Somaliland hofft, mit Hilfe von Wahlen als souveräner Staat anerkannt zu werden
Zum ersten Mal finden in der abtrünnigen Republik Somaliland im Nordwesten Somalias allgemeine Wahlen statt. Abseits der Weltöffentlichkeit und ohne nennenswerte bilaterale Hilfe reformiert Somaliland sein bis dato tribalistisches politisches System. Die Stärkung demokratischer Strukturen gilt als Grundlage für den Aufbau eines Staates, der diesen Namen verdient. Der Wandel inmitten regionaler Instabilität und ökonomischer Ungewissheit zeugt von politischer Reife.
von Klaus Ammann und Tobias Hagmann
Afrikabesucher werden von ihren westlichen Außenministerien oft gewarnt: "Meiden Sie öffentliche Kundgebungen". In Somalilands Hauptstadt Hargeysa kann die wohlgemeinte Mahnung an diesem Dezembertag kurz vor den Lokalwahlen getrost in den Wind geschlagen werden. Einige Tausend Somalierinnen und Somalier haben sich im Stadtzentrum für einen Auftritt des Präsidenten Dahir Rayale Kahin versammelt. Begleitet von einer Eskorte trifft dieser ein, schwingt sich auf die Rednertribüne, wirbt für seine Partei, die Vereinte Demokratische Volkspartei (UDUB) und beschwört den "nationalen Zusammenhalt". Eine alltägliche Szene in einem afrikanischen Land, würde es sich dabei nicht um einen Staat handeln, den es offiziell nicht gibt und der zudem Teil der notorischen Krisenregion Horn von Afrika ist.
Somaliland befindet sich dieses Jahr fast permanent im Wahlfieber. Nach den Kommunalwahlen vom Dezember 2002 wird im März 2003 der Präsident erkoren, und im Juni wählen die Somaliländer ihre Parlamentsvertreter. Somaliland unternimmt damit einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem richtigen Staat. Seit die Briten das ehemalige Protektorat Somaliland 1960 in die Unabhängigkeit entließen, sind Hargeysas Beziehungen zu Restsomalia distanziert. Der Zusammenschluss mit der einstigen Kolonie Somalia italiana zur heute de facto nicht mehr existierenden Demokratischen Republik Somalia entsprach der Forderung nach der Vereinigung aller von Somaliern bewohnten Gebiete im Horn von Afrika. Aber die zunehmende Marginalisierung der im Norden ansässigen Isaaq-Clans durch den seit 1969 herrschenden Diktator Siad Barre führte Anfang der achtziger Jahre zur Gründung der Unabhängigkeitsbewegung Somali National Movement (SNM). Diese lancierte den bewaffneten Kampf gegen die somalischen Regierungstruppen. Wenige Monate nach dem Sturz Barres - während die politische Desintegration Somalias ihren Lauf nahm - proklamierte die SNM im Mai 1991 Somaliland als unabhängige Republik. Die erste Regierung unter Abdirahman Ahmed Ali "Tuur" ging aus der damaligen SNM-Führerschaft hervor. Doch auch Somaliland wurde anfänglich nicht vom Bürgerkrieg verschont. Die Ausweitung des staatlichen Gewaltmonopols und die Kontrolle wichtiger Einnahmequellen führten bis Mitte der neunziger Jahre zu Kämpfen zwischen rivalisierenden Subclans der Isaaq.
Nur der Wiederbelebung traditioneller Mechanismen zur Konfliktregulierung ist es zu verdanken, dass die Republik dem Schicksal Restsomalias entging. Historisch verankerte Institutionen wie der Guurti, der auf Konsens basierende Rat der Clanältesten, und die aktive Vermittlung durch prominente Vertreter aus der Diaspora ermöglichten einen friedlichen Interessenausgleich zwischen und innerhalb der verschiedenen Clanfamilien. 1993 versammelte eine nationale Friedenskonferenz in Borama 500 Älteste, religiöse Führer, Politiker, Geschäftsleute und Intellektuelle. Die Teilnehmer einigten sich auf eine nationale Charta, die den Grundstein für Somalilands institutionellen Wandel legte. Gleichzeitig wurde Mohamed Ibrahim Egal zum Präsidenten Somalilands ernannt. Im Mai 2001 sprach sich eine überwältigende Mehrheit der Somaliländer an der Urne für eine neue Verfassung aus. Ein Jahr später starb Präsident Egal und der bisherige Vizepräsident Dahir Rayale Kahin trat an die Spitze der Regierung.
