Das Glück der Bibel
»Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind« (Lukas 10,20)
von Johann Hinrich Claussen
Kaum einem Wort begegnet man gegenwärtig so häufig wie dem Begriff »Glück«. Wir leben in einer glückssüchtigen Zeit, wie nicht zuletzt ungezählte Zeitschriften und Bücher belegen. Alles ist auf Glück aus. Nur die Kirche steht unschlüssig daneben. In ihrem Buch der Bücher spielt »Glück« keine prominente Rolle. Es ist schwer, einen biblischen Begriff zu nennen, der sich überzeugend mit »Glück« übersetzen ließe. Überblickt man aber die Schriften des Alten Testaments, so findet sich in der Weisheitsliteratur (wie den Büchern Hiob, Salomon, den Sprüchen und einigen Psalmen) der Vorläuferin der heutigen Ratgeberfibeln eine Fülle von Sprüchen, Traktaten, Geschichten und Versen, die um die Frage nach einem glücklichen Leben kreisen.
Die Weisheit bezieht sich auf das normale Leben. Sie kommt im erzieherischen Gespräch zum Ausdruck. Der einzelne soll über die Voraussetzungen belehrt werden, die ein gutes Leben ermöglichen. Der Kern der alttestamentlichen Weisheit wie auch ihrer altorientalischen Geschwister ist also ein pädagogisch zugerichtetes Glücksversprechen. Es spricht sich am eindrücklichsten in den Versen aus, die dem Weisen das »Wohl« zusprechen. Dieses eröffnet nicht von ungefähr den Psalter. »Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen«, heißt es etwa im Psalm 1,1. Die prägnanteste Ausmalung findet dieses »Wohl« in einer Metapher des Baums: »Der ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht« (Psalm 1,3). Der Weise ist dadurch wohl, dass er beständig ist. Er ist groß und grünt man mag sich zum Vergleich die karge, trockene Landschaft des alten Israels vor Augen halten -, denn er hat den besten Lebensort gefunden: direkt am Wasser. Er trägt Früchte und erfüllt seine natürliche Bestimmung mit nachhaltigem Erfolg.
Was in dieses Glücksbild keinen Eingang gefunden hat, sind Momente der Bewegung, Abwechslung und spontanen Lust. Für die weisheitliche Tradition sind genau diese die Kennzeichen eines nur scheinbaren Glücks. Die Toren und Ungerechten genießen ein schnelles Glück, das keinen Bestand hat. Nur das Glück des Weisen ist von langer Dauer. Es setzt einen jahrelangen Prozess des Wachsens voraus, übersteht Phasen des Unglücks und erfüllt sich in einem weiten Zeitraum ruhigen Fruchtbringens.
Der Gerechte ist der Inbegriff gelingenden Männerlebens. Er vereinigt in sich eine Fülle von Vorzügen: Er arbeitet gern, beherrscht sein Handwerk, steht rechtzeitig auf, ehrt die Eltern, erzieht die Kinder mit harter Hand, weiß sich bei Tisch zu benehmen, kennt seinen Platz in der Gesellschaft, schläft nicht mit fremden Frauen, achtet die eigene tüchtige Ehefrau, hilft Schutzlosen, meidet schlechten Umgang, redet wenig, erweist sich als treuer Freund, gibt gern Almosen, überfordert das eigene Vieh nicht, gibt vor Gericht wahrhaftiges Zeugnis, beginnt keine Streitereien, sucht Frieden, respektiert fremdes Eigentum, fürchtet und vertraut Gott. In all dem zeigt sich seine Weisheit, das Wissen darum, wie man sein Leben am besten führt. Dieses Wissen wollen die Weisheitsschriften vermitteln, allen voran das Buch der Sprüche.
Wichtigstes Unterrichtsmittel ist das Sprichwort, das in seiner apodiktischen Verknappung die gewünschte Eindeutigkeit herstellt und sich zudem gut lernen lässt. Sprichwörter bündeln viele in ähnlichen Situationen gemachte Erfahrungen zu generalisierenden Schlüssen. Die unübersehbare Komplexität des Lebens wird in einfache Sätze gebannt. Die Ordnung des Lebens ergibt sich aus dem »Tun-Ergehen-Zusammenhang«. Dieses Konzept bannt zufällige Ereignisse in ein eindeutiges, ethisch bestimmtes Ursache-Folge-Verhältnis: Böse Taten zeitigen böse Folgen, gute Taten zeitigen gute Folgen. Nur das rechte Tun führt zum dauerhaften und wahren, wenn auch zuweilen verspäteten Glück. Die Sprichwörter üben darum im Gestus des »Du wirst schon sehen« eine langfristige Sicht der Dinge ein. Glück und Unglück manifestieren sich nicht im spontanen Erleben, sondern in den Folgen. Der Tor lebt ganz im Augenblick. Erst die Weisheit zeigt, dass das Leben ein langer Weg ist. Der Weise lebt deshalb sein Leben nicht nur. Er führt es auch, indem er es auf ein gutes Ziel ausrichtet. Er genießt die Gegenwart nicht einfach, sondern sieht in ihr den entscheidenden Schritt in eine gute oder schlechte Zukunft. Wer aber auf seinen Weg achtet, sich einfügt in die ethische Ordnung der Welt, den erwartet das Glück eines wassernahen, fruchtbaren Baums.
