Kernwaffen taugen nicht als Machtmittel - sie gehören abgeschafft
Pakistan und Indien haben im Mai 1998 zusammen elf Atomtests durchgeführt und damit gegen den Atomwaffensperrvertrag (Non- Proliferation Treaty) von 1968 verstoßen. Heute, zwei Jahre später, lassen sich aus den damaligen Ereignissen sieben Lehren für die Sicherheitsarchitektur im Zeitalter der Atomwaffen ziehen.
von Ramesh Thakur
Erstens: Jedes Sicherheitsregime muss den vordringlichen Interessen seiner wichtigsten Beteiligten Rechnung tragen. Als die Klauseln des Vertrages über einen umfassenden Stopp von Atomtests (Comprehensive Test Ban Treaty) 1996 formuliert wurden, wurden jedoch Indiens Sicherheitsbedürfnisse vom Rest der Welt beiseite gewischt. Die übrigen Staaten unterschätzten die Fähigkeit Indiens, aus der beabsichtigten Strangulierung seiner nuklearen Möglichkeiten auszubrechen, und überschätzten ihre eigene Macht, Indien zur Unterwerfung zu zwingen. Internationale Abkommen müssen auf der Zusammenführung von Interessen beruhen, sonst dienen sie nur dazu, dass einige sich moralisch gut fühlen.
Zweite Lehre: Atomwaffen verleihen weder Macht noch Prestige noch Einfluss. Die Atomtests haben unterm Strich die Sicherheit, das Wirtschaftspotenzial, den Einfluss und den Status Indiens wie Pakistans gemindert. Die Bevölkerung Südasiens lebt heute unsicherer als vor dreißig Monaten. Indien besitzt immer noch keine wirksame Abschreckungskapazität gegenüber China. Aufgrund der Geschichte und der geopolitischen Lage ist das Gleichgewicht des Schreckens in Südasien wesentlich instabiler, als es die atomare Abschreckung zwischen Moskau und Washington zu Zeiten des Kalten Krieges war.
Der Besitz von Atomwaffen hat zudem während des zweimonatigen Krieges in Kaschmir 1999 weder die pakistanische Infiltration des indischen Gebiets noch die Vergeltung Indiens dagegen noch die daraus erwachsende Eskalation bis hin zu Luftangriffen verhindern können. Kernwaffen werden auch nicht bei der Bekämpfung von inneren Unruhen, Terrorismus oder Korruption in beiden Ländern helfen. Ebenso wenig können sie zur Lösung der wirklich drängenden Probleme beitragen – von Armut, Analphabetismus und Unterernährung. Und dass die Tests fast durchgängig in der ganzen Welt verurteilt wurden, hat gezeigt, wie isoliert Indien und Pakistan in der internationalen Gemeinschaft waren. Das schlechte Image Indiens hat seinen Grund im Übrigen nicht in dessen offiziellem Status als Staat ohne Atomwaffen, sondern in alltäglichen Stromausfällen, verstopften Seehäfen, überfüllten Straßen, benutzerfeindlichen Flughäfen, im fast völligen Fehlen von Abwasserentsorgung und sanitären Einrichtungen, in Kindesheiraten, Witwenmorden, Kastenkriegen und so weiter.
Drittens: Die Atomtests haben eine klaffende Lücke im Atomwaffensperrvertrag in den Blick gerückt. Indien und Pakistan konnten Atomwaffen produzieren, stationieren und einsetzen, qualifizieren sich aber dennoch nicht als Atommächte, weil sie vor 1967 keine Atomtests durchgeführt hatten. (Der Atomwaffensperrvertrag unterscheidet die Atommächte – USA, Sowjetunion beziehungsweise Russland, China, Großbritannien und Frankreich – von der Gruppe der übrigen Staaten und weist beiden verschiedene Rechte zu. Das Kriterium dafür, wer sich als Atommacht qualifiziert, ist, welcher Staat vor 1968, als der Vertrag geschlossen wurde, bereits Kernwaffen getestet hatte. Ein Aufstieg in diese privilegierte Gruppe wurde ausgeschlossen, denn die weitere Ausbreitung der Kernwaffen sollte gerade verhindert werden; Anm. d. Red.) Wenn eine der fünf anerkannten Atommächte ihre Kernwaffen abschaffen würde, wäre sie immer noch eine Atommacht. Das sind Zustände wie bei "Alice im Wunderland", wo Worte das bedeuten, was die Waffenbesitzer wollen, dass sie bedeuten. Um dieses Dilemma aufzulösen, bedarf es ernsthafterer Anstrengungen, als tadelnd mit dem Finger auf die unartigen Länder Indien und Pakistan zu zeigen. So wie eine Waffentechnik, die einmal erfunden ist, nicht mehr weggewünscht werden kann, so kann der Abscheu über einen Waffentest diesen nicht ungeschehen machen.
