Nutzungsentgelte für bislang kostenlose natürliche Ressourcen sind der Schlüssel zu globaler Gerechtigkeit
Die Hauptverursacher des Klimawandels leben im Norden. Die Schäden des Klimawandels treffen aber vor allem die Menschen im Süden. So lange Natur nichts oder kaum etwas kostet, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Erst eine weltweite Einbeziehung aller Kosten in die Preise wird Welthandelsbeziehungen schaffen, die für den Süden mehr Gerechtigkeit bringen.
von Jürgen Trittin
Der Wert der "Dienstleistungen", die von der Natur kostenlos erbracht werden, entspricht schätzungsweise dem Dreifachen des weltweiten Bruttosozialprodukts. Die Wertschöpfung findet hauptsächlich im Norden statt. Der Raubbau an der Natur dagegen vor allem im Süden und jenseits nationaler Kontrolle: also auf den Meeren, die leer gefischt oder als Müllkippe missbraucht werden. Oder in der Atmosphäre, die mit Klimagasen und Chemikalien zerstört wird.
Zugleich profitiert besonders der Norden davon, dass die Natur im Süden vielfach noch intakter ist als im Norden: von der Artenvielfalt des Regenwalds, von den CO2-Speichern der Wälder, von der verhältnismäßig immer noch höheren Fischdichte in südlichen Gewässern. Touristen aus aller Welt können die Ränder des brasilianischen Regenwalds zu ihrer Erholung benutzen, aber keine Indigena und kein Minenarbeiter aus Bolivien hat Zugang zu einem deutschen Krankenhaus. Durch nichts werden die Menschen des Südens dafür belohnt, dass sie weniger Natur verbrauchen als die Menschen des Nordens, die ihren Wohlstand trotz aller Hightech immer noch auch auf dem kostenlosen Naturverbrauch aufbauen.
Die Hauptverursacher des Klimawandels leben im Norden. Pro Kopf emittiert im Norden jeder ein Vielfaches an Kohlendioxid (CO2) im Vergleich zu einem Menschen im Süden. Die Schäden des Klimawandels treffen aber vor allem die Menschen im Süden: Die Sahelzone wird noch trockener werden, Mittelamerika wird mehr unter Hurricans und Südamerika und Afrika mehr unter El Niño leiden, jener wiederkehrenden Temperaturschwankung im tropischen Pazifischen Ozean, die in den Anden Überschwemmungen und im südlichen Afrika Dürre zur Folge hat. Die Inselstaaten des Pazifik und Bangladesch sind durch den steigenden Meeresspiegel sehr viel mehr bedroht als Schleswig-Holstein, das es sich zudem leisten kann, seine Deiche zu erhöhen.
Vor allem die zwei Milliarden Armen sind besonders auf eine stabile, funktionierende Umwelt angewiesen. Es ist die einzige produktive Ressource, zu der sie überhaupt Zugang haben. Das ressourcenverschwendende Wirtschaften der globalen Oberschicht kostet die Armen die stabile Natur, auf die sie dringend angewiesen sind. Der Klimawandel wird zunehmend Menschen zu Umweltflüchtlingen machen, zu Menschen, die nichts mehr haben, nicht einmal ein Zuhause.
Die durch Vernachlässigung von Umweltschutz verursachte Ungerechtigkeit ist vielgestaltig. Wenn globalitäre Regime wie Chiquita oder Monsanto in ihren Monokulturen das Grundwasser mit Chemikalien verseuchen, raubt das der lokalen Bevölkerung das überlebenswichtigste Lebensmittel, das es gibt: Trinkwasser. Wer weniger als einen Dollar am Tag hat, kann sich davon kein sauberes Wasser in Flaschen kaufen, sondern muss das von Pestiziden verseuchte Wasser trinken.
Die Globalisierung fördert den hohen und den ungerecht verteilten Ressourcenverbrauch. Der globale Fleischkonsum etwa wächst stark, aber die reichsten 20 Prozent nehmen sich davon die Hälfte, das ärmste Fünftel bekommt weniger als 5 Prozent. Fracht- und Flugkosten werden immer geringer. Das erhöht die Klimaschäden durch Emissionen im Verkehr und den Zugriff des Nordens auf die Naturressourcen des Südens.
So lange Natur nichts oder kaum etwas kostet, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen globaler Oberschicht und der immer größer werdenden globalen Unterschicht, die angesichts zunehmender Umweltschäden immer mehr ums bloße Überleben kämpfen muss. Erst eine weltweite Einbeziehung aller Kosten in die Preise wird Welthandelsbeziehungen schaffen, die für den Süden mehr Gerechtigkeit schaffen.
