In Spanien wird der Blick auf die Vergangenheit zunehmend kontroverser
Der friedliche Übergang zur Demokratie in Spanien nach 1975 hatte einen Preis: Eine Aufarbeitung des Bürgerkrieges (1936-1939) und der Franco-Diktatur (1939-1975) fand offiziell nicht statt. Doch seit einigen Jahren ist die Debatte in der Gesellschaft lebhafter und strittiger geworden und hat nun auch die Politik erfasst.
von Walther L. Bernecker
Seit einigen Jahren findet in Spanien eine leidenschaftliche Debatte über die Aufarbeitung der Vergangenheit statt. Um die Schärfe und bissige Polemik der Positionskämpfe zu verstehen, bedarf es eines Blicks zurück, in die Anfangsjahre des Demokratisierungsprozesses nach Francos Tod 1975.
Denn der spanische Fall unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen europäischen Beispielen: Der Konflikt - der Kernbestand der zur Diskussion stehenden Erinnerungskultur - war in erster Linie ein Bürgerkrieg. Er wurde zwar von Anfang an internationalisiert, in seinem Ursprung und seiner historischen Bedeutung war er aber ein primär innerspanischer Konflikt.
Nach dem Sieg des Generals Francisco Franco entstand kein politisches System, das eine sachliche Aufarbeitung dieses Krieges ermöglicht oder gar gefördert hätte. Ganz im Gegenteil: Es folgte eine jahrzehntelange Diktatur (1939-1975), die eine brutale Repression ausübte und nur eine höchst einseitige Beschäftigung mit dem Krieg zuließ. Toleriert wurde lediglich die Perspektive der Sieger. Als schließlich, nach dem Tod des Diktators und dem allmählichen Übergang in die Demokratie, die Sicht der Unterlegenen zum Tragen kommen konnte, ging die Erinnerung an den Krieg einher mit der Erinnerung an Diktatur und Unterdrückung. Diese Aspekte ließen und lassen sich nicht voneinander trennen.
Die Erinnerungsgeschichte des Bürgerkriegs in den knapp vierzig Jahren franquistischer Diktatur war eher einer Geschichte ihrer politischen Instrumentalisierung. Erinnerungspolitik betrieben die Franquisten vom ersten Tag des Bürgerkrieges an. Sie bemächtigten sich sofort des öffentlichen Raums, eliminierten demokratische Symbole, änderten Straßen- und Ortsnamen, richteten Feierlichkeiten und Kundgebungen aus. Sie unternahmen vielfältige Anstrengungen, um durch symbolische Politik ihre Herrschaft zu legitimieren und das Regime zu stabilisieren. Von Anfang an und dann während der gesamten Franco-Ära betrieb das Regime damnatio historiae. Es versuchte, jegliche historische Erinnerung, die sich nicht in die Tradition der Militärrevolte der nationalistischen Kräfte am 17./18. Juli 1936 in Marokko, mit der Franco von dort den Bürgerkrieg eingeleitet hatte, einreihen ließ, auszuschalten: physisch durch Ermordung aller exponierten Kräfte der republikanischen Seite, politisch durch kompromisslose Machtaufteilung unter den Siegern, intellektuell durch Zensur und Verbote, propagandistisch durch einseitige Indoktrinierungen, kulturell durch Eliminierung der Symbole jenes angeblichen "Anti-Spanien", das in zermürbender Langsamkeit drei Jahre lang bis zu seiner bedingungslosen Kapitulation bekämpft worden war. Es ging den Siegern immer darum - mal direkt und brutal, mal vermittelt und subtil -, ihre Herrschaft in die Tradition einer weit zurückreichenden, glorreichen Vergangenheit einzuordnen und sich selbst in der historischen Kontinuität imperialer Großmachtpolitik zu präsentieren.
Die franquistische Erinnerungspolitik diente einem einzigen Zweck: das Regime als quasi selbstverständliche Konsequenz der Entwicklung in der Tradition der glorreichen spanischen Geschichte zu verankern, zugleich die Erinnerung an die republikanische Gegenseite - die Liberalen und die Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, Freimaurer, Juden und andere - auszulöschen.
