Umoja na Amani - Die außergewöhnliche politische Stabilität Tansanias ist kein glücklicher Zufall der Geschichte
Die politische Stabilität Tansanias ist Ergebnis eines politisch gewollten Prozesses. Sie beruht auf drei Säulen. Erstens erkannten die Bürger den Staat als legitim an, weil er ideell und materiell etwas für sie leistete - dazu gehören auch die Politik des interethnischen Ausgleiches und die Schaffung einer Nationalsprache. Die zweite Säule bildet die Integration potenziell konfliktfähiger Gruppen in die Staatspartei, die Teilhabe am Staat aber auch Kontrolle durch den Staat ermöglichte. Die dritte Säule besteht im Management der Armut in Tansania, das Potenzial für Konflikte verminderte.
von Kurt Hirschler
Tansania scheint ein hoffnungsloser Fall zu sein. Mit großen Erwartungen war das Land in die Unabhängigkeit gestartet; es galt lange als das am meisten versprechende Entwicklungsmodell für die Länder des Südens und zählt heute zu den Musterschülern von IWF und Weltbank. Die Gründe mögen vielfältiger Natur sein, doch das Ergebnis ist eindeutig: Tansania ist eines der ärmsten Länder der Welt. Hinsichtlich fast aller sozialen und ökonomischen Indikatoren bleibt das Land selbst hinter den meisten anderen afrikanischen Staaten zurück.
Doch Tansanias wichtigste Errungenschaft nach vierzig Jahren Unabhängigkeit lässt sich nicht mit ökonomischen oder sozialen Indikatoren beschreiben. Sie liegt vielmehr in der außergewöhnlichen politischen Stabilität des Landes. Während die Menschen in anderen afrikanischen Staaten lernen mussten, mit putschenden Militärs, Bürgerkriegen und gewalttätigen Unruhen zu leben, blieb Tansania von solchen Problemen verschont. Doch nicht eine glückliche Fügung des Schicksals hat Tansania zur Insel des Friedens in einer von politischer Instabilität gekennzeichneten Region werden lassen. Es waren vor allem die Weichenstellungen der politischen Führung des Landes, die diesen Erfolg ermöglichten.
Dies wird häufig verkannt. Tansania habe bessere Voraussetzungen für eine friedliche und politisch stabile Entwicklung gehabt als andere afrikanische Staaten, lautet eine weit verbreitete Argumentation. Demnach seien die einigende Nationalsprache Kiswahili und eine günstige ethnische Zusammensetzung als Hauptursachen festzumachen.
In der Tat hat die Möglichkeit, sich in jedem Teil des Landes mit der eigenen Sprache verständigen zu können - und damit verstehen zu können! - dazu beigetragen, dass die Idee einer geeinten Nation leichter Fuß fassen konnte. Zwei Aspekte relativieren jedoch das Argument der einigenden Sprache: Erstens kann eine gemeinsame Sprache allein weder Gewalt noch politische Instabilität verhindern. Die Menschen in Somalia und Rwanda mussten dies leidvoll erfahren.
Zweitens ist die eigene Nationalsprache kein Glücksfall für Tansania, sie ist vielmehr das Produkt einer gezielten Sprachpolitik, die übrigens nie unumstritten war. Kiswahili, ursprünglich - wie die Übersetzung es sagt - die Sprache der Küstenbevölkerung, war zwar schon in vorkolonialer Zeit durch den Karawanenhandel weit über das Gebiet des heutigen Tansania hinaus verbreitet. Doch ihre identitätsbildende Kraft bekam sie erst in der Unabhängigkeitsbewegung, die sie als Instrument und als Symbol der Mobilisierung für eine nationale Bewegung gegen den Kolonialismus einsetzte. Die Entwicklung zur nationalen Sprache nach dem Erreichen der Unabhängigkeit 1961 war Teil der Bemühungen der Regierung um den Aufbau einer tansanischen Nation. Unter dem Schlagwort des kujenga taifa oder nation building wurde die zwar weit verbreitete, aber keineswegs im ganzen Land verstandene und gesprochene Sprache einer weder politisch oder ökonomisch noch numerisch dominanten ethnischen Gruppe zur offiziellen Landessprache ausgebaut. Kiswahili ist bis heute für die meisten Tansanierinnen und Tansanier die zweite Sprache geblieben - neben den lokalen Muttersprachen.
