Religiöses Denken und politische Praxis in Afrika
Für die meisten Menschen in Afrika ist Religion keine Privatsache, sondern Teil aller Lebensbereiche. Auch die von den Kolonialmächten geschaffenen säkularen Staaten und Institutionen konnten diese Überzeugung nicht verdrängen. In den jüngsten Jahren kehrt die Religion verstärkt in die afrikanische Öffentlichkeit zurück. Sie beeinflusst die Politik, und Kirchen übernehmen Aufgaben des Staates. Dieser Trend macht deutlich, dass Religion in Afrika vielfach dazu dient, Ordnung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen aufrechtzuerhalten.
von Stephen Ellis und Gerrie ter Haar
Religion ist wieder eine politische Kraft. Vollkommen unerwartet ist der Glaube zu einer Größe geworden, die weltweit in politischen Diskussionen Inhalte bestimmen kann. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der politische Islam. Seine militanten Kämpfer nutzen die Macht der modernen Kommunikationsmedien effektiv. Über ihren Einfluss wird im Fernsehen und in den Printmedien endlos diskutiert. Die Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit ist aber keineswegs nur ein Überbleibsel alter Traditionen, noch hat sie mit einer Verweigerungshaltung gegenüber der Moderne zu tun, wie das Beispiel der USA nur allzu deutlich zeigt. Selbst der islamische Radikalismus ist bei näherer Betrachtung im Grunde eine Form der Anpassung an das moderne Leben und die Verwestlichung.
Das neue Zusammenspiel von Religion und Politik ist weit verbreitet. Und zwar schon so weit, dass Europa, wo immer weniger Menschen religiös sind und noch weniger ihre Religion aktiv ausüben, eine Ausnahme zu sein scheint. In dieser Hinsicht sind es die Europäer, die aus dem Tritt geraten sind mit dem größten Teil der Menschheitsfamilie.
Um die politische Bedeutung von Religion zu verstehen ist es unerlässlich, nicht einfach nur religiöse Institutionen zu untersuchen. Vielmehr sollte ein ganz besonderes Augenmerk auf den spezifischen Hintergrund religiösen Denkens oder religiöser Ideologie gerichtet werden.
Im Falle des afrikanischen Kontinents scheint dies auf den ersten Blick eine unmögliche Aufgabe zu sein, denn er beherbergt eine Fülle verschiedener Religionen. Den Islam und das Christentum gibt es in Teilen Afrikas schon seit tausend Jahren oder länger, und die Zahl der Anhänger der beiden Glaubensrichtungen hat in den letzten Jahrzehnten sehr schnell zugenommen. Dabei ist eine verwirrende Fülle christlicher Kirchen und unterschiedlicher Schulen des Islam entstanden. Daneben haben tausende ethnischer Gruppen ihre eigenen Religionen, die Teil ihrer kulturellen Tradition sind.
Bei all dieser Vielfalt ist es allerdings auch bemerkenswert, wie viele Gemeinsamkeiten die in Afrika vorkommenden Glaubensrichtungen haben. Ein Beispiel ist die tiefe Bindung an mündliche Überlieferungen. Viele Gedanken und Vorstellungen einschließlich religiöser werden diskutiert und dann eher mündlich als schriftlich weitergegeben. Die Bibel und der Koran sind schriftliche Texte, die von afrikanischen Christen beziehungsweise Muslimen geachtet und verehrt werden. Aber etliche der auf diese Schriften bezogenen oder durch sie inspirierten Gedanken werden in Gesprächen, in oraler Tradition, weitervermittelt.
Ein weiteres verbindendes Element afrikanischer Religionen ist die zentrale Bedeutung von Spiritualität. Sie zeigt sich in bestimmten Beziehungen von Mensch zu Mensch oder von den Menschen zu ihrer Umwelt. Diese Beziehung wird oft als Kontaktaufnahme mit Geistern, etwa den Geistern der Ahnen, betrachtet. Die Wirklichkeit besteht für viele Afrikanerinnen und Afrikaner nicht nur aus dem, was in der materiellen Welt wahrgenommen wird, sondern sie schließt auch Erfahrungen aus einer unsichtbaren Dimension mit ein.
