Ein Rückblick auf den Zukunftskongress der EKD in Wittenberg
Der Sturm "Kyrill" war wenige Tage zuvor auch über Wittenberg hinweggefegt. Das Dach der Schlosskirche konnte seinen Kräften nicht standhalten und so waren etliche Ziegel heruntergefallen. Direkt vor der Tür mit den 95 Thesen waren die Reste der Ziegel noch weit verstreut und um die Menschen vor weiter herabfallenden Teilen zu schützen, war die Schlosskirche weiträumig abgesperrt worden. Niemand konnte also in den Tagen des Zukunftskongresses Luthers Thesen an der Schlosskirchentür nachlesen. Schade eigentlich, denn eventuell hätte es beim einen oder anderen Teilnehmer des Kongresses zu einer nüchterneren Einschätzung der Angelegenheit beigetragen. Denn immer wieder war im Vorfeld des Kongresses in den Medien von einer "zweiten Reformation" die Rede gewesen. Nicht zuletzt die EKD selbst hat durch die Wahl des Veranstaltungsortes dazu beigetragen, dass eine enge Verbindung zu Luther und seinem Werk hergestellt wurde.
von Klaus Rieth
Vielleicht hat der "leidenschaftliche und herrschsüchtige Kyrill" (wie ihn der Kirchengeschichtler Karl Heussi nennt) ja auch in den Köpfen der Teilnehmenden noch weitergewirkt. Denn leidenschaftlich ging es ab und zu schon her in Wittenberg. Nicht unbedingt in den öffentlichen Foren, dafür aber in Hotel-Lobbys oder am Rande von Veranstaltungssälen. Und zwar immer dann, wenn persönliche Eitelkeiten im Spiel waren: Wer jetzt wen in der Publikumsgunst übertraf oder wer mehr in den Medien berücksichtigt wurde. Manche hinterfragten das ganze Anliegen des Kongresses und des "Freiheitspapiers" grundsätzlich. Andere lobten die EKD für ihr "mutiges" Vorgehen.
Dabei hatte der Kongress ganz schlicht und akademisch begonnen. Der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, hielt in der Stadtkirche zu Wittenberg seinen Hauptvortrag, in dem er die Idee einer "Kirche der Freiheit" erläuterte. Er tat dies so grundsätzlich, dass viele anschließend sagten, sie wollten diesen Vortrag gerne noch einmal in Ruhe nachlesen. An wohl keinem der Teilnehmenden ist es während der Eröffnung spurlos vorbeigegangen, dass man sich in Luthers Kirche befand. Das Altar-Bild des Reformators von Lucas Cranach, dem Älteren, und seinem Sohn Lucas Cranach, dem Jüngeren, wirkt noch heute, wenn man den Prediger Luther auf der Kanzel stehen sieht auf Christus am Kreuz weisend.
Wolfgang Huber begann an derselben Stelle seinen Vortrag mit den Worten: "Die Zeit des Schweigens ist vergangen, und die Zeit des Redens ist gekommen". Dieses Zitat nach Prediger 3,7 aus Luthers Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" aus dem Jahr 1520 hatte die Latte der Erwartungen ziemlich hoch gehängt. Viele, die in die Stadtkirche gekommen waren, - nicht nur die Kirchenfunktionäre, sondern auch die zahlreichen Journalisten - wollten dabei sein, wenn die "Zeit des Schweigens" zu Ende geht. Aber welche Reden sollten kommen? Wie sollte die neue Zeit aussehen? Huber begründete in solider theologischer Arbeit und in bekannt gekonnter sprachlicher Ausdruckskraft den Titel des Impulspapiers des Rates der EKD "Kirche der Freiheit". Es gehe darum, so Huber, "sich der eigenen Wurzeln neu bewusst zu werden und den spezifischen Glaubensschatz der evangelischen Kirchen neu zu heben". Es gehe "um die Frage der eigenen Identität". Dass dabei Worte fallen wie Stärkung des "evangelischen Profils", "gute Predigt", "qualitätvoll gestalteter Gottesdienst" und "Hochschätzung der Bildung" ist mindestens so folgerichtig wie die "Betonung von kultureller Kraft und gesellschaftlicher Verantwortung".