Die feste Zuversicht, dass es dem Gerechten »zuletzt gutgehen« wird (Psalm 37,37), wird als Erfahrungswissen eingeführt und ist doch auch ein Glaube. So ist die letzte Wurzel dieser Weisheit die Ehrfurcht vor Gott: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis« (Sprüche 1,7). Denn Gott ist Grund und Garant des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Er ist zu fürchten, denn wer seinen Willen nicht respektiert, hat Schlimmes zu gewärtigen. Da die göttliche Lenkung des Lebens aber keine willkürliche ist, sondern einer nachvollziehbaren, guten Ordnung entspricht, bedingen Vertrauen und Gottesfurcht einander wechselseitig. Dieses Vertrauen ist selbst ein Glück, lässt es einen doch gegen alle zuwiderlaufenden Erfahrungen die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens festhalten.
Es ist leicht, auf diese alttestamentliche Weisheit herabzuschauen. Zu naiv scheint ihr Blick auf die Welt, zu patriarchalisch ihre Lebenslehre. Dennoch bewahrt sie echte Einsichten auf und erfüllt eine notwendige erzieherische Aufgabe, die heute notdürftig und weit ideologielastiger die Ratgeberindustrie übernommen hat. Aber natürlich kann die alte Weisheit nicht vollkommen befriedigen. Auch wenn sie für viele »normale« Lebenssituationen hilfreich sein mag, steht sie doch sprachlos vor Katastrophen, existentiellen Krisen, Lebensabgründen und Glücksabbrüchen. Das hat schon das weisheitliche Buch Hiob gezeigt. In ihm kündigt sich eine Paradoxie des Glücks an, die dann im Neuen Testament zur Vollendung geführt worden ist. Im Bild Jesu verbinden sich untrennbar Momente von tiefstem Unglück und höchstem Glück oder besser gesagt: von reiner Freude. Schon das Weihnachtsevangelium steht unter dem Stern der Freude: »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude« (Lukas 2,10). Nicht zuletzt diese Freude kennzeichnet das Auftreten Jesu. Natürlich ist das, was er zu sagen hat, etwas anderes als ein Aufruf zur Fröhlichkeit. Er ruft zur Buße auf. Aber neben dem Bußruf steht gleichberechtigt der Jubelruf: »Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind« (Lukas 10,20).
Von dieser Freude erzählt Jesus in Gleichnissen, etwa über wundersames Wachstum, wiedergefundene Groschen, Schafe, Söhne und Sünder. Diese Freude nimmt in Jesu Handeln Gestalt an. Jesus tut Wunder, aber es geht ihm nie um das Mirakel selbst. Dieses ist nur der Katalysator für etwas anderes: die Entscheidung zum Glauben. Das eigentliche Wunder ist, dass Arme das Evangelium annehmen. Gleichwohl dürfte es kein Zufall sein, dass es gerade handfeste Beglückungen sind, die als Handlungsmotor der evangelischen Geschichte dienen: die Stillung von Hunger und Schmerz, die Heilung von Krankheit und Wahn, die Vergebung der Sünden und die Vertreibung der Angst, das Ende von Einsamkeit und Verachtung, das Geschenk der Gesundheit an Körper und Seele, das gemeinsame Feiern, die Niederlage des Todes und der Sieg eines neuen Lebens.
Aber merkwürdig, gerade über die Freude, die Jesus anderen bereitet, ärgern sich manche. Sie spüren das Unerhörte und Ungehörige dieser Wunder. Sie sehen, dass diese Freude einen Sprengstoff in sich birgt, der die öffentliche religiös-sittliche Ordnung bedroht. Sie ahnen, dass die Glücksmacht Jesu alles Vertraute aus den Angeln heben wird. In der Tat, die Freude, die Jesus schenkt, ist keine bloße Glücksgabe oder Wunscherfüllung. Es ist eine Freude, in der sich das Leben erfüllt und zugleich verwandelt. Sie bricht das menschliche Leben auf für eine göttliche Wirklichkeit. Das Leben gewinnen, heißt hier immer auch: das Leben verlieren.