Die Vorstellung, dass ein Teil der von Menschen erlebten Welt nicht sichtbar ist, ist nicht so sonderbar, wie es klingen mag. Selbst europäische Atheisten glauben daran, dass zur Realität unsichtbare Kräfte und Dinge gehören, wie zum Beispiel Schulden, Kapital und soziale Strukturen. Um nur den Fall des Kapitals herauszugreifen: Es ist unsichtbar, sichtbar wird es erst, wenn es eine bestimmte Form annimmt, am offensichtlichsten die des Geldes. Geld das wir sehen und fühlen können und Kapital das wir uns nur vorstellen können sind aber nicht dasselbe. Aus dieser Perspektive ist also der Glaube an die Existenz unsichtbarer Mächte oder Wesen nichts Ungewöhnliches. Entscheidend sind die Merkmale, die Menschen mit diesen Dingen verbinden und die Wege, die sie entwickeln, um mit solchen Phänomenen in Verbindung zu treten. Sie können beispielsweise versuchen, Kapitalbeziehungen zu ihren Gunsten zu manipulieren oder einen Geist der Ahnen wohlgesonnen zu stimmen. Durch solche Vorstellungen prägen und formen Menschen die Welt, in der sie leben.
Beispiele religiöser Anschauungen und Ausübungsformen aus ganz Afrika lassen darauf schließen, dass Religion, zumindest dort, im allgemeinen einen Glauben an die Existenz einer unsichtbaren Welt bezeichnet. Diese unsichtbare Sphäre unterscheidet sich von der sichtbaren, ist aber doch nicht von ihr getrennt. Sie ist die Heimat spiritueller Wesen, die wirksame Macht über die materielle Welt ausüben. Im Mittelpunkt dieses Konzepts von Religion steht die Vorstellung, dass eine aktive Kommunikation zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Welten möglich ist. Überall in Afrika gibt es Methoden, um mit der Geisterwelt zu kommunizieren, wie Geistbesessenheit oder Trance. Bei dem Kontakt mit der nicht sichtbaren Welt geht es darum, das materielle Leben zu sichern. Selbst noch so esoterische religiöse Praktiken dienen diesem Zweck.
Es ist augenscheinlich, dass sich die religiösen Vorstellungen von Afrikanern und Europäern ziemlich unterscheiden. Für Gläubige im Westen ist Religion ein System, das menschlicher Existenz Sinn verleiht. Aus analytischer Sicht ist es logisch, Praktiken, die manchmal als Zauberei oder als Aberglauben bezeichnet werden, der Religion zuzuordnen. Man darf aber der Religion keinen moralischen Wert beimessen, wenn es um heutige Religion und Politik in Afrika geht. Es gibt nämlich Anhaltspunkte dafür, dass viele Menschen dort wie auch in anderen Teilen der Welt in der Religion selbst weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes sehen: Ob sie gut oder schlecht ist, hängt davon ab, wie und wofür sie eingesetzt wird. Die »Widerstandsarmee des Herrn« (The Lord's Resistance Army) etwa jene skrupellosen Mörder, die den Norden Ugandas terrorisieren übt auch Religion aus. Aber niemand nimmt an, dass sie dem Gemeinwohl dient.
Afrikanische Politiker messen üblicherweise der Geisterwelt große Bedeutung als Quelle der Kraft bei. Viele Staatsoberhäupter etwa pflegen Beziehungen zu Wahrsagern und Medizinmännern, um ihre Macht zu steigern. Dies besagt aber nicht, dass diese Politiker naiv oder weltfremd wären oder nichts von den materiellen Aspekten von Macht verstünden. Gerade die Existenz eines weitverbreiteten Glaubens an die Geisterwelt macht aus dieser ein politisches Instrument. Tatsächlich benutzen viele Afrikaner die Welt der Geistwesen als eine besondere Sprache, um ihre Unzufriedenheit mit schlechter Regierungsarbeit auszudrücken. So gibt es in allen Teilen des Kontinents Beispiele dafür, dass religiöse Bewegungen von Politikern als Bedrohung empfunden werden. Auch Mitglieder politischer Bewegungen und sogar Guerillakämpfer wie die erwähnten Rebellen in Norduganda, setzen spirituelle Methoden ein, um wirkungsvoller zu kämpfen. So zum Beispiel all die Kämpfer, die glauben, bestimmte Amulette könnten sie vor Gewehrkugeln schützen.