Die Hoffnungen auf reibungslose Lokalwahlen, an denen erstmals auch Frauen teilnahmen, sind im Dezember 2002 im großen und ganzen in Erfüllung gegangen. Einzig die Registrierung der Wahlberechtigten gab auf Grund mangelnder Infrastruktur und der Tatsache, dass nach wie vor die Hälfte der etwa 3,5 Millionen zählenden Bevölkerung Nomaden sind, Probleme auf. Präsident Rayales UDUB gewann die politischen Wahlen unbestritten mit 40,6 Prozent aller Stimmen. Fünf Oppositionsparteien teilen sich die restlichen Mandate. Mit 18,9 Prozent qualifizierten sich die Partei Kulmiye (Zusammenkunft) und die Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei Somaliland UCID mit 11,2 Prozent Wähleranteil als Parteien mit nationaler Verankerung für die kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Vor dem Hintergrund der fatalen Zersplitterung der Parteienlandschaft bei den letzten Wahlen von 1969, als über 60 Parteien teilnahmen, sollen diesmal nur drei Parteien um die nationalen Posten kämpfen. Programmatisch bestehen kaum Unterschiede zwischen ihnen. Die Persönlichkeit der jeweiligen Parteivorsitzenden sei viel wichtiger als inhaltliche Differenzen, gibt Mohamoud Garaad, Mitglied der nationalen Wahlkommission, unumwunden zu. Die Clan-Logik spielt weiterhin eine Rolle, doch sind die Parteien zumindest formell aus Mitgliedern aller maßgebenden Clans zusammengesetzt.
Die 21 Ministerien der Regierung sind in bescheidenen Häusern im Zentrum von Hargeysa untergebracht. Somaliland ist ein unfreiwilliger Nachtwächterstaat: Denn als nicht anerkanntes Land erhält es praktisch keine Zuwendungen von internationalen Gebern. Die rund 30.000 Staatsangestellten, davon zwei Drittel Polizei- und Armeeangehörige, werden primär aus Zoll- und Steuereinnahmen bezahlt. Geschätzte 30 Millionen US-Dollar kommen so jährlich zusammen, zu wenig um die großen Unzulänglichkeiten im Bildungs- oder Gesundheitsbereich wettzumachen. Initiativen wie die Amoud-Universität, die seit vier Jahren in einer ehemaligen Sekundarschule in Borama Studenten ausbildet, werden von der Diaspora finanziert. Ein großer Teil der Bevölkerung kann sich nur dank dieser Rücküberweisungen von Verwandten aus Übersee über Wasser halten (vgl. der überblick 3/2002). Daneben bleibt die Viehzucht die Lebensgrundlage Somalilands. Zusammen mit den Zuwendungen aus der Diaspora fließen so rund 400 bis 500 Millionen US-Dollar pro Jahr in den Nordwesten Somalias.
Seit 1998 haben jedoch die wichtigsten Importländer die Einfuhr von Ziegen und Schafen aus Somaliland wegen des Verdachts auf Rift-Valley-Fieber mit einem Bann belegt. Unabhängige veterinärmedizinische Untersuchungen bezweifeln diesen Befund, doch insbesondere der Großimporteur Saudiarabien hält weiterhin am Importverbot fest.
Neben der zu geringen Auslastung des Hafens von Berbera, zurückgegangenen Einnahmen aus Ausfuhrzöllen und eines Viehüberschusses hat der Bann auch regionale Auswirkungen. Peter D. Little von der Universität Kentucky schätzt, dass der grenzüberschreitende Handel zwischen Somaliland und dem Osten Äthiopiens Ende der neunziger Jahre um ein Drittel zurückgefallen ist. Entlang der historischen Handelsroute, die das äthiopische Harar mit dem Indischen Ozean verbindet, wird heute vor allem Vieh, Mais, Sorghum und Holzkohle von Äthiopien nach Somaliland verschoben. Umgekehrt gelangen Weizen, Teigwaren, Zucker und Reis von Somaliland nach Äthiopien, wobei die schwachen Grenzkontrollen den lukrativen Schmuggel begünstigen.
Weiterhin blüht der Handel mit Khat, jener leicht bewusstseinsverändernden Droge, die täglich vom äthiopischen Hochland bis in die hintersten Winkel Somalilands transportiert wird. Die berüchtigten Khat-Laster donnern frühmorgens mit ihrer kostbaren Fracht los, um die grünen Bündel rechtzeitig auf die Märkte zu bringen. Schätzungsweise fünf US-Dollar pro Tag geben Käufer durchschnittlich für Khat aus. Der Konsum dieser Droge ist seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges enorm gestiegen: Bis Mitte des 20. Jahrhunderts primär den islamischen Geistlichen vorbehalten, wird Khan heute von 60 bis 70 Prozent aller erwachsenen Männer täglich konsumiert.
Trotz der derzeit friedlichen Lage birgt die regionale Instabilität beträchtliche Risiken. Während Somalilands Regierung auf internationale Anerkennung besteht, wird das von der in Mogadischu ansässigen Übergangsregierung von Präsident Abdulkassim Salad Hassan vehement zurückgewiesen. Faktisch kontrolliert Abdulkassims Administration zwar nur wenige Teile Mogadischus und Südsomalias. Die im August 2000 aus der Friedenskonferenz von Arta hervorgegangene Interimsregierung (vgl. der überblick 1/2001) sieht sich dennoch als einzig legitime Vertreterin Somalias und wird von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und der Arabischen Liga anerkannt.