Es stand zu erwarten, dass nach Francos Tod in einem demokratisierten Spanien verstärkt Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger hinsichtlich der republikanischen Tradition nachzukommen. Die 40. Jahrestage von Kriegsbeginn und -ende fielen 1976 und 1979 allerdings in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) nach 1982 unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns vor 50 Jahren zu gedenken. Es gab öffentliche Veranstaltungen, die an den Bürgerkriegsbeginn erinnerten, aber gemessen an der überragenden Bedeutung, die dieser Krieg für das Spanien der Gegenwart hat, hielten sich die Rückblicke eher in Grenzen. Der Jahrestag des Kriegsendes verstrich 1989 praktisch unbeachtet.
Es gab Tagungen und Kongresse, deren Ergebnisse in mehreren Sammelbänden veröffentlicht wurden, die ein weitgehend ausgewogenes Bild des Bürgerkrieges präsentierten; viel gelesene historische Zeitschriften (etwa Historia 16) und Tageszeitungen mit hohen Auflagen (wie zum Beispiel El Pais) brachten vielfältige Bürgerkriegsbeiträge. Im Gegensatz dazu ließ sich das "offizielle" Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigentlichen Jahrestag des Bürgerkriegbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei um den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging. In dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich und über Massenmedien auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt gewesen.
Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast (seit 1977 Sitz des Ministerpräsidenten von Spanien) - Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei - besagte, der Bürgerkrieg sei "kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte". Inzwischen sei der Krieg jedoch "endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier"; er sei "nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert".
Derartige Äußerungen sind in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuaufbau nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutaler Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: für die Akzeptierung der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Wiederversöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlussstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden.
Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten - die zu den Hauptverlierern des Bürgerkrieges gehörten - mit bewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja: zu verdrängen, und außerdem politisches Verständnis für die ehemals "andere" Seite zu zeigen. In der Moncloa-Erklärung heißt es weiter, die Regierung wolle "die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung - und viele mit ihrem Leben - zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben"; zugleich gedenke sie "respektvoll jener, die - von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien - für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten". Die Regierung hoffe, dass "aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkrieges endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle."
Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern und keine radikalen Veränderungen vorzunehmen. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis. Der soziopolitische Friede musste erkauft werden. Die transicion stellte eine Art Ehrenabkommen dar: Zum Ausgleich für die Übergabe der Macht kam man den Franquisten mit einer kollektiven Amnesie entgegen. Dies gilt nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen der Jahre 1977-1982, sondern auch für den PSOE: Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzte die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse.
Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die von dem französischen Historiker Pierre Nora Orte des Gedächtnisses genannt werden. Über den Bürgerkrieg und - stärker noch - über die ersten Jahre der Franco-Ära legte sich, zumindest im politischen Diskurs, für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungs-Generationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hatten. Statt dessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten hin gleichermaßen abgesicherte Parole: "Nie wieder!" Der Bürgerkrieg wurde als "Tragödie" bewertet, als Krise, die den Zusammenbruch aller Werte des Zusammenlebens heraufbeschwor; nicht von den Gründen und Verantwortlichkeiten für diese Tragödie war die Rede, sondern von den Folgen der "tragischen Krise".
Nach dem Tod des Diktators war die Amnestiefrage rasch zu einem Hauptanliegen der Opposition und deren Lösung zugleich zur politischen Bewährungsprobe für das Regierungslager geworden. Die Forderung nach einer umfassenden Amnestie wurde gleichsam zum Kristallisationspunkt für alle Veränderungswünsche. Da die Amnestie sich auf die Taten beider Seiten erstreckte und deren symbolische Bedeutung als Hauptakt der nationalen Versöhnung nicht gefährdet werden sollte, durften keine einseitigen Schuldzuweisungen erfolgen. Das gesamte politische Spektrum bekannte sich zu einer "Amnestie aller für alle", die ein besonders leidvolles Kapitel der spanischen Geschichte besiegeln und die Grundlage für einen Neuanfang legen sollte.
Die Versöhnungsrhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lager der "Verlierer" insgesamt einen deutlich höheren Preis für die Wiedergewinnung der Demokratie zu zahlen hatte. Denn zur Niederlage im Krieg und deren unmittelbaren Folgen gesellte sich in der Regel die politische und sozialökonomische Diskriminierung unter knapp 40 Jahren Diktatur.
Über den Verzicht auf Erinnerung wird bis heute spekuliert, und manche Kritiker sehen hier anstelle von kluger Zurückhaltung im Interesse von Freiheit und Demokratie eher die verbreitete Furcht vor dem alten Establishment am Werke. Nicht zufällig ist daher in der Rückschau oftmals von einem "Pakt des Schweigens" der Eliten, gar von "kollektiver Amnesie" die Rede gewesen. Dagegen hat der Historiker Santos Juliá klargestellt, dass die Vergessensrhetorik der Transition keineswegs mit einem praktizierten Beschweigen der Vergangenheit gleichgesetzt werden kann. Denn die politische Öffentlichkeit redete und erinnerte sich tatsächlich unermüdlich, wenn auch die Art dieser Erinnerungsrhetorik vor allem darauf abzielte, den Bürgerkrieg und seine Folgen von der politischen Debatte fernzuhalten. Was heute wie ein Verzicht auf Erinnerung erscheinen mag, war der letztlich erfolgreiche Versuch, die explosive Wirkungsmacht der Vergangenheit rhetorisch zu neutralisieren.
Charakteristisch hierfür waren Distanzierungsstrategien, mit denen die traumatische Erfahrung der dreißiger Jahre in möglichst weite Ferne zur Gegenwart geschoben wurde. Der erste Schritt mentaler Distanzierung war bereits mit der Anerkennung des Krieges als "Bruderkrieg" und "nationale Tragödie" erfolgt. Die Kollektivschuldthese verhinderte nicht nur die späte Aufrechnung politischer Verbrechen, sondern auch die öffentliche Anerkennung der Tatsache, dass die politische Repression der franquistischen Seite bedeutend mehr Opfer gefordert hatte. Politischer Mord, Unterdrückung, Exil und Zwangsarbeit, kurzum, die Leidensgeschichte des republikanischen Lagers verwandelte sich so in eine Tabuzone des öffentlichen Diskurses, die nur selten betreten wurde.
Auf die lange Regierungszeit der Sozialisten folgte 1996 der Wahlsieg des konservativen Partido Popular (PP), dessen Vorsitzender José Maria Aznar vier Jahre lang einer Minderheitsregierung vorstehen und weitere vier Jahre mit absoluter Mehrheit regieren sollte. Das neue Selbstbewusstsein der Rechten, das proportional zur Krise der Sozialisten im Verlauf der neunziger Jahre gestiegen war, sollte nicht ohne Folgen für die Geschichtspolitik insgesamt und den Blick auf die jüngste Vergangenheit im besonderen bleiben. Sichtbar wurde dies allerdings erst mittelfristig.
Als neu erwiesen sich zunächst der Nachdruck und die Lautstärke, mit der eine ultrakonservativ aufgeladene Vergangenheitsdeutung zu dieser Zeit in die politische Öffentlichkeit drängte. Dabei ging es nicht nur um Teilaspekte, sondern letztlich um die Deutungshoheit über den Bürgerkrieg insgesamt. Getarnt als Kampf gegen die vermeintliche Usurpation der Geschichte des Bürgerkrieges durch die Linke, zielte eine revisionistische Rechte mit ihren Arbeiten praktisch auf die Gesamtheit der universitär verankerten, kritischen Gesellschaftsgeschichte. Als Antwort auf das von zahllosen Einzelstudien geformte, fachhistorische Bild des Bürgerkrieges warteten die Revisionisten mit mehreren Titeln auf, deren generelle Tendenz in der Minimierung der Verantwortlichkeiten der Aufständischen lag, während die Handlungen des gegnerischen Lagers regelmäßig zu einem apokalyptischen Schreckensbild gesteigert wurden.
1999 legten die damaligen Oppositionsparteien einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor, mit dem 60 Jahre nach Kriegsende das Andenken der Bürgerkriegsexilanten gefördert und Gelder für Entschädigungszahlungen bereitgestellt werden sollten. Neben dieser Würdigung des Exils zielte der Gesetzentwurf aber auch auf eine "offizielle" Neubewertung der Kriegsschuldfrage, insofern diese erstmals auf die Verantwortlichen jenes "faschistischen Militärputsches gegen die republikanische Legalität" zugespitzt wurde.
Damit aber verabschiedete sich der Text von der bisher gültigen Sprachregelung des offiziellen Spanien, die eine auf beide Lager gleichmäßig verteilte Kollektivschuld unterstellte. Im Regierungslager war man keineswegs bereit, sich der neuen Sicht der Dinge anzuschließen. Zwar erklärten sich die Konservativen mit einem eigenen Vorschlag bereit, die Ehrung der "Opfer" zu unterstützen. Bürgerkrieg und Diktatur aber seien "überwundene Perioden", deren Ursachen nicht zur politischen Debatte stehen dürften.
In ihrer zweiten Legislaturperiode sahen die Konservativen sich sodann mit zahlreichen Anträgen und Initiativen der Opposition konfrontiert. Diese "entdeckte" in der Frage der Vergangenheitspolitik plötzlich eine neue politische Arena: In regelmäßigen Abständen legten Sozialisten und "Vereinigte Linke" von nun an Gesetzesinitiativen vor, die mit der Forderung nach Rehabilitierung und Entschädigung nacheinander die verschiedenen Opfergruppen der Franco-Diktatur ins Spiel brachten.
Die Aussichten auf eine staatliche Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten blieben zunächst gering. Erst der unverhoffte Wahlsieg der oppositionellen Sozialisten nach den Madrider Terroranschlägen vom 11. März 2004, in deren Folge das politische Meinungsbild im Lande in kürzester Zeit umstürzte, weckte auf seiten der Bürgerinitiativen berechtigte Hoffnungen, denn nach dem parlamentarischen Engagement in Sachen Vergangenheit in den vorangegangenen Monaten stand der PSOE nun moralisch in der Pflicht. Die Hoffnung der Bürgerinitiativen, von der Regierung Zapatero rasche finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit zu erhalten, ist aber drei Jahre nach deren Amtsantritt weitgehend verebbt.
In der Zivilgesellschaft hatte sich seit der Jahrtausendwende einiges bewegt. Seitdem ist die zeitliche Parallelität eines plötzlich wachsenden gesellschaftlichen Engagements zu beobachten, das im Zusammenspiel mit verschiedenen politischen Akteuren den öffentlichen Umgang mit der Bürgerkriegserinnerung nachhaltig verändert hat. Sucht man auf zivilgesellschaftlicher Ebene nach einem Ausgangspunkt, so fällt der Blick rasch auf den aus Leon stammenden Lokalreporter Emilio Silva. Anfang 2000 hatte sich dieser auf die Suche nach den sterblichen Überresten seines im Bürgerkrieg verschollenen Großvaters begeben und damit ganz unverhofft einen Stein ins Rollen gebracht. Ein Artikel zu seinem Vorhaben, publiziert in einer Lokalzeitung, löste unerwartete Hilfsbereitschaft aus. Zeitzeugen meldeten sich zu Wort, und Archäologen und Gerichtsmediziner boten ihre Hilfe an. Rasch formierte sich eine lokale Bürgerinitiative, die unter dem Namen Asociacion para la Recuperacion de la Memoria Historica (Verein zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung) bald darauf zur Tat schritt. Noch im Herbst desselben Jahres kam es so - nach einer Unterbrechung von rund zwanzig Jahren - im leonesischen Priaranza del Bierzo im Nordwesten Spaniens zur Öffnung erster Bürgerkriegsgräber.
Die Exhumierungen von Leon hatten für das ganze Land eine überraschende Signalwirkung: 25 Jahre nach dem Tod des Diktators rückte plötzlich die Frage nach den desaparecidos, den Verschwundenen des Krieges, ins öffentliche Bewusstsein. Wie selbstverständlich wurde eines der düstersten Kapitel der Zeitgeschichte aufgeschlagen, namentlich jenes der teils spontanen, teils systematischen Gewaltexzesse und Hinrichtungen, die zu Kriegsbeginn und danach auf beiden Seiten der Front durch Städte und Dörfer fegten. Ein jahrelang zurückgehaltenes Wissen um die in Straßengräben sowie auf Äckern und Feldern verscharrten Opfer der Franquisten brach sich Bahn, und rasch machte die Zahl von 30.000 nicht identifizierten republikanischen Toten die Runde. Von Leon ausgehend breitete sich die Bewegung mittels zahlreicher lokaler Initiativen über das ganze Land aus. Schon bald folgten daher auch in anderen Regionen Exhumierungen.
Noch in einem anderen Sinne spielte die Erinnerungskultur eine herausragende, öffentliche Rolle. Denn zur Jahrtausendwende waren die metallenen Zeugnisse der Führer-Verehrung nach wie vor präsent. In Gestalt großer Reiterstandbilder sowie mehrerer Statuen und Bronzebüsten war der Caudillo Franco zu diesem Zeitpunkt auf einigen städtischen Plätzen und Straßen noch immer gegenwärtig. Weniger auffällig, aber noch deutlich weiter verbreitet ist außerdem der Namenskanon von Mitstreitern und Kriegsschauplätzen aus dem Bürgerkrieg, der bis heute das Straßenregister unzähliger Städte und Ortschaften schmückt. Eine quantitative Erhebung zur franquistischen Straßennomenklatur ergab, dass in 79 Prozent der Provinzhauptstädte auch in Sachen franquistischer Symbolik nach mehr als 25 Jahren die Kontinuität vor dem Wandel stand.
Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit von all dem heute noch eine politisch infektiöse Wirkung ausgeht. Eine Tatsache ist aber, dass - mit Ausnahme von Katalonien und dem Baskenland - praktisch im ganzen Land der politische Wille zur Eliminierung derartiger Relikte bisher gefehlt hat. Weniger eindeutig als dieser Befund sind im Einzelfall die zugrundeliegenden Motive. Einzelne Ortschaften waren bekannt für konservative Mehrheiten im Stadtrat, für die der Erhalt franquistischer Symbole offenbar lange Zeit eine Herzensangelegenheit darstellte. Der statistische Vergleich zeigt jedoch, dass auch Städte mit wechselnden oder stabil sozialistischen Mehrheiten nach nunmehr sieben Wahlperioden nicht notwendigerweise ein anderes Bild bieten.
Der lange Fortbestand franquistischer Herrschaftszeichen erscheint symptomatisch für die spanische Vergangenheitspolitik nach 1975. Allerdings hat die neue vergangenheitspolitische Sensibilität unterdessen auch diesen Bereich unbewältigter Zeitgeschichte in den Blick gerückt. Seither haben landesweit ganz unterschiedliche Initiativen die Forderung aufgegriffen und die Zerstörung franquistischer Symbole bisweilen sogar in die eigenen Hände genommen.
Während aber nach Jahrzehnten der Tatenlosigkeit wenigstens die Sozialisten endlich Handlungsbedarf erkannten, entschlossen sich die Konservativen im gereizten Klima ihrer zweiten Amtsperiode nun erst recht zu systematischer Blockadepolitik. Und so geriet auch die nach allen Maßstäben demokratischer Kultur längst überfällige Demontage der franquistischen Regimesymbolik zum Gegenstand neuer Streitereien und zu einem weiteren vergangenheitspolitischen Auftrag an die seit Frühjahr 2004 amtierende Regierung unter José Luis Rodriguez Zapatero.
Es ist weitgehend unstrittig, dass von Vergangenheitsarbeit überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind, da sie Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaates schafft. Im spanischen Fall nun fand sich am Anfang der neuen Demokratie jedoch ein Generalkonsens der politischen Lager: Alle Seiten verzichteten auf eine allzu explizite Verurteilung der jüngsten Vergangenheit. Die neue Popularität des Erinnerns, die in den letzten Jahren um sich gegriffen hat, hat allerdings die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens, auf eine einmütige Verurteilung der jüngeren von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit eher erschwert. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt somit, dass in Spanien eine kritische Aufarbeitung der Geschichte offenbar nur um den Preis verschärfter politischer Konfrontationen und einer Art Lagerbildung zu haben ist. Bestätigt diese Erkenntnis nachträglich die politische Klugheit des "Schweigepaktes" der Transition?
Das wiederholt angekündigte "Gesetz zur moralischen Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur", das umgangssprachlich nur "Gesetz der historischen Erinnerung" (Ley de Memoria Historica) genannt wird, ist nach mehreren Verschiebungen und Verzögerungen im Sommer 2006 endlich vom Ministerrat verabschiedet worden. Der jetzige Gesetzesentwurf sieht vor, dass das spanische Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit ein fünfköpfiges Expertengremium einsetzen soll, das ein Jahr lang über Anträge zu befinden hat, als Opfer des Franco-Regimes anerkannt zu werden und finanzielle Wiedergutmachung zugesprochen zu bekommen. Die moralische Rehabilitierung soll somit auf Einzelantrag entschieden werden. Bei den jetzigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament kann dieses Gremium nur mit Zustimmung der konservativen Volkspartei ernannt werden; die Volkspartei hat Anfang 2007 allerdings zu verstehen gegeben, dass sie die Einsetzung eines derartigen Gremiums definitiv ablehnt. Damit aber hat das "Herzstück" des Gesetzes keine Aussicht auf Realisierung. Der Gesetzesentwurf kommt auch der Forderung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht nach, die Urteile der franquistischen Militär- und Sondergerichte pauschal zu "Unrechtsurteilen" zu erklären; Ministerpräsident Zapatero erklärte, der spanischen Regierung sei es nicht möglich, die Urteile der Franco-Justiz in toto aufzuheben, da ein derartiger Akt einen "Bruch der Rechtsordnung" bedeuten würde. Diese Interpretation wird von namhaften Juristen (bisher erfolglos) zurückgewiesen. Weiter sieht das Gesetz vor, den Kreis der Pensions- und Entschädigungsberechtigten wegen franquistischer Urteile zu erweitern. Schließlich sollen von allen staatlichen Gebäuden jene Symbole entfernt werden, die einseitig eine der beiden Bürgerkriegsparteien glorifizieren.
Im Herbst begann die parlamentarische Debatte. Heute bereits ist abzusehen, dass der Gesetzesentwurf in der vorgelegten Form keine parlamentarische Mehrheit finden wird. Die Konservativen lehnen das gesamte Projekt ab, da es angeblich die Gräben der Vergangenheit wieder aufreißt. Die links von den Sozialisten angesiedelten Parteien und die zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisieren den Entwurf, da er ihnen nicht weit genug geht. Bisher ist keine Aufhebung der franquistischen Unrechtsurteile vorgesehen, die finanzielle Unterstützung der Exhumierungsarbeiten hält sich in engen Grenzen. Das Gesetz bewegt sich im wesentlichen im symbolischen Bereich. Da die Sozialisten im Parlament über keine Mehrheit verfügen, ist mit substantiellen Veränderungen des Gesetzesentwurfs zu rechnen, bevor er schließlich die Zustimmung einer Mehrheit finden kann. Zum Zeitpunkt, zu dem dieser Artikel erscheint, wird vor allem über die Ungültigkeitserklärung der franquistischen Todesurteile debattiert. Die Auseinandersetzungen über die Vergangenheitsaufarbeitung gehen weiter.
aus: der überblick 01/2007, Seite 98
AUTOR(EN):
Walther L. Bernecker
Professor Walther L. Bernecker ist seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls Auslandswissenschaft (Romanischsprachige Kulturen) an
der Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist unter anderem Autor, mit Sören Brinkmann, des
Buches "Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft
1936-2006", Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006.