Aufgrund ihrer eigenen besonderen Geschichte fällt es Europäern oft schwer, Verständnis für die sich verändernde Rolle der Religion im afrikanischen Leben und zweifellos in weiten Teilen der postkolonialen Welt aufzubringen. Im 16. und 17. Jahrhundert richteten die konkurrierenden Ansprüche zwischen Politik und Religion in Europa einen verheerenden Schaden an. Zwei Jahrhunderte lang war das öffentliche Leben von der verzweifelten Suche nach einer Lösung dieses Konflikts gekennzeichnet. Nach und nach fanden die Europäer mittels der institutionellen Trennung von Kirche und Staat eine Antwort auf das Problem. Im Großen und Ganzen hat diese Säkularisierung Europa vor einer Wiederholung der Religionskriege bewahrt. Eine Konsequenz für die Stellung von Religion in der europäischen Gesellschaft war, dass sie auf einen ganz bestimmten Platz im Leben verbannt wurde: Religion wurde weitgehend zu einer privaten Angelegenheit. Diese gedankliche Trennung war so wirkungsvoll, dass die Europäer sich heute kaum noch ein anderes Verhältnis von Religion und Staat vorstellen können.
Im Einklang mit der vorherrschenden Sichtweise, nach der Menschen von säkularen Staaten regiert werden sollten, exportierten die Europäer ihre Konzepte und die damit verbundenen Institutionen nach Afrika. Eine der wichtigsten Auswirkungen der Kolonialregierungen war es, auf nationaler Ebene, wo es vorher nichts Vergleichbares gegeben hatte, säkulare bürokratische Regierungssysteme einzurichten. Die Kolonialherrschaft war ein Versuch, Afrika durch die modernen bürokratischen Organe eines säkularen Staates eine Regierungsform aufzuzwingen, deren Kernfunktion darin bestand, ein Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. Dieses wurde den bestehenden einheimischen Ordnungsstrukturen aufgedrängt, in denen die Religion immer eine entscheidende Rolle gespielt hatte.
Europas historische Erfahrungen stehen zudem in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufklärung und dem nachfolgenden Verständnis von der Welt. Wie wir wissen, waren diese intellektuellen Erklärungsmodelle in den Naturwissenschaften außerordentlich erfolgreich. In den Sozialwissenschaften arbeiteten die westlichen Denker bald mit Intellektuellen aus anderen Kontinenten zusammen. Es entstanden akademische Disziplinen, die sich in einer Art weltweitem Netzwerk mit sozialen Phänomenen wie Religion beschäftigen und ihnen eine besondere Rolle innerhalb von Gesellschaften zuschrieben.
Als die Intellektuellen und Beamten der Kolonialmächte ihre Arbeit in Afrika begannen, schlossen sich ihnen sehr schnell jene Afrikaner an, die von ihnen in moderner Denkweise und bürokratischem Handeln unterwiesen worden waren. Die Europäer übertrugen ihre säkularen Vorstellungen auf einen Kontinent, auf dem mittels Religion verankerte Ordnungsstrukturen eine lange Vorgeschichte hatten. Die Kolonialherrschaft war darauf angelegt, mit vielen Aspekten dieser Geschichte zu brechen.
Wenn wir beobachten, wie heute religiöse Bewegungen in Afrika in der Öffentlichkeit auftreten und handeln, dann werden wir Zeugen eines Phänomens mit einer langen und interessanten Geschichte. Denn Religion ist dort immer sehr eng mit gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen verknüpft gewesen, ungeachtet kolonialer und früher nationalistischer Versuche, afrikanische Staaten durch säkulare Institutionen nach europäischem Modell zu regieren.
Gerade die einst von Kolonialherren gegründeten und dann unabhängig gewordenen Nationalstaaten sind heute in Schwierigkeiten. Viele dieser Länder werden als so genannte failed states, das heißt gescheiterte Staaten, eingestuft. Zwar haben die kolonialen Machthaber Afrika im allgemeinen vor rund vierzig oder mehr Jahren verlassen, aber ihre Arbeit wurde von einheimischen nationalistischen Verwaltern und Politikern fortgesetzt.
All die afrikanischen Nationen mit akuten Krisen sind jedoch weniger gescheiterte als vielmehr bereits zusammengebrochene Staaten. Die Ordnung wird zwar aufrechterhalten, allerdings nicht durch die ideale Form einer effizienten und staatlich zentrierten Verwaltung.
