Akintola (Akin) Fatoyinbo
Akin war ein Kommunikationsgenie. Ob in seiner afrikanischen Heimat, in einer US-Großstadt oder in der deutschen Provinz, ob bei Schulkindern, Arbeitern, Geschäftsleuten oder Politikern - Akin hinterließ einen bleibenden Eindruck.
von Hans Hielscher
Der Bauer von nebenan und mein Gast aus Nigeria hatten sich Ende der achtziger Jahre getroffen. Akin besuchte mich in dem Dorf in Schleswig-Holstein. Als er frühmorgens sah, wie der Nachbar seine Wiese mit einer Sense mähte, ging er zu ihm. Vom Fenster aus beobachtete ich, dass sich Akin den Gebrauch des heute nur noch selten benutzen Geräts vorführen ließ. Dann senste er selbst, weich in den Hüften, erstaunlich elegant. Es dauerte über eine Stunde bis er zurück in unser Haus kam, denn die beiden Männer hatten sich noch angeregt unterhalten - über Agrarpreise, Kunstdünger und landwirtschaftliches Handwerkzeug. "Mit einer Sense kann man besser arbeiten, als mit Macheten oder Sicheln", beschrieb Akin seine gerade gemachte Erfahrung. Irgendwann wollte er Sensen in Nigeria einführen. Sein neuer Bekannter war tief beeindruckt. Fortan erzählte der betagte Landwirt seinen Kollegen von dem Afrikaner, der über so viele Probleme Bescheid wusste und eine Sense schwingen konnte, wie kaum noch jemand in Deutschland.
Die Begegnung auf dem Dorf illustriert Akins herausragende Fähigkeit: Er war ein Kommunikationsgenie. Ob in seiner afrikanischen Heimat, in einer US-Großstadt oder in der deutschen Provinz, ob bei Schulkindern, Arbeitern, Geschäftsleuten oder Politikern - Akin hinterließ einen bleibenden Eindruck. Abgesehen von seinen immensen Sprachkenntnissen - Yoruba, Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch - beeindruckte seine Mischung aus Freundlichkeit und Würde die Menschen. Jedem konnte er teilnahmsvoll zuhören und ernsthafte Ratschläge geben. Doch wenn immer eine witzige Bemerkung fiel, brach Akin in ein mitreißendes Lachen aus. Dabei rutsche seine Stimme um mindestens eine Oktave höher, und er schüttelte seinem Gegenüber nach afrikanischer Art die Hand.
Aber selbst wenn er übermütig lachte, wirkte Akin aristokratisch. Er war groß und schlank, seine früh ergrauten Haare bildeten einen reizvollen Kontrast zu seinem dunklen Gesicht. Dem Anlass und der Umgebung entsprechend kleidete er sich westlich oder afrikanisch, immer elegant, aber niemals schrill. "Ein Gentleman trägt stets geputzte Schuhe", ermahnte er mich einmal. Die Belehrung war wohl nötig. Akins Erscheinung erinnerte ältere Leute an Äthiopiens Kaiser Haile Selassi. Ich wurde öfter gefragt, ob der afrikanische Freund einem traditionellen Herrschergeschlecht entstamme.
Tatsächlich kam Akintola (Akin) Fatoyinbo aus dem einfachen Volk. Sein Vater, ein Tischler, starb als Akin ein Kind war. Seine geliebte Mutter betrieb bis zu ihrem Tod einen Tante-Emma-Laden mit Imbiss (The Spoon) in der nigerianischen Provinzstadt Ilesha im Nordosten des Yoruba-Landes. Akin war 19, als ich ihm 1962 zum ersten Mal begegnete. Ich hielt mich als Gaststudent in der Universität von Ibadan auf. Akin erledigte dort als Sekretär den Schriftverkehr der Student's Union. Mir ist er damals nicht besonders aufgefallen. Aber der in Nigeria ansässige Vertreter des Verbandes Deutscher Studentenschaften erkannte glücklicherweise das Talent des jungen Büro-Angestellten. Er verschaffte Akin ein Stipendium für die Freie Universität Berlin.
Ich sah den Bekannten aus Ibadan in Köln wieder. Student Fatoyinbo arbeitete frei für die Afrika-Redaktion der Deutschen Welle, der ich eine Zeit lang angehörte. Später stellte der Sender Akin als Redakteur ein. Er schrieb Manuskripte und trat morgens um fünf zum Schichtdienst an. In den Ferien reiste Akin zu Sprachkursen nach Frankreich und Spanien. In seinem Gastland wurde der Nigerianer bald über Kollegenkreise hinaus bekannt: Viele Deutsche sahen ihn in Werner Höfers "Internationalem Frühschoppen", wo Akin oft die schwierige Position seines Kontinents erklärte. Obwohl fern der Heimat, etablierte er sich auch in Nigeria als Journalist. Akin schrieb Korrespondenten-Beiträge für die Daily Times in Lagos.