Huber will raus aus der Nische. Er will eine politische Kirche. Eine Kirche, die etwas zu sagen hat in der Vielstimmigkeit unserer Zeit. Huber will selbstbewusste Protestanten in Deutschland. So selbstbewusst wie er selbst. Er will, dass die "Evangelischen" wieder in den Medien vorkommen. Dass sie gleichwertig und gleichbedeutend mit den Katholiken genannt werden.
Doch Selbstvertrauen kommt nicht von allein. Und Selbstvertrauen geht manchmal auch auf Kosten anderer. Deshalb ist Huber bemüht, die anderen mit ins Boot zu holen. Stärkung des evangelischen Profils, so der Berliner Bischof, entspringe "weder einer Lust an der Abgrenzung gegenüber anderen Kirchen und Konfessionen noch gar der Absicht, die Vielfalt und Pluralität in den Gestaltungsformen des Protestantischen einzugrenzen".
Im Vorfeld des Kongresses und nach Erscheinen des EKD-Impuls-Papiers hatten viele beklagt, dass sowohl die weltweite als auch die evangelisch-katholische Ökumene im Ratspapier nicht vorkämen. Vergessen oder absichtlich weggelassen, lauteten die Vermutungen. Doch Huber bricht in seiner Ansprache für die Ökumene eine Lanze. Der "ökumenische Geist" liege ihm am Herzen: "Gerade weil wir wissen, dass wir die Fülle der christlichen Wahrheit und den Kosmos der christlichen Einsichten nicht allein vertreten, sind wir von Haus aus ökumenisch ausgerichtet. Die besonderen reformatorischen Entdeckungen weiten unseren Blick für die Wahrheit, die sich in anderen christlichen Konfessionen und Kirchen findet. Deswegen meint die Rede von einer 'Ökumene der Profile' nicht nur die Stärkung der eigenen Identität".
Der anwesende Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, hörte diese Worte gern. Doch beim anschließenden Empfang war er auffallend wortkarg. Auch die anderen Prominenten, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hielten sich in der Bewertung des Kongresses zurück. Man wünschte gutes Gelingen.
Huber hat während seiner bisherigen Amtszeit die Evangelische Kirche in Deutschland personalisiert. Er hat Stellung genommen zu tagesaktuellen Fragen, er hat sich eingemischt. Er war im Fernsehen, in Talkshows ein gern gesehener Gast. Und er hat bei all dem eine gute Figur gemacht. Klug, intellektuell redlich, charmant und unerschrocken. Viele Protestanten in Deutschland haben das schätzen gelernt. Dem Protestantismus eine Stimme geben oder besser, ein Gesicht geben, wie es gerne heißt. Huber hat diese Forderung von Öffentlichkeitsarbeitern und Marketingexperten erfüllt und ausgefüllt. Man wird als kirchlicher Mitarbeiter jetzt öfter von kirchenfernen Bekannten angesprochen, die sich lobend über eine Meinung des obersten Repräsentanten äußern.
Doch diese Konzentration auf die Person birgt auch Gefahren. Vor wenigen Wochen erschien im Berliner "Tagesspiegel" ein Beitrag über einen Brief von Prominenten an Huber, in dem sich bekannte Berliner wie der Filmregisseur Wim Wenders, die Schauspielerin Jutta Lampe oder der Publizist Michael S. Cullen bitter über "alberne Gottesdienste" und zu wenig Spiritualität beklagen. "Was machen die bloß? Wo bleiben die Inhalte?" fragt Jan D. Schmitt-Tegge, der Verfasser des Briefes. Und in Anlehnung an den Wittenberger Kongress bemerkt er, es könne doch nicht vordergründig um "Taufquoten", "Qualitätsmanagement" oder die Zusammenlegung von Landeskirchen gehen. Das seien Formalien. Die Kirche müsse sich auf ihre Botschaft und auf die Spiritualität besinnen und etwas gegen das "Zerfleddern der bestehenden Gottesdienstformen" tun.