Ebenso vorsichtig muss mit dem Argument der angeblich günstigen Verteilung ethnischer Gruppen in Tansania umgegangen werden. Meist wird hiermit gemeint, dass in Tansania keine Ethnie allein aufgrund der Zahl ihrer Zugehörigen den Rest der Bevölkerung dominieren könne. Dies ist zweifellos richtig. Doch spielen andere Faktoren wie der Organisationsgrad oder die Verfügbarkeit materieller und ideeller Machtressourcen eine weit größere Rolle als die reine Größe einer Gruppe.
Wie für die Entwicklung von Kiswahili zur Nationalsprache sind vorkoloniale, koloniale und postkoloniale Entwicklungen von Bedeutung dafür, dass sich kaum politisierte Ethnizität gebildet hat. Zentralisierte Staaten hatten sich im vorkolonialen Tansania erheblich später und in weit geringerem Umfang herausgebildet als zum Beispiel in den Nachbarländern. Die Institutionen und die legitimierende normative Idee dieser vorkolonialen Staaten waren erst im Entstehen und keinesfalls konsolidiert, als der deutsche Kolonialismus ein neues, militärisch-zentralistisches Herrschaftssystem mit äußerster Gewalt durchsetzte und bestehende Strukturen zerstörte.
Zwar versuchte die britische Kolonialverwaltung ab 1925 mit dem System der indirekten Herrschaft tatsächlich oder vermeintlich bestehende indigene Herrschaftsformen (wieder) zu beleben, doch fehlten die historischen Anknüpfungspunkte, um dauerhafte politische Organisationsformen auf ethnischer Grundlage und entsprechende ethnisch-politische Identitäten zu verankern. Hinzu kam, dass es der Tanganyika African Association (TAA) und späteren Tanganyika National Union (TANU) gelang, die ab den 1930er Jahren entstandenen ethnisch-lokalen Organisationen wie die Bahaya Union oder die Pare Union in eine national, nicht ethnisch und nicht konfessionell orientierte Unabhängigkeitsbewegung zu integrieren.
So hatten historische Entwicklungen tatsächlich zu relativ günstigen Voraussetzungen für ein erfolgreiches nation building geführt. Entscheidend war jedoch, dass die politische Führung des unabhängigen Tansania die Weitsicht besaß, eine Tribalisierung der Politik ausdrücklich zu vermeiden und aus den unterschiedlichen konfessionellen Gruppen und den etwa 120 verschiedenen ethnischen Gruppen, die zumeist an den Rändern des riesigen und zudem infrastrukturell schlecht verbundenen Staatsgebietes lebten, eine geeinte Nation zu formen. Ämter, Privilegien und Entwicklungsprojekte wurden in weit geringerem Maße nach ethnischen, regionalen, sozialen oder konfessionellen Kriterien verteilt als in anderen afrikanischen Staaten. Stattdessen war die politische Führung um eine relativ gleichmäßige Streuung der staatlichen Leistungen bemüht.
Die Sprachpolitik und der Verzicht auf eine Tribalisierung sind jedoch nur zwei Aspekte einer Politik, die Tansania zu einem außergewöhnlich stabilen Staat gemacht hat. Zusammenfassend lassen sich drei Säulen ausmachen, auf denen die politische Stabilität Tansanias hauptsächlich ruht.
Erstens ist es in Tansania anders als in vielen afrikanischen Staaten gelungen, den Herrschaftsanspruch des Staates, seiner Organisationsform und seiner Regierungen gegenüber der Bevölkerung auch über die Zeit gleich nach der Unabhängigkeit hinaus zu legitimieren. Dies gelang durch materielle und ideelle Leistungen, die der tansanische Staat erbrachte. So wurde nach Erreichen der Unabhängigkeit mit dem Aufbau eines gebührenfreien Schulsystems begonnen, das als vorbildlich für die gesamte sogenannte Dritte Welt galt. Bis Mitte der 1980er Jahre konnte die Analphabetenquote fast auf 20 Prozent gesenkt werden - ein Wert, der in keinem anderen afrikanischen Land erreicht wurde. Ähnliches wurde im Gesundheitsbereich geleistet. Die vormals hohe Kindersterblichkeit ging zurück, während gleichzeitig die Lebenserwartung zwischen 1960 und 1980 um 15 Jahre anstieg. Die Versorgung der Bevölkerung mit Krankenstationen wurde stetig verbessert und war schon bald besser als im wirtschaftlich prosperierenden Nachbarland Kenia.