Ferner hat Somaliland Grenzstreitigkeiten mit dem östlichen Nachbarn Puntland, das sich 1998 zur "autonomen Republik erklärt hat, aber von der somalischen Interimsregierung nicht anerkannt wird. Die 1998 von Majertines-Clans gegründete Regionalverwaltung Puntlands macht Somaliland die von Angehörigen der Dulbahante und Warsangeli Clans besiedelten Grenzregionen Sool und Sanaag streitig.
Als Somalilands Präsident Rayale im vergangenen Dezember dem Gebiet einen Besuch abstattete, wurden vier seiner Leibwächter in der Stadt Las Anod getötet. Milizen von Puntlands Ex-Präsident Abdullahi Yusuf werden hinter dem Anschlag vermutet. Der ehemalige militärische Führer der Somali Salvation Democratic Front (SSDF) ist seinerseits seit Ende 2001 in einen Machtkampf um die Vorherrschaft Puntlands verwickelt.
Die Regionalmacht Äthiopien ist derzeit Somalilands wichtigster Verbündeter. Diplomatische Vertretungen in den beiden Ländern sowie regelmäßige Anflüge Hargeysas durch die staatliche Ethiopian Airlines zeugen von einer quasi Anerkennung. Neben diesen sichtbaren "zwischenstaatlichen" Beziehungen zu Somaliland unterstützt Addis Abbeba hinter den Kulissen eine ganze Reihe von Kriegsherren des Südens, die die Übergangsregierung in Mogadischu bekämpfen. Die äthiopische Regierung unter Ministerpräsident Meles Zenawi Asres will eine nationale Wiedergeburt Somalias verhindern. Mögliche Ansprüche auf die äthiopische Somali Region und das instabile Ogaden-Gebiet im Osten Äthiopiens sollen langfristig unterbunden werden. Als Binnenland hat Äthiopien zudem ein vitales Interesse am reibungslosen Zugang zum Hochseehafen von Berbera.
Die Beziehungen Hargeysas zum benachbarten Dschibuti sind gespalten. Denn als Gastgeber der Arta Friedenskonferenz war Dschibutis Präsident Ismail Omar Guelleh maßgeblich an der Entstehung der Übergangsregierung in Mogadischu beteiligt. Zudem schwelt ein Grenzstreit zwischen Dschibuti und Somaliland.
Hargeysas Forderung nach Unabhängigkeit wirft grundsätzliche Fragen zum Verhältnis zwischen somalischer Identität, Nation und Staatspersönlichkeit im Kontext des oft debattierten Staatszerfalls auf. Sowohl die nomadische Viehzucht als wichtigste Lebensgrundlage als auch die flexiblen, für den westlichen Beobachter oft undurchsichtigen Clanstrukturen der Somalier, korrespondieren nur begrenzt mit völkerrechtlich sanktionierter Staatlichkeit. Wie das Beispiel Somaliland zeigt, kann der Staatszerfall nur rückgängig gemacht werden, wenn eine mühselige Konsensfindung auf der lokalen Ebene stattfindet.
Die zahlreichen gescheiterten Friedenskonferenzen der neunziger Jahre beweisen eindrücklich, dass der Wiederaufbau legitimer Institutionen weder von außen noch von oben aufgezwungen werden kann. Die internationale Gemeinschaft tut sich jedoch weiterhin schwer mit der Erfolgsgeschichte Somalilands. Ioan M. Lewis, Koryphäe der anthropologischen Somaliaforschung, fordert die Europäische Union denn auch zur Anerkennung Somalilands auf: "Es ist absurd, die Administration in Mogadischu anzuerkennen, da im Süden weder Regierung noch Staat funktionieren".
Ob die Regierung in Hargeysa demnächst tatsächlich international anerkannt wird, wie dies einige Beobachter prognostizieren, gehört zu den Schlüsselfragen von Somalias Zukunft.
Literatur
Anonymous: Government Recognition in Somalia and Regional Political Stability in the Horn of Africa. In: Journal of Modern African Studies, Vol. 40, No. 2, 2002
Ahmed Y. Farah und Ioan M. Lewis: Making Peace in Somaliland. In: Cahiers d'Etudes africaines, Vol. 37, No. 2, 1997
International Crisis Group: Somalia: Countering Terrorism in a Failed State. Nairobi/Brussels, May 2002
David H. Shinn: Somaliland: The Little Country that Could. Africa Notes, Center for Strategic and International Studies, Washington D.C., November 2002
aus: der überblick 01/2003, Seite 78
AUTOR(EN):
Klaus Ammann und Tobias Hagmann:
Klaus Ammann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Forschungsgruppe "Diplomatische Dokumente der Schweiz" und Redaktionsassistent beim "Schweizer Radio DRS" in Bern. Tobias Hagmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei "swisspeace/ Schweizerische Friedensstiftung" und Doktorand beim "Nationalen Forschungsschwerpunkt Nord-Süd" in Bern.