Solche Vorwürfe sind an Huber gerichtet, betreffen aber die ganze protestantische Kirche in Deutschland. Gerade die Forderung des EKD-Papiers nach Zusammenlegung kleinerer Landeskirchen haben viele übelgenommen. Und anstatt über diese verwaltungstechnisch sicher sinnvolle Anregung zu sprechen, haben die meisten der kleinen Landeskirchen kategorisch erklärt, dass sie für solche Zusammenlegungen nicht zur Verfügung stünden. Im Grunde genommen ist ein Ergebnis des Impulspapiers, dass diese kleinen Landeskirchen sich jetzt stärker denn je fühlen und dass ihr Selbstbewusstsein eher zu- als abgenommen hat. So mancher in der EKD-Führung bedauert es bereits, an dieser Stelle so konkret geworden zu sein mit der Forderung: Im Jahr 2030 sollte es zwischen 8 und 12 Landeskirchen geben, die an den Grenzen der großen Bundesländer orientiert sind und jeweils nicht weniger "als 1 Million Kirchenmitglieder haben".
Deshalb hatte die Regie der Verantwortlichen von Wittenberg vorgesehen, das Kirchenvolk am zweiten Kongresstag zu Wort kommen zu lassen. Zuvor hält Landessuperintendentin Oda-Gebbine Holze-Stäblein, Aurich, die Andacht. In einer Auslegung der Jahreslosung aus Jesaja 43, 19a wirbt sie für das Neue, das aufwächst, und das viele noch nicht erkennen. Es liegt was in der Luft. Nicht Frust, sondern neue Lust und Liebe, Christen und Kirche zu sein, neue Wege zu gehen. Wir spüren es an der Ungeduld um uns und in uns. Auch an der Aufmerksamkeit und den Diskussionen, die die Leuchtfeuer entfachen. "Es lässt uns und andere nicht kalt, was mit dieser Kirche sein wird, und das ist fast eine protestantische Liebeserklärung", bekennt sie. Die gut 300 Delegierten nehmen es ihr ab. Zum Schluss wird das Lied "Vertraut den neuen Wegen" gesungen.
Die Stimmung im Kultur- und Tagungs-Centrum (KTC) in Wittenberg ist gelockert. Das an DDR-Zeiten erinnernde Gebäude versprüht einen besonderen Charme. Viele der 300 Delegierten kennen einander. Die meisten Landeskirchen haben ihre Kirchenleitungen nach Wittenberg geschickt. Fast alle Bischöfinnen und Bischöfe und leitende Geistliche sind da. Nur wenige Kirchen haben Nicht-Theologen oder Mitarbeiter aus der Jugendarbeit oder Gemeindepfarrerinnen mitgebracht. Vertreter der Entwicklungszusammenarbeit sucht man vergebens. "Brot für die Welt" und "Evangelischer Entwicklungsdienst" (EED) sind nicht vertreten. Lediglich die Spitze der verfassten Diakonie ist anwesend. Immerhin hatte das "Evangelische Missionswerk" (EMW) ein bemerkenswertes Positionspapier mit Rückfragen an das Impulspapier vorgelegt (siehe anschließende Dokumentation*).
Im Saal wird die Stimmung noch zusätzlich aufgelockert durch eine launige Moderatorin und eine im Losverfahren gestaltete Rednerreihenfolge. Man will darauf achten, so die EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr, dass Frauen und Jüngere gleichermaßen zu Wort kommen wie Männer und Ältere. Vor allem sollen nicht nur Bischöfe reden.
Doch gerade einem dieser Bischöfe gelingt es, schlagartig Ruhe und gespannte Aufmerksamkeit im lockeren Meinungsaustausch herzustellen. Der Bischof von Nordelbien, Hans-Christian Knuth, lange Jahre leitender Bischof der Vereinigten Evangelischen Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD), setzt zu einer Fundamentalkritik am Kongress, an Huber und am Grundsatzpapier an. "Wir sind keine Kirche der Freiheit, sondern Kirche Jesu Christi", so der knorrige Bischof aus dem Norden. Knuth spricht von "Kopfgeburten statt lebendigen Erfahrungen" und prangert die immer zentralistischer werdenden Tendenzen der EKD an. Die Wirtschaft habe hierzulande längst gemerkt, dass zu viel zentrale Steuerung schädlich sei. Das Impulspapier atme nicht den Geist der Freiheit Jesu Christi. Statt alles zentral regeln zu wollen, solle man lieber das Charisma der Kirchengemeinden fördern. Im Impulspapier war dagegen angeregt worden, die Zahl eben dieser Ortsgemeinden zugunsten von so genannten Profilgemeinden zu reduzieren und etwa mehr City- oder Jugendkirchen zu gründen.