Es wäre nur gerecht, die Viel-Verbraucher aus dem Kreis der globalen Oberschicht zu Gunsten der wenig verbrauchenden globalen Unterschicht zur Kasse zu bitten. Ich plädiere sehr für Nutzungsentgelte im Flugverkehr. Selbst bei einem pauschalen Aufschlag von einem Euro pro Flug würde die Summe der Nutzungsentgelte aus dem Flugverkehr etliche Klimaschutzmaßnahmen im Süden finanzieren helfen können: etwa Küsten- und Hochwasserschutz, den Aufbau effizienterer Kraftwerke und von Fabriken zur Herstellung von Fotovoltaik- und Solarwärmeanlagen im Sonnengürtel sowie naturnahe Wiederaufforstung.
Wenn die Menschen einer Region bereit sind, auf Landnutzung zu verzichten, um beispielsweise Gorillas oder Pandas ein Überleben zu ermöglichen, erfordert es die Gerechtigkeit, dass wir diesen Gemeinschaften mit Transfers die Chance geben, sich alternative Einkommensmöglichkeiten aufzubauen. Der Norden hat seinen Wohlstand zuerst auf der Zerstörung der Umwelt im Norden aufgebaut, da können wir nicht erwarten, dass die Menschen im Süden aus reinem Gutmenschentum globale CO2-Senken und Artenvielfalt schützen. Zumal die Vernichtung wertvoller Waldbestände in den Industriestaaten fortschreitet.
Welche Instrumente sind geeignet, ökologische Gerechtigkeit zu verwirklichen? National haben wir gute Erfahrungen mit der ökologischen Steuerreform gemacht. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass die CO2-Emissionen im Verkehr erstmals seit über einem Jahrzehnt wieder gesunken sind - in zwei aufeinander folgenden Jahren. Wir müssen diese Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft ein ökologisches und damit ein gerechteres Fundament zu geben, engagiert fortsetzen. Dem sollen auch der Nachhaltigkeitsrat und die gerade beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie dienen.
Das Wuppertal Institut entwickelt neue Berechnungsmodelle wie den Flächenverbrauch, den der Gebrauch eines Produktes oder einer Dienstleistung erzeugt (FIPS), oder die Materialintensität von Produkten (MIPS), also die Bilanz über sämtliche in das Produkt einfließenden physischen Stoffe. Würde man solche Berechnungsmodelle zur Grundlage von Preisen machen, wüsste jeder Verbraucher im Supermarkt, dass hinter einer Flasche Orangensaft 22 Flaschen Wasser stehen - plus Sprit. Würde der Preis dies spiegeln, dann würde der Druck auf die Felder im Süden sehr viel geringer - zum Wohl gerade der armen Bevölkerung, die heute kaum Zugang zu Land bekommt, weil das Land und das Wasser genutzt werden, um Devisen zu erwirtschaften.
Wackernagel und Rees haben das Berechnungsmodell des ökologischen Fußabdrucks entwickelt. Dieses ermittelt den Pro-Kopf-Verbrauch eines Menschen umgerechnet auf das Land, das zur Befriedigung dieser Ansprüche nötig ist. Global stünden jeder Person zwei Hektar zur Verfügung, Chinesen, Inder oder Äthiopier schöpfen dies nicht aus, aber Deutsche beanspruchen fünf Hektar. Erst wenn wir konsequent die ökologischen Kosten in die Preise einrechnen und dadurch Innovationen auslösen, werden wir uns den uns zustehenden zwei Hektar annähern. Erst dadurch bekommen die Armen im Süden die Chance auf gleichen Wohlstand. Nur durch Ökologie kommen wir zu Nord-Süd-Beziehungen, die global gerecht sind und den Menschen im Süden Entwicklungschancen bieten.
Diese Ökologisierung der Wirtschaft muss vom Norden ausgehen: Weil wir die größten Verbraucher sind und weil wir das Know-how und das Geld haben, um beispielsweise die erneuerbaren Energien in die Massenfertigung zu bringen und um eine Effizienzrevolution möglich zu machen. Nur wenn wir eine ökologisch nachhaltigere Energieversorgung im Norden und im Süden aufbauen, können wir die größten Ungerechtigkeiten des Klimawandels vermeiden und zugleich allen Regionen Chancen für Entwicklung einräumen.
