hat es ihn in den Wirren der babylonischen Gefangenschaft seines Volkes bis an den persischen Königshof verschlagen. Dort hat er Karriere gemacht und ist schließlich »Mundschenk«, also eine Art Kanzleramtsminister, geworden. Als einer, der sein privates Schäfchen im Trockenen hatte, hört er von der katastrophalen Lage und den schlimmen Zuständen in seiner alten Heimat. »Als ich dies hörte«, sagt Nehemia, »setzte ich mich nieder und weinte und trug Leid tagelang und fastete und betete und sprach: 'Ach, Herr, Gott des Himmels, du großer und furchtbarer Gott '«. Nehemia belässt es nicht beim Klagen. Mit großem Geschick fädelte er es ein, dass er schließlich, ausgestattet mit königlichem Geleit und einem Bezugschein für Bauholz, nach Jerusalem reisen kann, »damit ich die Stadt wieder aufbaue«. Von dem anstehenden Reformdruck lässt er sich nicht entmutigen. Die spätere Geschichtsschreibung wird ihn vor allem für die Wiedererrichtung der Infrastruktur rühmen: »Nehemia ist allezeit zu loben, der uns die zerstörten Mauern wieder aufgerichtet und mit Toren und Riegeln versehen und unsere Häuser wieder gebaut hat.« (Jesus Sirach 49,15).
Es gibt aber auch Missgunst, Erfolglosigkeit und Hohn. »Lass sie nur bauen; wenn ein Fuchs auf ihre steinerne Mauer hinauf springt, reißt er sie ein«, rufen die Spötter. Bemerkenswert, mit welchem Geschick Nehemia an den Bau der Stadtmauer geht.
Sein Buch füllen ellenlange Namenslisten, die sich sehr eintönig lesen. Akribisch genau werden die einzelnen Familien namentlich benannt und ebenso präzise wird jeder Familie die besondere Verantwortung für die Errichtung eines bestimmten Teilstücks der Stadtmauer übertragen. Es fällt der immer wiederkehrende Hinweis auf, dass jede Familie ihre Arbeit an der Mauer genau »gegenüber ihrem Hause« verrichtet. Was Nehemia hier organisiert, ist richtungsweisend: Die Leute müssen einsehen können, dass sie und wozu sie gebraucht werden. Wer sich für die Gesellschaft engagieren soll, muss einen unmittelbaren Nutzen auch für die eigenen Belange daraus ziehen können. Die Arbeit, die ich für alle leisten soll, darf mir in ihrem Sinn nicht fremd bleiben. (Zweieinhalbtausend Jahre später wird Karl Marx das Problem der »Entfremdung« auf den Punkt bringen.) Nehemia verbindet in vorbildlicher Weise Gemeinwohl und Eigennutz miteinander.
Damit aber nicht genug. Nehemia unterscheidet sich kräftig von denen, die meinen, es reiche, wenn die äußeren Belange geordnet sind: das »Sein« wird schon das »Bewusstsein« prägen und »nach dem Fressen kommt die Moral«. Es ist auffällig mit welchem Nachdruck er sich neben seiner Bautätigkeit auch den inneren Zuständen der Gesellschaft widmet. Ihm ist deutlich, dass mit gleichem Ernst nach Moral, Kultur und Orientierung zu fragen ist.
Krieg und Deportation haben auch die innere Verfassung des Volkes beschädigt. Die Bevölkerung konnte weder den gemeinsamen Glauben noch die gemeinsame Sprache wahren. Vieles ist in Unordnung geraten und die lebensstützenden Regeln und Gesetze sind außer Kraft gesetzt. Mit Nachdruck macht Nehemia die kulturelle Identität seines Volkes an Ehe und Kindererziehung fest. »Zu dieser Zeit sah ich auch Juden, die sich Frauen genommen hatten aus Ashdod, Ammon und Moab. Und die Hälfte ihrer Kinder sprach in der Sprache eines der anderen Völker, aber jüdisch konnten sie nicht sprechen. « Mit dem Abbruch der religiösen Überlieferung geraten auch die gesellschaftlich akzeptierten Werte und Regeln ins Rutschen: So zum Beispiel der Feiertagsschutz, die Sabbat-Ordnung. Nehemia kritisiert, dass »man am Sabbat die Kelter trat und Getreide herbei brachte und auf Esel lud und auch Weintrauben und Feigen und allerlei Lasten nach Jerusalem brachte«. Er weiß von der Notwendigkeit geregelten Lebens und reagiert ziemlich heftig: »Da schalt ich die Vornehmen von Juda und sprach zu ihnen, was ist das für eine böse Sache, die ihr da tut, und entheiligt den Sabbattag? Und ich schalt und fluchte ihnen und schlug einige Männer und packte sie bei den Haaren und beschwor sie bei Gott «.