Knuth erhält Unterstützung. Die Gemeindepfarrerin Almut Jürgensen bekennt sich zum Althergebrachten: "Jede Ortsgemeinde ist zugleich auch Profilgemeinde", und weiter: "Jesus Christus will uns schützen vor 50 Prozent Ortsgemeinden, 25 Prozent Profilgemeinden und 25 Prozent Netzwerken". Die Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle beklagt ebenfalls die Zentralisierungstendenz der EKD und die Distanz der Amtskirche zu ihren Mitgliedern. Man vergesse in der EKD das Bewährte und würdige es nicht. Dabei seien doch eher Behutsamkeit und Umsicht in diesen Zeiten gefragt. Modernen Trends wie den Citykirchen werde zu viel Bedeutung zugemessen. Kirche der Zukunft sei noch am ehesten durch eine nachhaltige religiöse Sozialisation und gute Predigten zu sichern.
Doch solche mahnenden Worte sind in der Minderheit. Eher trifft die Grünen-Politikerin und Theologin Katrin Göring-Eckardt die Stimmung. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, kulturpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und Landessprecherin der Grünen in Thüringen fordert: "Unsere Kirche muss Antwort auf die Fragen nach Orientierung geben. Leidenschaft fürs Evangelium will verändern, nicht festhalten." Die von vielen kritisierte Marketing-Sprache des Impulspapiers diene der Klarheit und der Provokation. Als Göring-Eckardt ihre Rede mit den Worten "Wir sind Kirche" beendet, erhält sie den wohl meisten Beifall an diesem Vormittag.
Und darum ging es in Wittenberg vorrangig. Man wollte sich ein bisschen selbst feiern. Sich seiner selbst vergewissern. Indiz dafür war auch das äußere Erscheinungsbild. Auf der Bühne des KTC war nicht etwa ein Bibelvers oder ein Lutherzitat, wie man in Wittenberg hätte vermuten können, sondern übergroß der Schriftzug "EKD". Eine Fahne mit der Aufschrift "Kirche der Freiheit im 21. Jahrhundert" und das EKD-Emblem auf dem Rednerpult machten deutlich, dass es um die EKD ging.
Das war auch gut so. Denn eine Neubestimmung des Verhältnisses von EKD als Dach und den einzelnen Landeskirchen unter diesem Dach ist schon lange überfällig. Kleinere Landeskirchen wollen und brauchen die Logistik und den Service einer zentralen Verwaltung. Größere und reichere Landeskirchen wiederum fürchten um ihren Einfluss. Dass man es im Protestantismus allerdings mit zentralistischen Tendenzen schwer hat, ist eine Binsenweisheit. Und dass man bei aller Liebe und aller Bewunderung gegenüber der starken öffentlichen Präsenz der römisch-katholischen Kirche dennoch eine abgrundtiefe Abneigung gegen jede Hierarchie hegt, war auch in Wittenberg nicht zu übersehen.
Der Blick über die eigenen Grenzen oder den EKD-Tellerrand blieb dabei weitgehend aus. In den zwölf diskutierten Foren wurde viel über Finanzen, über Strategien und Gemeindeformen gesprochen. Auch darüber, dass die EKD und ihre Gliedkirchen "Programme zur Förderung von protestantischen Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Politik, etc." entwickeln und profilieren sollen. Spätestens da hätte man als einer, dem ökumenische Entwicklungszusammenarbeit etwas bedeutet, darauf gewartet, dass auch dieses Thema angesprochen wird. Doch weit gefehlt.