Vierte Lehre: Es besteht keine Gefahr, dass die Vereinbarungen gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen demnächst zusammenbrechen. Die Tests geschahen nicht in Ländern, deren Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen unbekannt gewesen war. Wir haben es immer noch mit denselben Ländern zu tun, die sich weigern, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen und das Proliferationsverbot einzuhalten. Die meisten Staaten haben den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben, weil sie glauben, ihre Sicherheit eher durch einen Verzicht auf Kernwaffen gewährleisten zu können als durch den Besitz dieser Waffen. Für Indien ist der Vertrag illegitim, weil er dem Land die Gleichberechtigung beim Zugang zu Atomwaffen verweigert. Für die meisten anderen Staaten bedeutet er jedoch Schutz vor der Verbreitung von Kernwaffen und die Hoffnung auf Abrüstung (der Vertrag verpflichtet die Kernwaffenstaaten zu Abrüstungsschritten; Anm. d. Red.).
Fünftens: Die indischen und pakistanischen Atomtests haben bestätigt, dass der Versuch, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, der gleichen Logik folgt wie die Abrüstung. Der Atomwaffensperrvertrag ist noch immer gebunden an die Festschreibung einer seit Jahrzehnten überholten internationalen Machtstruktur. Um in der modernen Diplomatie wirksam mitzuspielen, sind Atomwaffen weder notwendig (siehe Deutschland und Japan) noch allein ausreichend (siehe Pakistan). Trotzdem hat keines der Länder, die bei der Unterzeichnung des Vertrags im Jahr 1968 Atomwaffen besaßen, diese aufgegeben. Sie predigen nukleare Enthaltsamkeit, halten sich aber selbst nicht daran. Ihre eigenen Atomwaffen rechtfertigen sie mit nationalen Sicherheitsinteressen; anderen verweigern sie diese Waffen aus Gründen der globalen Sicherheit. Wenn Indien und Pakistan sich einer atomwaffenfreien Welt verpflichtet fühlen, wie sie behaupten, dann muss man ihnen in deutlichen Worten sagen, dass ihre Tests für dieses Ziel ein Rückschlag sind. Aber auch die fünf Atommächte müssen für ihre Selbstzufriedenheit und ihre Verzögerungstaktik bei der atomaren Abrüstung zur Verantwortung gezogen werden.
Sechste Lehre: Trotz ihres wachsenden Einflusses hat die Ökonomie die Geopolitik nicht vollständig ersetzt. Die Atompolitik Indiens und Pakistans wird bestimmt von strategischem Kalkül, von Machtpolitik und ungezügelten Emotionen, auch wenn sie auf Kosten der Wirtschaft geht. Die bekannten harten Themen Ausbreitung von Kernwaffen, Konflikt und Abrüstung stehen nun erneut auf der Tagesordnung der internationalen Sicherheitspolitik.
Und siebtens: Sanktionen sind als Instrumente der Diplomatie zu stumpf. Sie sind unwirksam, kontraproduktiv und schaden dem eigenen Außenhandel und den Verbündeten. Außerdem sind sie moralisch fragwürdig, weil sie eher unschuldige Zivilisten treffen als die herrschenden Eliten. Während die Sanktionen für Indien nur Nadelstiche waren, haben sie Pakistan an den Rand einer Katastrophe gebracht. Die meisten der Länder, die Sanktionen verhängt haben, haben denn auch mittlerweile langsam aber deutlich ihre anfängliche harte Haltung aufgeweicht.
Angesichts einer Welt, die man nicht einfach ändern kann, passen sich vernünftige Leute an und versuchen sich zu verständigen. Atomwaffen sind der gemeinsame Feind der gesamten Menschheit. Genau wie chemische und biologische Massenvernichtungswaffen sollten auch Kernwaffen verboten werden, und zwar unter einem internationalen Regelwerk, dessen genaue Befolgung mit wirksamen und glaubwürdigen Inspektion, Überprüfungen und Kontrollverfahren gewährleistet ist.
aus: der überblick 01/2001, Seite 111
AUTOR(EN):
Ramesh Thakur :
Professor Ramesh Thakur ist Vizerektor des Fachbereichs Friedens- und Regierungsforschung an der Universität der Vereinten Nationen in Tokio. Der Text ist zuerst englisch im Bulletin Nr. 18 des Bonn International Center for Conversion (BICC) erschienen.