Weil aber eine solche Bürokratie fehlt, sorgt zunehmend die Religion dafür, dass das gesellschaftliche Leben geordnet verläuft. Dazu zählt der Trend zur Anwendung der Scharia in einigen muslimischen Ländern oder Regionen. Auch das Wiederaufleben traditioneller Initiationsgesellschaften, vor allem in Westafrika, und das Aufblühen christlicher charismatischer Bewegungen dienen diesem Zweck. Die Hinwendung zu religiösen Netzwerken und Praktiken, die sich auf das geordnete Zusammenleben auswirken, zeigt deutlich, dass viele Bereiche, die eigentlich Sache der Regierung sind, informell geordnet werden. Dabei handelt es sich um Bereiche, die nach internationalen Standards von den Regierungen organisiert werden sollten. Inzwischen ist es üblich geworden, von informellen Volkswirtschaften und informellen politischen Systemen manchmal auch »Schattenstaaten« genannt zu sprechen. Politik wird zu einer Art Religion, wenn Menschen politische Fragen in einer spirituellen Sprache erörtern. Flugblätter und Videos, die auf afrikanischen Märkten verkauft werden, beschäftigen sich oft mit dem Problem »des Bösen« in Familie und im sozialen und öffentlichen Leben. Auf diese ganz eigene Weise erörtern diese Veröffentlichungen Probleme der Regierung und Ordnung auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Die Demokratisierungsbewegung der 1990er Jahre hat erheblich dazu beigetragen, Religion im öffentlichen Bereich zu verankern. Sie ging einher mit dem Verlust einiger Ideologien, die zuvor vorherrschten, und schuf Raum für religiöse Doktrinen, die politischen Zwecken dienten. Insgesamt trugen die abrupten und radikalen politischen Veränderungen in den 1990er Jahren in Afrika dazu bei, dass spirituelle Bewegungen in den politischen Bereich eindringen konnten. Die Menschen suchten nämlich nach alternativen Autoritäten. Gleichzeitig fühlten sie sich aber auch befreit von den institutionellen Zwängen, die ihnen zuvor von Einparteienregierungen auferlegt worden waren.
Viele Formen dieser Wiederbelebung von Religion stellen die Legitimitätsgrundlage der Staaten in Frage, die durch Institutionen und Normen aus der Kolonialzeit geprägt sind. Diese aus der kolonialen Ära übernommenen Institutionen werden von vielen nicht richtig anerkannt. Und zwar nicht nur, weil sie immer ineffektiver arbeiten, sondern auch deshalb, weil viele Afrikaner in ihnen wenig oder gar keine spirituelle Grundlage erkennen können.
Nichts des bisher Gesagten bedeutet, dass Afrika sich wieder der Vergangenheit zuwendet. Vielmehr sollten die aktuellen religiösen Erweckungsbewegungen als Umgestaltung spiritueller Mittel gesehen werden, mit denen das Leben in der Gegenwart gemeistert werden kann. Das Wiederaufleben von Religiosität ist gekennzeichnet durch eine Neuordnung von Religion und Politik, wobei ältere indigene Traditionen mit einfließen. Aus diesem Grund ist es für Afrika unbedingt notwendig, religiöse Ideologien in Verbindung mit politischer Praxis zu betrachten.
Wo bürokratische Regierungsform in einem säkularen Staat als Garant für Wohlstand und Wohlstand allein als Entwicklung gilt, sind immer weniger Menschen von diesem Ideal fasziniert. Für sie bietet Religion alternative Organisationsformen und Weltanschauungen, die oft global ausgerichtet und gleichzeitig in lokalen Traditionen verwurzelt sind.
Literatur
Stephen Ellis und Gerrie ter Haar: Worlds of Power: Religious Thought and Political Practice in Africa, C. Hurst & Co., London, 2004.
aus: der überblick 01/2005, Seite 45
AUTOR(EN):
Stephen Ellis:
Stephen Ellis forscht am Afrika-Studienzentrum in Leiden, Niederlande. Bis Oktober 2004 war er Direktor des Afrika-Programms der »International Crisis Group«.
Gerrie ter Haar:
Gerrie ter Haar ist Professorin für Religion, Menschenrechte und Sozialen Wandel am Institut für »Social Studies« in Den Haag, Niederlande. Sie hat sich auf afrikanische Religionen und die afrikanische Diaspora spezialisiert.