Das sei auch nicht weiter schlimm, erklärt der dafür zuständige Bischof der EKD, Martin Schindehütte, denn "die Tatsache, dass es kein Leuchtfeuer für die Ökumene im Impulspapier gibt, hat zu durchweg positiven Reaktionen geführt". Der Auslandsbischof ist sich sicher, dass dies ein Prozess ist, der bearbeitet werden muss". "Ökumene ist immer Querschnittsaufgabe", so Schindehütte. "Ich sehe das gelassen, denn die EKD hat eine Steuerungsgruppe 'Ökumene' eingesetzt und so den Prozess mit den Landeskirchen in Gang gesetzt. Wir sind also schon am Werk". Schindehütte ist sich sicher, dass man auch in der Zukunft im Bereich Entwicklungszusammenarbeit und Mission erhebliche Anstrengungen leisten wird. Werke, Einrichtungen und Gemeinden bräuchten den intensiven Austausch. Gegen den Trend zu wachsen, könne ohne Ökumene nicht gehen. Schindehütte - gerade von einer Indien-Reise zurückgekehrt - ist beeindruckt von der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit. Dortige Programme, die den Frauen Selbstbewusstsein geben würden, seien großartig. Er habe fünf der 130 Auslandsgemeinden bereits besucht und habe den Eindruck, dass dort Gemeindeaufbau dynamischer betrieben werde als hierzulande. Deshalb sei sein zentrales Anliegen, wie diese reichen Erfahrungen im Ausland auch für unsere Situation in Deutschland fruchtbar gemacht werden könnten.
Der Auslandsbischof fordert ein neues Aufmerksamwerden und neue Perspektiven der Kooperation: "Die letzte Denkschrift zum Thema ist 34 Jahre alt (gemeint ist die Entwicklungsdenkschrift der EKD aus dem Jahr 1973). Seither gab es dramatische Änderungen. Deshalb brauchen wir einen neuen Orientierungsrahmen. Strukturfragen müssen hintangestellt werden und wir müssen sehen, wie sich die Zusammenarbeit verdichtet." Konkreter, wie zum Beispiel sein Nordelbischer Amtsbruder, wurde der Auslandsbischof aus dem Kirchenamt der EKD nicht. Schindehütte setzt auf den nächsten Kirchentag in Köln. Dort sollen sich leitende religiöse Führer treffen und darüber nachdenken, welche Impulse sie in der heutigen Zeit setzen können. Er gehöre selbst jetzt allen maßgeblichen Gremien der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit und Mission an und könne so vieles zusammenbringen und koordinieren.
Genau mit der angesprochenen Notwendigkeit zu verstärkter Koordination hat Bischof Schindehütte auf eines der fundamentalen Defizite in der gegenwärtigen Außenorientierung der EKD hingewiesen: Die Beschlüsse der EKD-Synode von Spandau 1968 zur weltweiten Mitverantwortung der Gliedkirchen der EKD sowie der EKD selbst hatten zu einer außerordentlich intensiven theologischen Neuorientierung und Bereicherung des ökumenischen Dialogs geführt, an dem die EKD entscheidend und Impulse gebend beteiligt war.
Bis Ende der neunziger Jahre hat es mindestens zwei, zuweilen drei Oberkirchenräte sowie Assistenten und Sachbearbeiter im Kirchenamt der EKD für Aufgaben des Kirchlichen Entwicklungsdienstes (KED) gegeben. So konnten ökumenische Begegnungen zu Entwicklung, Mission und Diakonie, ferner Dialog und Zusammenarbeit mit dem Staat, Vertretung weltweiter Verpflichtungen und Erwartungen der EKD gegenüber Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der dafür zuständigen Kammer sachkundig und sorgfältig erarbeitet sowie gezielt publiziert werden. Inzwischen gibt es im Kirchenamt der EKD jedoch keine Abteilung mehr, die nur dem KED verpflichtet ist. Wenn die EKD die mühsame Entdeckung der geographischen Welt nicht wieder verlieren will, muss sie personell wie publizistisch weiter am Ball bleiben und kann das nicht allein den Entwicklungswerken überlassen.
Ein kleines Fenster zur weltweiten Ökumene gab es aber doch noch in Wittenberg. Am Abend des zweiten Tages wurde, auch für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich, "der evangelische Reformprozess aus der Sicht ökumenischer Partner" beleuchtet. Im Gebäude der Evangelischen Akademie, nur wenige Meter von der Thesentür der Schlosskirche entfernt, gab Präses Jan-Gerd Heetderks von den Evangelischen Kirchen der Niederlande Auskunft über die Situation im Nachbarland. Dort sind bereits Fusionen einzelner Kirchen abgeschlossen, dort hat es bereits schmerzliche Einschnitte in die kirchliche Präsenz als Folge schrumpfender Etats gegeben, und dort wurde 2005 bereits ein Positionspapier der Kirche zum Thema "Zukunft" veröffentlicht.
Heetderks sieht eine Konsequenz aus dem teils dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen seiner Kirche in der Neudefinition des Begriffs Ökumene". Ökumene dürfe nicht mehr nur die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen umfassen, sondern Ökumene sei "die ganze bewohnte Welt, ja der Kosmos". Dabei bleibt der holländische Präses aber jederzeit selbstkritisch und bescheiden, auch in der Analyse des eigenen und des EKD-Papiers: "Die ernsteste Kritik an unserem Positionspapier, die auch der ,Kirche der Freiheit' gemacht werden kann, ist, dass beide den Eindruck wecken, die Kirche wäre ,machbar', ganz und gar zu gestalten. Unsere Schriften atmen den Geist notwendiger Veränderungen in der Kirche... aber das ist eben eine gewünschte Situation... Wir können die Organisation ändern, aber nicht die Herzen der Menschen. Zum anderen: Wir wollen eine geistliche Veränderung, aber wir fangen an mit Veränderungen in der Organisation und Politik der Kirche... Luthers Reformation der Kirche hat nicht angefangen mit Vorschlägen zu Veränderungen in der Kirche, sondern mit der erneuten Entdeckung des Wortes, mit der erneuten Entdeckung von Jesus Christus". Vielleicht ist es Heetderks doch gelungen, die Absperrung zur Schlosskirchentür zu überwinden und in den 95 Thesen nachzulesen. Aber er hat auch noch auf etwas anderes in seinem Referat hingewiesen. Auf die Situation der Menschen heute. "Der postmoderne Mensch ist zwar ein religiöses Wesen, aber er sucht nicht die Wahrheit, sondern er sucht seine Wahrheit. Wahrheit ist das, was er als Wahrheit erlebt. Die Wahrheit muss passen in das moderne Lebensgefühl, wobei der Mensch sich vor allen Dingen gut fühlen will. Cocooning ist das englische Wort, das das Gerichtet-Sein auf das eigene Wohlbefinden gut ausdrückt. Der postmoderne Mensch möchte nicht gestört werden durch allzu kritische Anmerkungen zu Lebensstil und Erwartungen - er möchte lieber eingebettet sein in ein Gefühl des Wohlbehagens und dabei nicht zu viel durch die Außenwelt gestört werden. Religion ist dabei zwar sehr wichtig, aber mehr als Garantie für das eigene Wohlbefinden. Darum sucht er sich seine eigene Wahrheit. Er ist ein ,Zapper': Er spürt gleichsam auf allen religiösen und nicht-religiösen Kanälen und stellt sich so sein eigenes Lebens-Programm zusammen."
Vielleicht müsste eine "Kirche der Freiheit" dem modernen Zapper die Fernbedienung wegnehmen und ihn vom Wirtschaftskanal auf das erste Programm verweisen: Allein Christus, allein der Glaube, allein die Schrift. Und vielleicht müsste sie ihn auch aus seinem Kokon befreien durch einen mutigen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus in die weltweite Christenheit, welche die letzten Jahre auch nicht geschlafen hat.
* Vergleiche auch den Kommentar "Verengtes Kirchenbild" von Christoph Anders, Direktor des EMW, in eins-Entwicklungspolitik Nr. 2/3 - 2007, Seite 24f.
* Siehe auch die Meditation von Eberhard Jüngel
aus: der überblick 01/2007, Seite 140
AUTOR(EN):
Klaus Rieth
Klaus Rieth ist Pressesprecher der württembergischen evangelischen Landeskirche und ab Sommer
zuständig für Mission, Ökumene und Entwicklungszusammenarbeit.