Doch die wichtigste legitimierende Leistung ist das hohe Maß an politischer Stabilität und vergleichsweiser friedlicher innerer Entwicklung. Kenntnisse über die politische Gewalt in fast allen Nachbarländern und in weiten Teilen Afrikas sind in Tansania aus Radiosendungen und als Folge der ehemals hohen Schulbesuchsrate weit verbreitet. In Gesprächen über Politik wird immer wieder die Sorge deutlich, mit der viele Menschen in Tansania die gewaltsamen Vorkommnisse in anderen Staaten verfolgen, ebenso wie die Furcht vor ähnlichen Entwicklungen im eigenen Land. Umoja na amani - Einheit und Friede - geschaffen und erhalten zu haben, wird als eines der größten Verdienste anerkannt, das vor allem dem ehemaligen Präsidenten Nyerere zugeschrieben wird. Die Gewährleistung innerer Sicherheit - dazu gehört auch der weitgehende Verzicht auf repressive Maßnahmen und ein vergleichsweise geringes Ausmaß an Gewaltkriminalität - zählt zu den herausragenden Leistungen, die zur Legitimation der politischen Ordnung beigetragen haben.
Zwei Einschränkungen müssen jedoch gemacht werden. Erstens: In der ökonomischen Entwicklung wurden nur sehr geringe Erfolge erzielt. So wuchs zum Beispiel das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von 1965 bis 1980 um durchschnittlich gerade 1,1 Prozent pro Jahr. Für die Bevölkerung wurde diese abstrakte Zahl dadurch spürbar, dass die Haushalte über wenig Bargeld verfügten und sich deshalb nur schlecht mit Konsumgütern auch des täglichen Bedarfs versorgen konnten. Sie spürten es auch daran, dass das Straßen- und Stromnetz nur unzureichend ausgebaut wurden.
Zweitens wurde die Erfahrung, dass der Staat für die Bürger da war und sich entwicklungspolitisch orientierte, ab Mitte der 1970er Jahre durch zunehmenden Bürokratismus und eine ausufernde Korruption beeinträchtigt. Die schwere ökonomische Krise seit dem Ende der 1970er Jahre führte dann auch zu einem Rückbau der sozialen Errungenschaften. Die medizinische Versorgung wurde schlechter, die zahlreichen Krankenstationen verfügten allenfalls über geringe medizinische Ausstattung und das Personal war mehr mit landwirtschaftlicher Selbstversorgung als mit den Patienten beschäftigt. Für die Schulen lässt sich Ähnliches feststellen. Nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1982 lebte ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das Ausbleiben wirtschaftlicher Erfolge stellte die wichtigste Ursache für die umfassende Legitimitätskrise dar, in der sich Staat, Partei und Regierung in dieser Phase befanden. Dass zu diesem Zeitpunkt eine ernsthafte Bedrohung für die politische Stabilität Tansanias bestand, verdeutlicht die Verschwörung von Armeeangehörigen gegen die Regierung von 1982/83.
Drei Ursachen erklären, warum in dieser Phase ein militärischer Umsturz, Unruhen oder eine andere Gefährdung der politischen Stabilität verhindert werden konnten. Zum einen beruhte die Legitimität von Staat und Regierung nicht nur auf den sozialpolitischen Errungenschaften. Viel wichtiger noch waren die ideellen Legitimationsleistungen. Es war in Tansania offensichtlich gelungen, eine grundlegende Akzeptanz der staatlichen Ordnung und der Regierung zu erreichen, die auch ökonomisches Versagen und soziale Krisen überdauern konnte.
Die Ideologie des ujamaa-Sozialismus verknüpfte tatsächliche und vermeintliche afrikanische Traditionen mit dem Versprechen, durch harte gemeinsame Arbeit Wohlstand erreichen zu können. Die anti-elitäre Massenideologie des ujamaa umfasste einen mobilisierenden und einen legitimatorischen Aspekt nationaler Einheit. Mobilisierend insofern, als die Anstrengung jeder und jedes einzelnen gefordert wurde, und legitimatorisch wegen der Aussicht, nur durch Zusammenarbeit mit einer als national verstandenen Gemeinschaft den eigenen Lebensstandard verbessern zu können. Dies wurde vor allem über die staatlichen Medien und das nationale Erziehungssystem vermittelt, das auch die Erwachsenenbildung umfasste. Neben der fachlichen Lehre fand hier auch eine nachhaltige Erziehung - oder Indoktrination - in den Prinzipien und Werten des ujamaa-Sozialismus statt. Ergänzt wurde dies durch den Einsatz politischer Symbole und Rituale wie die bis heute einmal im Jahr durch das ganze Land getragene "Fackel der Unabhängigkeit".