Diese Paradoxie prägt aber nicht nur das Handeln Jesu, sondern auch das, was mit ihm geschieht. In seinem Leben durchkreuzen und verschlingen sich zwei Linien, ein Faden der Freude und einer der Trauer. Die letzte Klimax findet dieser Widerspruch in seinem Lebensende: in der paradoxen Einheit von Kreuzestod und Auferstehung. Beides lässt sich nicht einfach miteinander verrechnen, dennoch soll beides gemeinsam ein Gefühl großer Freude freisetzen.
Die christliche Paradoxie von niederdrückenden und erhebenden Affekten ist in einem Text explizit auf den Begriff gebracht worden den Seligpreisungen der Bergpredigt:
»Glückselig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Glückselig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Glückselig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Glückselig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Glückselig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Glückselig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Glückselig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Glückselig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.« (Matthäus 5,3-10)
Hier spricht Jesus den Hauptimpuls seines Glaubens aus und zeichnet zugleich die Grundzüge seiner eigenen Geschichte vor. Sie sind Lehr- und Lebenszeugnis in einem. Er selbst ist ein geistlich Armer und reinen Herzens, der von nichts wissen will außer dem Kommen seines Gottes. In diesem Sinn muss man sich den Jesus des Matthäusevangeliums als einen wahrhaft glücklichen Mann vorstellen. Das Glück, dessen Inbild er selbst ist, soll aber auch denen zuteil werden, die ihm nachfolgen. Jesus wendet sich an alle, die zu ihm gekommen sind: Jünger und zufällig Dazugekommene, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Israeliten und Fremde.
Die Ahnung, dass dieses Reich unmittelbar bevorsteht, jetzt kommt, ja schon »da« ist, eröffnet eine Kontrasterfahrung eigener Art. Indem Jesus einfache Menschen aus Galiläa »glückselig« nennt, greift er auf das »wohl« der weisheitlichen Tradition zurück. Zugleich überführt er es ins Überweltliche. Seine Seligpreisungen übersteigen alles, was selbst auf lange Sicht in dieser Welt denkbar wäre. Das Glück, das hier zugesagt wird, ist schlechterdings überraschend. Als glückselig werden diejenigen gepriesen, die doch als wahre Passionsnachfolger beschrieben werden: Leidtragende, Verfolgte, Macht- und Mittellose. Indem Jesus diejenigen glückselig preist, denen es offenkundig übel ergeht, löst er den vermeintlichen Zusammenhang von Tun und Ergehen auf und setzt an seine Stelle »heilige Paradoxien«, nach denen die Unglücklichen die wahrhaft Glückseligen sind.
Was diese Umwertung auslöst, ist eine Glaubenserfahrung: das Gewahrwerden von Gottes Zugewandtheit und Nähe. Mit der Ahnung, dass sein Reich kommt, ist die Vorstellung verknüpft, dass Gott sich den Menschen wie ein liebevoller Vater zuneigt. Wer dieses Gottesbewusstsein erlangt, für den sind die Begrenzungen seines irdischen Lebens aufgehoben. Die Glückseligkeit einer reinen Gottesgegenwärtigkeit steht quer zu allen Bedürfnisbefriedigungen. Ihr passional-paradoxes Profil muss den abschrecken, der in einem landläufigen Sinn sein »Glück« sucht. Dennoch soll dieses »glückselig« echte Freude freisetzen. Worin besteht sie? Zunächst darin, dass der Gläubige sich allen äußeren Übeln zum Trotz als »heil« betrachten kann. Er versteht sich als Kind Gottes, schaut dessen Angesicht, weiß sich zum Erben eingesetzt und genießt so eine überweltliche Fülle, die innerweltliche Übel nicht beeinträchtigen können. Die Seligpreisungen versprechen keine jenseitige Wiedergutmachung für diesseitige Nöte, bieten keine Vertröstung, sondern Freude schon jetzt. Sie verschränken »diesseits« und »jenseits« so miteinander, dass das Überweltliche Gegenwart wird.
Wie werden die Jünger und die Menschenmenge am Fuß des Berges diese Glückwünsche entgegengenommen haben? Von direkten Reaktionen berichtet Matthäus leider nichts. Nach dem Ende der Bergpredigt jedoch, so notiert er, hätten sich die Leute entsetzt und erschüttert gezeigt (Matthäus 7, 28f) über den Inhalt, der allen hergebrachten Religionslehren, aber auch ihren eigenen Lebensrechnungen widersprach, und über die Macht, mit der hier einer gesprochen hatte, wie sie es zuvor noch nie gehört hatten.
aus: der überblick 01/2005, Seite 91