Wichtigstes Mittel zum Zweck ist dafür die Einführung des Verursacherprinzips: Wer viel Natur verbraucht, muss viel zahlen. Das ist der entscheidende Anreiz, sich nach natursparenden Alternativen umzusehen, der Anreiz für technische Innovationen, für den Aufbau einer Siliziumproduktion und für die Massenfertigung von Fotovoltaik und Solarwärmeanlagen. Damit würden wir die Solarwirtschaft in absehbarer Zeit so preisgünstig machen, dass sie jedes fossile Kraftwerk und jeden Dieselgenerator im Preis schlügen. Mit dieser dezentralen Energiegewinnung bekäme auch der ländliche Raum im Süden Strom - was eine zentrale Voraussetzung für Bildung, Kommunikation und wirtschaftliche Entwicklung ist. Niedrige Preise für ökologisch sinnvolle Innovationen sind das beste Argument für einen Politikwechsel. Damit können wir den Süden überzeugen.
Wir werden die Koordinaten, die Ökologie und damit globale Gerechtigkeit fördern, nur bekommen, wenn wir neue Berechnungsmodelle einführen, die alle Umweltkosten in die Preise internalisieren können. Das Bruttosozialprodukt ist für den Lebensstandard ein stumpfer Indikator - ja gelegentlich sogar kontraproduktiv. Ein Abholzen von Wäldern würde das Bruttosozialprodukt ansteigen lassen. Aber wiegen die Deviseneinnahmen aus dem einmaligen Export von Holz den dauerhaften Verlust von Wäldern auf? Wälder, vor allem naturnahe Wälder, sind mehr als die Summe ihrer Stämme: Ein Wald bietet vielen Arten einen Lebensraum, diverse Nutz- und Heilpflanzen und essbare Tiere, er produziert Sauerstoff, hält das Wasser im Boden und ist ein Erholungsraum. Er trägt zur Stabilierung des Klimas bei, zum Erhalt des Bodens.
Für all das ist das Bruttosozialprodukt eine blinde Größe, und nicht nur das: Die Produktion von Waffen und Giften, Abholzung, Versiegelung von Landschaft, selbst ein Autounfall wird positiv gezählt. Die Fixierung auf eine solche Größe ist nicht zukunftsfähig - zumal in einer Zeit, in der Natur immer knapper und kostbarer wird. Wir müssen deshalb das klassische Sozialprodukt um entscheidende umweltrelevante Größen ergänzen, um beides in einem Gleichgewicht zu entwickeln. Das würde neue Allianzen schmieden: Dann hätte der Finanzminister ebenso ein Interesse am Erhalt eines naturnahen Waldes wie die Frauen vor Ort, die darin Brennholz, Nahrung und Heilpflanzen finden, und wie die Weltgesellschaft, die auf den Erhalt der Wälder angewiesen ist.
Seit US-Präsident Harry S. Truman haben wir die bornierte Einteilung in "entwickelte" und "unterentwickelte" Länder, die sich zur Schaffung von Gerechtigkeit als absolut hinderlich erweist. Reduktionspflichten nach dem Kyoto-Protokoll haben nur die "entwickelten" Länder übernommen - zu Recht, denn sie sind für 80 Prozent des in der Atmosphäre angereicherten von Menschen erzeugten CO2 verantwortlich. In der kommenden Verpflichtungsperiode ab 2012 wird man aber stärker den Pro-Kopf-Verbrauch berücksichtigen müssen. Dieser ist in einigen "unterentwickelten" Ländern sehr hoch und steigt vor allem stark an. Schauen wir auf Ölstaaten wie Saudi-Arabien, OECD-Mitglieder wie Süd-Korea, Schwellenländer wie Singapur. Globalen Umweltschutz und globale Gerechtigkeit erreichen wir nur, wenn wir den Pro-Kopf-Naturverbrauch zur Messlatte machen: Wer darüber liegt, muss reduzieren und den Wenig-Verbrauchern Transfers für die Schäden zahlen. Das schafft für alle Staaten Transparenz und den Anreiz, sofort auf erneuerbare Energien und effiziente Technologien zu setzen. Diese Art der Einteilung, die wir im Ozon-Regime schon haben, würde außerdem die unheilige Meinungsführerschaft der OPEC-Staaten innerhalb der G77 brechen, die gerade bei Klimaverhandlungen sehr zum Nachteil für die ärmsten Länder ist.
Ökologische Fehlentwicklungen in Nord und Süd sind heute das zentrale Problem. Also müssen wir die Korrektur dieser unterschiedlichen Fehlentwicklungen zur zentralen Aufgabe machen. Ökologie ist der Schlüssel zu globaler Gerechtigkeit.
aus: der überblick 02/2002, Seite 88
AUTOR(EN):
Jürgen Trittin:
Jürgen Trittin ist Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ende Juni 2002 erscheint im Aufbau-Verlag sein neues Buch: "Welt Um Welt. Gerechtigkeit und Globalisierung".