Kein Wunder, dass internationale Organisationen auf den vielseitig begabten Afrikaner aufmerksam wurden. Die Welternährungsorganisation WHO holte Akin während der Sahel-Dürre Anfang der siebziger Jahre als Pressesprecher nach Ouagadugu, der Hauptstadt von Burkina Faso, das damals noch Obervolta hieß. Anschließend begann Akin für die Weltbank zu arbeiten. Mit Unterbrechungen war er gut 20 Jahre für die Bank tätig - in verschiedenen Positionen in Paris, Abidjan, Cotonou, Abuja und in der Zentrale in Washington.
In der US-Hauptstadt entwickelte sich unsere Freundschaft. Akin hatte sich schon eingelebt, als ich Ende der siebziger Jahre in Washington meinen Korrespondenten-Posten für den "Spiegel" antrat. Sofort stand er meiner Frau und mir mit Rat und Tat zur Seite: Wie geht man mit den Behörden um? Was ist beim Abschluss eines Mietvertrages zu beachten? Akin war dabei, als ich unser erstes Auto in Amerika kaufte: Vor dem riesigen Geschäft in Nord-Virginia waren wir in seinem aus Deutschland mitgebrachten Mercedes vorgefahren. Akin handelte den Preisnachlass mit dem Inhaber aus, der uns persönlich bediente und den afrikanischen Kunden respektvoll "Mr. Ambassador" nannte.
Während Akin auf die meisten Leute wie ein hoher Diplomat wirkte, empfand ich ihn zunehmend als Verwandten. Wir lernten seine afro-deutsche Frau Anne kennen und lieben, trafen seine aus Nigeria zum Besuch angereiste Mutter. Ich wurde Pate der in Washington geborenen Fatoyinbo-Tochter Temilola. Obwohl Akin sechs Jahre jünger war als ich, erschien er mir meist wie ein älterer Bruder. Denn wenn immer er dabei war, fühlte ich mich geborgen. Akins Anwesenheit schätzte ich besonders bei Aufenthalten in Afrika.
Akin war in den neunziger Jahren in der Elfenbeinküste und in Benin für die Weltbank auf Posten. Ich kümmerte mich nach Korrespondenten-Aufenthalten in Washington und London von Hamburg aus wieder vorwiegend um Afrika. Nun erschlugen mich die schlechten Nachrichten von dort; Reisen in die Bürgerkriegsländer Somalia, Ruanda und Liberia, aber auch ins einstige Lieblingsland Nigeria, empfand ich als Horror-Trips. Nachdem ich den hoffnungsvollen Aufbruch des Kontinents in den sechziger und siebziger Jahren erlebt hatte, erfasste mich tiefer Pessimismus.
In jener Zeit war Akin die vielleicht einzige Medizin gegen meine Afro-Depressionen. Der Niedergang Nigerias und Afrikas schien ihn nicht zu entmutigten. Statt einen ruhigen Job in Europa oder Amerika anzunehmen, hatte er sich immer nach Einsätzen in Afrika gedrängt. Dort setzte er sich mit ungebrochenem Eifer für Entwicklungsprojekte ein. Eigene Ersparnisse legte er für Grundstücke und ein Haus in Nigeria an. Für ihn stand außer Frage, dass er sich spätestens nach seiner Pensionierung in seiner Heimat niederlassen würde. Denn der weltgewandte Technokrat war fest in seiner afrikanischen Gesellschaft verwurzelt.
Schlimme Erfahrungen konnten Akins Lebensplanung nicht erschüttern: Straßenräuber in Nigeria hatten zwei seiner engsten Freunde ermordet. Er selbst war unter dem Militärdiktator Buhari für mehrere Monate ins Gefängnis geworfen worden. Meinen Besuch im Knast von Lagos-Ikoyi werde ich nie vergessen: Während ich meine Aufregung nicht verbergen konnte, trat mir ein völlig ruhiger Akin entgegen. Er war abgemagert aber zuversichtlich und genoss offenbar die Achtung der Wärter. Sie wirkten neben dem Häftling Fatoyinbo wie Wichte. Ich erinnerte mich daran, was ein Besucher über Nelson Mandela geschrieben hatte: Der Eingekerkerte hatte die Ausstrahlung eines freien Mannes, seine Bewacher schienen die Eingesperrten zu sein.
Nach seiner Freilassung fragte ich Akin, ob ihn sein Glaube an Gott so stark gemacht habe. "Ja", antwortete er, "aber auch der Glaube an die Menschen." Dieser Glaube beruhte auf einer an Zauberei grenzenden Fähigkeit, Leute zum Guten zu beeinflussen: Akin konnte korrupte Zöllner am Flughafen von Lagos in höfliche Beamte verwandeln; er brachte nach Alkohol riechende, aggressive Soldaten an illegalen Straßensperren dazu zu, ihre Waffen wegzulegen und uns gute Weiterfahrt zu wünschen. Für Akin gab es keine notorischen Bösewichte. Mit seiner arglos-offenen Art gewann er Zugang zu den unterschiedlichsten Typen aus allen sozialen Schichten bis in die hohe Politik. Ob ich mich um ein "Spiegel"- Interview mit Nigerias Militärherrscher Babangida oder mit Benins demokratisch gewähltem Präsidenten Soglo bemühte - Akin konnte helfen.