Genauso beunruhigen ihn die ökonomischen Zustände im Land, die Fragen der Zinswirtschaft und der Leibeigenschaft: »Ich schalt die Vornehmen und die Ratsherren und sprach zu ihnen: Wollt ihr einer gegen den andern Wucher treiben? Wir haben unsere jüdischen Brüder losgekauft, die den Heiden verkauft waren, soweit es uns möglich war; wollt ihr nun eure Brüder verkaufen, damit wir sie wieder zurückkaufen müssen? Da schwiegen sie und fanden nichts zu antworten. Ich sprach: Gebt ihnen noch heute ihre Äcker, Weinberge, Ölgärten und Häuser zurück und erlasst ihnen die Schuld an Geld, Getreide, Wein und Öl.«
Zugegeben, die Reaktionen des Nehemia fallen etwas heftig aus, aber niemand wird ihm Gleichgültigkeit oder schulterzuckende Passivität vorwerfen dürfen. Es war ihm nicht egal, was im Lande passiert und wie die Menschen leben müssen, und schon gar nicht versteckt er sich hinter einer heute so gängigen »Toleranz«, die alles entschuldigt und damit letztlich eigene Hilflosigkeit offenbart.
Nehemia und mit ihm der Priester Esra setzten auf Aufklärung und Bildung. Und sie machen keinen Hehl aus ihrem Glauben und ihrem Gottvertrauen. Sie tun es, indem sie beharrlich an Gottes Geschichte mit seinem Volk erinnern und versuchen, sein Gebot wieder lebendig zu machen. Nicht immer sind sie damit erfolgreich und manche Niederlage müssen sie einstecken. Ehrlich gehen sie mit den menschlichen Schwächen um. Im Grunde stimmen die Menschen ihnen ja zu. Es ist den Leuten längst klar, dass eine Gesellschaft, in der es keine Werte gibt und in der die Werte selber keine Verankerung im Glauben und in der Ordnung haben, gefährdet ist. Aber sie sind Menschen schwach und egoistisch und leicht zu verführen.
In keiner Episode wird das so deutlich, wie an dem Tag, an dem Esra und Nehemia dem Volke das Fehlverhalten offen vorhalten. Sie versammeln das Volk bei strömenden Regen. Ergriffen lauschen die Menschen. Aber Emotionen sind immer mehrdeutig: »Und alles Volk saß auf dem Platz vor dem Hause Gottes, zitternd wegen der Sache und des strömenden Regens «. Esra und Nehemia erhalten viel Zustimmung, aber eben auch den Hinweis: Überfordert die Menschen nicht. »Und die ganze Gemeinde antwortet und spricht mit lauter Stimme, es geschehe, wie du uns gesagt hast! Aber es ist viel Volk hier und es ist Regenzeit und man kann nicht draußen stehen, auch ist es nicht in ein oder zwei Tagen getan, denn wir haben in dieser Sache viel gesündigt.«
Das Hemd ist allemal näher als der Rock. Bei Regenwetter lässt sich die Gesellschaft nur schwerlich erneuern. Auch Nehemia hat diese Erfahrung in seinem Leben machen müssen. Aber er gibt nicht auf. Ausdrücklich wird betont, dass er sich bemüht, verständlich zu reden: »Sie legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, so dass man verstand, was gelesen worden war.« Sie bauen dazu eine Kanzel, um besser verstanden zu werden, und sie lesen »vor Männern und vor Frauen und wer es verstehen konnte«. Sie holen weit aus in der Geschichte und reden über die Treue Gottes, die dem Volk durch Höhen und Tiefen und auch durch die Gefangenschaft hindurch geholfen hat. Den vergesslichen Menschen wollen sie einen Erinnerungspunkt schaffen und begründen die Tradition des Laubhüttenfestes. Sie rufen einen Festtag aus: »Geht hin und esst fette Speisen und trinkt süße Getränke und seid nicht bekümmert, denn dieser Tag ist heilig unserem Herrn, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.« Feste und gegründete Traditionen können zu einem Punkt der Stabilität in der Gesellschaft werden.
Freilich, ganz am Ende zieht Nehemia ein ernüchterndes Resümee: »Zur Zeit ihrer Angst schrieen sie zu dir, Gott, und du erhörtest sie vom Himmel durch deine große Barmherzigkeit Wenn sie aber zur Ruhe kamen, taten sie wieder übel vor dir. Da gabst du sie dahin in ihrer Feinde Hand. So schrieen sie dann wieder zu dir, und du erhörtest sie vom Himmel her und errettetest sie nach deiner großen Barmherzigkeit viele Male.«
Wer so klar sieht und also »seine Pappenheimer« so gut kennt und sich dennoch so angestrengt müht, muss einen festen Glauben haben. Wir schauen etwas neidisch auf Nehemia und danken Gott für einen solchen Bruder, der es allemal verdient, dass wir uns seiner erinnern.
aus: der überblick 04/2005, Seite 74
AUTOR(EN):
Axel Noack
Axel Noack ist Bischof der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen.