Reintegration von Kindersoldaten in Sierra Leone
Sie trauten sich nicht zurück in ihre Dörfer. Wenn ihre Familien überhaupt noch lebten. Monate- oder sogar jahrelang hatten sie mit den Rebellen der Revolutionary United Forces (RUF), den regierungsfreundlichen Kamajors oder in der regulären Armee gekämpft. Vor allem die RUF war berüchtigt dafür, ihren Opfern, Männern, Frauen und Kindern, die Gliedmaßen abzuhacken, wenn sie sie nicht direkt töteten. Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, manche jünger als zehn Jahre, war nicht freiwillig zu den furchtbare Gräueltaten verübenden Kampftruppen gelangt, sondern bei Überfällen auf die Dörfer zwangsrekrutiert worden. Kinder galten unter den Rebellen als Kämpfer besonders begehrt, kommen sie doch mit weniger Nahrung aus, sind unter Drogen leicht manipulierbar und ihren Kommandeuren, die quasi als Elternersatz fungieren, treu ergeben.
von Frauke Manninga
Der Bürgerkrieg in Sierra Leone dauerte elf Jahre. Das Friedensabkommen von Lomé im Jahr 1999 hatte Anlass zur Hoffnung auf ein Ende des Krieges gegeben. Wiederkehrende Gewalt machte diese jedoch zunichte und erst im Februar 2002 wurde der Krieg von Präsident Kabbah offiziell für beendet erklärt. Das Friedensabkommen war jedoch das erste seiner Art, in dem die Existenz von Kindersoldaten anerkannt und ihre Schutzbedürftigkeit festgestellte wurde. Regierung und internationale Gemeinschaft wurden in dem Vertrag aufgefordert, den Kindersoldaten im Rahmen des Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprozesses (DDR-Prozess) besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das Programm sollte durch die Regierung in Sierra Leone durchgeführt und von den United Nations Mission for Sierra Leone (UNAMSIL) überwacht werden.
Wie viele Kindersoldaten an dem Bürgerkrieg in Sierra Leone teilgenommen haben, weiß niemand so genau. Die Vereinten Nationen (UN) schätzen ihre Zahl auf über 10.000, von denen 6845 bis zum Abschluss des offiziellen DDR-Programms im Jahr 2003 demobilisiert wurden. Am Anfang stand die Entwaffnung der Kindersoldaten und ihre offizielle Entlassung aus der Truppe. Als Gegenleistung wurden sie in spezielle Auffanglager aufgenommen, wo sie mit dem Nötigsten versorgt, psychologisch betreut und nach einer Weile wieder mit ihren Familien zusammengebracht werden sollten, sofern diese noch lebten.
Ein Schwerpunkt im Reintegrationsprogramm waren Bildungsangebote. Den Kindern und Jugendlichen, die zum Teil seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen waren, wurden Plätze an Schulen und Universitäten vermittelt oder sie nahmen an berufsbildenden Kursen teil. Auf diese Weise sollte ihnen eine Perspektive für die Zeit nach dem Krieg, eine Zukunft außerhalb der Kriegsökonomie ermöglicht werden.
Das anfangs sehr effiziente und weltweit als vorbildlich eingestufte DDR-Programm in Sierra Leone wies im Rückblick eine Reihe von Mängeln auf. Lediglich 529 Mädchen wurden demobilisiert. Als besonderes Hindernis stellte sich heraus, dass das Programm zunächst nur für ehemalige Kämpfer galt. Nur, wer tatsächlich eine Waffe abgeben konnte, wurde aufgenommen. Dabei fielen all jene darunter viele Mädchen durch das Raster, die zwar nicht direkt an den Kämpfen teilgenommen, aber andere Dienstleistungen für die Truppen erbracht hatten. Viele Kinder waren zum Waffen tragen, Kochen, haushälterischen Tätigkeiten und nicht zuletzt zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen worden. Mädchen wurden einem Kämpfer zur Frau gegeben oder mussten der gesamten Truppe sexuell zu Diensten sein. Viele von ihnen blieben aus Mangel an Alternativen noch lange nach Kriegsende bei ihren Kommandeuren und Zwangsehemännern.
Diese Kinder waren nicht weniger traumatisiert als ihre Gefährten, die direkt an den Kampfhandlungen teilgenommen hatten. Weil sie aber keine Waffe besaßen und somit nicht als Soldaten und Soldatinnen eingestuft wurden, fanden sie im DDR-Programm zunächst keine Beachtung. Erst im Jahr 2003 erkannte das Kinderhilfswerk der UN (UNICEF) das Problem. Heute, zwei Jahre nach dem Ende es offiziellen DDR-Programms, widmen sich außerdem zahlreiche nichtsstaatliche Organisationen (NGOs), wie etwa kirchliche Hilfswerke, nicht nur den ehemaligen Kämpfern, sondern auch diesen Kindern. Sie bieten psychologische und medizinische Versorgung, helfen bei der Reintegration in die Familien und Dörfer, die vielfach Probleme dabei haben, die ehemaligen Rebellen wieder in ihrer Mitte aufzunehmen, und bieten Bildungsprogramme an, oft aber nur für wenige Monate, weil die Programme chronisch unterfinanziert sind.
Für eine Studie der Women's Commission for Refugee Women and Children in Sierra Leone, wurden im Jahr 2003 300 Jugendliche, davon viele ehemalige Kindersoldaten, nach ihren speziellen Bedürfnissen, Problemen und Ängsten gefragt. Dabei stellte sich heraus, dass viele nach Ablauf der Bildungsprogramme in einem befriedeten Sierra Leone für sich keine Zukunft sehen. Die Wirtschaft liegt am Boden. Es gibt nur wenige Jobs für die Jugendlichen. Obwohl demobilisierte Jugendliche von anderen, die nicht aktiv am Krieg teilgenommen haben, um die speziellen Förderungen beneidet werden, bleibt auch ihnen meist nichts anderes übrig, als sich durch illegale Aktivitäten über Wasser zu halten. Die, die nicht in ihre Dörfer und zu ihren Familien zurückkehren konnten, leben vielfach als Straßenkinder in der Hauptstadt Freetown und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Prostitution und Kleinkriminalität. Auch Drogenabhängigkeit, entstanden durch die Zwangsverabreichung von Drogen in den Truppen, ist sehr verbreitet.
Diese Perspektivlosen können leicht von bewaffnete Gruppen remobilisiert werden. So haben ehemalige Kindersoldaten aus Sierra Leone in Liberia und der Côte d'Ivoire gekämpft. Eine ehemalige Kindersoldatin stellt resigniert fest: "Wenn ich vorher gewusst hätte, wie das Leben jetzt aussieht, wäre ich im Busch geblieben."
aus: der überblick 03/2006, Seite 21
AUTOR(EN):
Frauke Manninga
Frauke Manninga ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet zurzeit als Hospitantin beim "überblick".