Der Appell der ujamaa-Ideologie an die Bereitschaft der Bevölkerung zu harter Arbeit und Verzicht sowie das egalitäre und anti-elitäre Programm der Regierung wurden zudem von der politischen Führung des Landes relativ glaubwürdig vertreten. Bis zu den ökonomischen Krisenjahren Ende der 1970er Jahre zeichneten sich die führenden Politiker durch ein vergleichsweise bescheidenes Auftreten aus. Insbesondere Präsident Nyereres persönliche Integrität und seine charismatischen Fähigkeiten, aber auch das hohe Ansehen, das er auf internationaler Ebene genoss, trugen wesentlich zur Legitimation der politischen Ordnung Tansanias bei. Er wurde von vielen als Garant für die friedliche Entwicklung und die Einheit des Landes angesehen.
Auch wenn es widersprüchlich klingen mag, lag gerade in Nyereres rechtzeitigem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt im Jahr 1985 der zweite Grund für die Überwindung der damaligen Legitimationskrise. Der daraufhin eingeleitete ökonomische Kurswechsel brachte spürbare Erleichterungen für die Bevölkerung. Die tansanische Führung erreichte mit diesen beiden Schritten eine Reduzierung der bestehende Spannung - ein Erfolg, der in anderen Staaten nicht gelang, in denen machtversessene Politiker durch ihr Festhalten am Amt bestehende Krisen weiter vertieften.
Der dritte Grund liegt in der Kontrolle, die Staat und Partei auch in dieser Zeit über das gesamte politische Geschehen ausübten. Die frühzeitige Aufdeckung der Verschwörung 1982/83 konnte einen möglichen Militärputsch und eine ernsthafte Erschütterung der politischen Stabilität Tansanias verhindern. Möglich wurde dies durch eine Strategie der Einbindung und Kontrolle des Militärs wie auch jeglicher anderer politischen und gesellschaftlichen Organisation in die Strukturen der Staatspartei. Konfliktfähige Gruppen wie Gewerkschaften, Berufsverbände und das Militär, die sich in anderen afrikanischen Staaten zu gefährlichen Opponenten des Regimes entwickelten, wurden in Tansania nach der Unabhängigkeit aufgelöst, umstrukturiert und als Massenorganisationen in die Staatspartei integriert. Dies gestattete eine begrenzte Teilnahme an den Prozessen der politischen Meinungs- und Entscheidungsfindung sowie die Teilhabe an staatlichen Leistungen und Privilegien. Der landesweit bis auf Dorfebene präsenten Partei erlaubte dies die Kenntnis und Kontrolle politischer Stimmungen in der Gesellschaft. Die alle Bereiche politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Organisation durchdringende und kontrollierende Stellung der Staatspartei TANU, ab 1977 umbenannt in CCM, leistete damit einen wichtigen integrativen Beitrag zur friedlich-stabilen Entwicklung Tansanias.
Dennoch muss ihre Wirkung kritisch betrachtet werden. Auf der Sollseite stehen ein nur eingeschränkt partizipativer und antipluralistischer Charakter, Menschenrechtsverletzungen und eine schlechte Entwicklungsbilanz. Ferner verhinderte die starke Stellung der Partei und ihrer Organisationen die Herausbildung einer lebendigen, artikulationsfähigen Zivilgesellschaft. Die zunehmende bürokratische Verkrustung entwickelte sich zum wesentlichen Entwicklungshemmnis und in der Staatsklasse gediehen Korruption und Klientelismus. Zwar waren Menschenrechtsverletzungen seltener und weniger gewalttätig als in anderen autoritären Regimen Afrikas, doch wurden Kritiker des Systems - soweit nicht kooptierbar - nicht nur aus Partei und Beruf gedrängt, sondern mussten darüber hinaus mit Verfolgung und Inhaftierung rechnen. Ein auffallendes Maß an gegenseitigem Misstrauen und Furcht vor Spitzeln unterminiert bis heute die Herausbildung einer aktiven Gegenmacht zur ehemaligen Staatspartei. Die von der Partei und ihren Massenorganisationen dargestellte Einigkeit beruhte nicht nur auf Konsens, sondern auch auf Verfolgung und Ausschaltung oder Kooptation jeglichen Widerspruchs.
Trotz dieser Kehrseite steht der Erfolg des tansanischen Weges bei der Kanalisierung und friedlichen Kontrolle von gesellschaftlichen Konflikten - bei aller berechtigten Kritik - außer Frage. Die gewalttätige Austragung von Konflikten konnte durch die Einbindung verschiedener Interessen in den Rahmen der Partei - und somit des Staates - verhindert und eine an Konsensfindung orientierte politische Kultur etabliert werden. Diese Einbindungsfähigkeit ist die zweite Säule der Stabilität. Zwar gab und gibt es unterschiedliche Strömungen in der CCM, doch konnten Eskalationen wie in anderen afrikanischen Staaten vermieden werden. Offensichtlich war es gelungen, die Staatspartei als eine - wenn auch dringend reformbedürftige - Anwältin der Bedürfnisse der Bevölkerung zu legitimieren. Der Zuspruch der Bevölkerung Tansanias zum Einparteisystem lag 1991/92 bei den Umfragen der Nyalali-Kommission über die Einführung eines Mehrparteiensystems bei 80 Prozent. Die Mehrheit sprach sich zwar für größere Partizipationsmöglichkeiten aus, nicht aber für eine grundsätzliche Korrektur der politischen Grundlinie.
Die hohe Akzeptanz des Einparteisystems liegt auch in den Partizipationsmöglichkeiten durch die Wahlen begründet, die seit der Unabhängigkeit alle fünf Jahre stattfanden. In allen Wahlkreisen konnte die Bevölkerung zwischen zwei Kandidaten der Staatspartei für das Unionsparlament wählen, und nicht selten wurden Mandatsträger nicht bestätigt. Diese Wahlen hatten nicht nur eine wichtige Ventilfunktion, wo Enttäuschung gezeigt werden konnte, sondern sie trugen auch dazu bei, politisches Versagen individuellen Parlamentarier und nicht dem Staat und seiner nationalen Führung anzulasten.
Die dritte Säule der politischen Stabilität Tansanias ist bemerkenswerterweise die Armut der Bevölkerung. Tansania ist eine überwiegend agrarische, ländliche und arme Gesellschaft. Die Folge ist ein schon in kolonialer Zeit vergleichsweise geringer Grad an gesellschaftlicher Differenzierung und die schwache Stellung der zivilgesellschaftlichen Interessenorganisationen. Das 1967 eingeführte System des ökonomischen Dirigismus erlaubte nur geringe privatwirtschaftliche Tätigkeit und verhinderte die Herausbildung einer Mittelschicht. Starke Interessengruppen, die bereit gewesen wären, für die Durchsetzung ihrer Ziele Konflikte mit anderen Gruppen oder dem Staat zu riskieren, sind in einer solchen Situation nicht entstanden.
Dort, wo Interessen bis hin zu tödlichen Konflikten aufeinander trafen, handelte es sich zumeist um Auseinandersetzungen zwischen Hirten und Ackerbauern. Dass daraus keine Flächenbrände entstanden (vgl. "der überblick" Nr. 4/200), lag daran, dass funktionierende Instrumente und Mechanismen der Konfliktbearbeitung entwickelt und eingesetzt wurden. Regierung und Staatspartei, aber auch lokale Akteure waren bemüht, Lösungen zur Bewältigung der Probleme zu finden. Zudem verbot es die anti-tribalistische politische Kultur des Landes, politisches Kapital aus dem Anheizen von Konflikten zu schlagen.
Die Armut Tansanias hat noch in einer weiteren Hinsicht Auswirkungen auf die politische Stabilität des Landes. Zwar besitzt das Land beeindruckende Vorkommen an Bodenschätzen, doch wurden die Minen von ineffizienten Staatsfirmen ruiniert, sodass sie keinen großen Anreiz für unternehmerisches Abenteuertum darstellten. Der mögliche Gewinn einer gewaltsamen Aneignung und Ausbeutung einer Mine wäre aufgrund der notwendigen Investitionen zu gering gewesen - bei gleichzeitig hohem Risiko des Scheiterns durch die absehbare Intervention des Staates.
Doch auch wenn Beispiele wie Angola, DR Kongo, Liberia, Sierra Leone oder Nigeria einen Zusammenhang zwischen politischer Instabilität und Reichtum an natürlichen Ressourcen zu bestätigen scheinen, würde die Annahme einer unmittelbaren Korrelation die erheblich komplexeren Zusammenhänge nicht erklären. Insbesondere der Umkehrschluss kann nicht zwangsläufig Gültigkeit beanspruchen - auch hierfür dient Somalia als Beispiel. Durch Armut allein kann politische Stabilität nicht erreicht werden. In Tansania konnte Armut auch deswegen stabilisierend wirken, weil eine extreme Verelendung vermieden wurde und die Leute ihre Armut leichter akzeptierten, weil auch die politische und ökonomische Führung nicht in Reichtum schwelgte. Die Kosten einer gewaltsamen Veränderung der politischen und ökonomischen Gegebenheiten waren höher als der erzielbare Gewinn. Im Gegenteil war der größtmögliche Nutzen durch die Annahme des staatlichen Integrationsangebotes zu erzielen.
Das alle einbeziehende Klientelsystem von Staat und Partei erlaubte weiten Teilen der Bevölkerung die Teilhabe. So genügten die staatlichen Löhne zwar nicht zum Überleben, doch anders als in vielen afrikanischen Staaten wurden sie immerhin gezahlt. Der tansanische Staat gab die Sicherheit, bei Unterstützung von ihm zu profitieren, bei Abkehr jedoch alles zu verlieren.
Erst Mitte der 1980er Jahre setzte mit der wirtschaftlichen Liberalisierung eine Differenzierung der Gesellschaft ein. Mit der Öffnung der Ökonomie für privatwirtschaftliche Unternehmen wurde auch eine Zunahme der sozialen Gegensätze unübersehbar. Dies führte zu sozialen Spannungen wie zum Ansteigen der Kriminalität und zur Zunahme von teilweise gewalttätig ausgetragenen Konflikten. Hierzu zählen die jüngsten Probleme zwischen ortsansässigen Kleinbetrieben und exportorientierten Großunternehmern im Fischfang am Viktoriasee und in den Goldminen Nordtansanias. In der Konkurrenz um die zunehmend ungleichmäßige Verteilung knapper werdender staatlicher Leistungen wird seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend entlang konfessioneller Linien mobilisiert. Konflikte zwischen Muslimen und Christen, aber auch zwischen Gruppierungen innerhalb der beiden Religionsgemeinschaften haben zugenommen. Neu ist hingegen die Formulierung ethnisch-regionaler Interessen.
Die Grundlagen für die außergewöhnliche innere Friedfertigkeit und politische Stabilität Tansanias wurden durch politische Maßnahmen unter der Präsidentschaft Julius Nyereres gelegt. Der umfassende Umbruchprozess, in dem sich Tansania seit Mitte der 1980er Jahre befindet, hat die Rahmenbedingungen für die politische Stabilität des Landes grundlegend verändert. Dabei handelt es sich um Prozesse, deren gesellschaftliche Folgen erst nach längerer Zeit sichtbar werden.
Dass politische und damit veränderbare Faktoren für die politische Stabilität Tansanias verantwortlich sind, lässt die Frage aufkommen, wie dauerhaft diese Faktoren sind. Trotz einer ernst zu nehmenden Zunahme von Problemen konnte Tansania bisher seine politische Stabilität und innere Friedfertigkeit bewahren. Ob die durch den umfassenden politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel bedingten Umbruchprozesse langfristig zu einer Erosion der Stabilität führen werden, ist davon abhängig, ob die bestehende politische Kultur der Friedfertigkeit durch die Anpassung ihrer tragenden Institutionen und Werte an die sich verändernde Rahmenbedingungen erhalten bleiben kann.
aus: der überblick 02/2002, Seite 9
AUTOR(EN):
Kurt Hirschler:
Kurt Hirschler ist Politikwissenschaftler und arbeitet am Sonderforschungsbereich "Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung" der Universität Hamburg. Dort beschäftigt er sich mit Konsolidierungschancen des Staates in Tansania.