Kulturelle und ideologische Grenzen überwand er kraft seiner Persönlichkeit. Aus den achtziger Jahren erinnere ich mich an Leute, die sich weigerten, mit einem Vertreter der Weltbank auch nur zu sprechen - die Ausnahme war Akin Fatoyinbo. Akin glaubte an den Dialog. Deshalb lud er bekannte Weltbank-Kritiker wie den Politologen Rainer Tetzlaff gegen den Widerstand von Vorgesetzten zu Veranstaltungen der Bank ein. Linke Idealisten, die Akins Entscheidung für eine Karriere innerhalb des Establishments missbilligten, mussten eines anerkennen: Er nutzte seine Stellung, um Mittel für Dritte-Welt- und Afrika-orientierte Projekte aufzutreiben. Als gelernter Journalist engagierte er sich besonders für Medien-Projekte, etwa für die alternative Nachrichtenagentur IPS, deren Afrika-Direktor er eine Zeit lang war, und für das in Benin ansässige Fortbildungszentrum für Journalisten Wanad (West African News Media and Development Project).
Der Selfmademan Fatoyinbo glaubte leidenschaftlich an Fortschritt durch Bildung: So ermutigte er amerikanische Sekretärinnen in der Weltbank-Zentrale in Washington zum Studieren. In Afrika legte er größten Wert darauf, dass seine Fahrer und Hausangestellten ihre Kinder in die Schule schickten. Bei Besuchen in seiner Heimatstadt Ilesha erlebte ich, wie sich die Leute geradezu anstellten, um den erfolgreichen Verwandten oder Mitbürger zu treffen: Akin beriet jeden, er versprach Kontakte herzustellen, schrieb Empfehlungsbriefe. Zuweilen hat er auch Geldbeträge verliehen oder verschenkt. Aber stets forderte er Rechenschaft: "Mit diesem Geld bezahlst du einen Computer-Kurs in (der nahe gelegenen Universitätsstadt) Ife.", beschied er einem entfernten Verwandten. "Wenn ich zu Weihnachten wieder hier bin, will ich dein Abschlusszeugnis sehen."
Akin beherrschte die neue Kommunikations-Technologie. Anders als ich, hatte er sich sofort von seiner Schreibmaschine verabschiedet, als Laptops auf den Markt kamen. Bei mir dagegen dauerte es noch Jahre, bis ich im Internet surfen und Emails versenden konnte. Eine der ersten ging an Akin in Cotonou. Seine Antwort: "Endlich - welcome im 21. Jahrhundert."
Mein afrikanischer Freund ist am 1. Dezember 2002 gestorben. Mit 59 Jahren erlag er einem Herzschlag, mitten in der Arbeit an einem für ihn typischen Projekt: Akin hatte die Weltbank und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef davon überzeugt, ein Symposium für afrikanische Journalisten in Dar es Salaam zu finanzieren. Redakteure und Reporter aus allen Teilen des Kontinents wurden eingeladen und diskutierten anlässlich einer Konferenz der afrikanischen Erziehungsminister mit Fachleuten über Bildungsfragen und Aids-Aufklärung. Für die Journalisten, die kaum Geld für Auslandsreisen haben, bot sich eine ideale Möglichkeit, die Berichterstattung über ein Minister-Treffen mit der eigenen Fortbildung zu kombinieren.
Nun überschattete Akins Tod das Ereignis in Dar es Salaam. Die Konferenz widmete ihm eine Schweigeminute und beschloss, einen jährlich verliehenen Journalistenpreis für hervorragende Berichterstattung im Bereich Bildungswesen ab 2003 "Akin Fatoyinbo Award" zu nennen. Zeitungen überall in Afrika und die "Washington Post" veröffentlichten Nachrufe auf den Verstorbenen. Zur Beerdigung in Ilesha am 14. Dezember reiste eine Delegation des nigerianischen Journalisten-Verbandes aus Lagos an. Sie trug ein Transparent mit der Aufschrift "Akin lives" (Akin lebt).
Unserem Nachbarn in Schleswig-Holstein habe ich berichtet, dass Akin auf einem Hügel unter einem Mango-Baum begraben wurde. Es war sein Lieblingplatz. Nach seiner Pensionierung wollte er auf dem Berg bei Ilesha seinen Hauptwohnsitz nehmen. Akin Fatoyinbos Zeit bei der Weltbank wäre in wenigen Monaten abgelaufen. Zu seinen zahlreichen Projekten für die Zeit danach gehörte die Einführung der Sense in Nigeria.
aus: der überblick 01/2003, Seite 91
AUTOR(EN):
Hans Hielscher:
Hans Hielscher war langjährig Redakteur beim "Spiegel" und lebt jetzt im Ruhestand in Hamburg.