Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit in der entwicklungspolitischen Diskussion
Am 24. Oktober 1970 hat die UN-Vollversammlung die Resolution 2626 verabschiedet, in der die Verpflichtung der Industrieländer formuliert wurde, möglichst bald jährlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) aufzubringen. Kaum ein Land hat diesen Prozentsatz erreicht, die Leistungen der meisten Länder gehen seit einiger Zeit zurück. Auf die Beschwörung dieses Ziels in Zukunft zu verzichten, könnte der Entwicklungspolitik zu neuer Glaubwürdigkeit verhelfen.
von Dr. Volkmar Köhler
Die Verpflichtungserklärung von 1970 hatte von Anfang an nur moralischen Wert, eine Ziellinie wurde damals nicht festgelegt. Die USA haben sich diesem Beschluss von vornherein versagt. Die Staaten des Ostblocks lehnten jede Verpflichtung mit dem heute grotesk anmutenden Argument ab, dass sie keine Wiedergutmachung für koloniale und neokoloniale Ausbeutung zu leisten hätten. Auch die ehemaligen Kolonialmächte wollten freilich von Wiedergutmachung nicht reden, weil die Kolonialländer gigantische Summen als historische Schuld errechneten. In der öffentlichen Diskussion um die Entwicklungspolitik aber ist das 0,7-Prozent-Ziel immer wieder bekräftigt und angemahnt worden, zuletzt 1999 im Rahmen der Schuldenerlass-Kampagne.
Nur wenige Geberländer wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark, Norwegen und Schweden haben das 0,7-Prozent-Ziel zeitweilig oder längerfristig erreicht. Alle deutschen Bundesregierungen haben es nur im Sinne eines Bemühens akzeptiert. Die tatsächlichen Leistungen der DAC-Länder, der Mitglieder im Development Assistance Committee der OECD, fielen von 0,52 Prozent in 1960 auf 0,36 Prozent in 1969, erhöhten sich in den siebziger Jahren, gingen aber bis Ende der achtziger Jahre wieder auf 0,35 Prozent zurück. 1997 lagen sie bei 0,23 Prozent. Deutschland erreichte 0,26 Prozent. Die Entwicklungshilfe der USA ist inzwischen auf 0,11 Prozent, die Frankreichs auf 0,42 Prozent abgesunken. Ähnliche Tendenzen sind in Großbritannien und Japan sichtbar. Ein weiterer Rückgang ist allgemein vorauszusehen. In den achtziger Jahren war die internationale Entwicklungshilfe fast doppelt so hoch wie heute.
Schon seit mehr als zehn Jahren war klar erkennbar, dass Deutschland das Ziel immer weniger erreichen würde, vor allem seit Billionen von DM für den Aufbau der neuen Bundesländer, die Stabilisierung Mittel- und Osteuropas, Russland und den Balkan aufgebracht werden mussten und neue Aufgaben in Zentralasien hinzukamen, ohne dass der Entwicklungshilfe zusätzliche Mittel in entsprechendem Umfang zuflossen. Daher war es nicht verständlich, dass Bundeskanzler Kohl 1992 auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro das 0,7-Prozent Ziel noch einmal bekräftigte. Dass es sogar in der Koalitionsvereinbarung der gegenwärtigen Bundesregierung 1998 wieder beschworen wurde, war, darüber können auch die Formulierungskünste nicht hinwegtäuschen, schlichtweg unrealistisch. Solche Erklärungen konnten lediglich die Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungspolitik in Frage stellen. Wer in Kreisen der entwicklungspolitischen Lobby, gerade auch im kirchlichen Bereich, solchen Worten vertraute, musste bitter enttäuscht sein und sich nach den Gründen seiner Fehleinschätzung fragen. Bemerkenswert ist aber auch, dass in der innenpolitischen Diskussion der USA und Großbritanniens, auch Frankreichs und sogar Schwedens, nachdem dieses Land Anfang der neunziger Jahre seine Prioritäten geändert hatte, das 0,7-Prozent-Ziel nie eine solche Rolle gespielt hat, wie es in der entwicklungspolitisch interessierten Öffentlichkeit Deutschlands bis heute der Fall ist.
Es lohnt, die Natur dieses Fetischs ein wenig zu hinterfragen. Zweifellos stammt das Ziel aus einer Zeit, in der man davon ausging, dass ein bestimmtes Transfervolumen auch ein entsprechendes Volumen von Entwicklung bewirken würde. Die dahinter stehende Gleichsetzung von wirtschaftlichem Wachstum und Entwicklung ist aber in der entwicklungspolitischen Diskussion schon seit Jahrzehnten überwunden. Andererseits förderte die Verpflichtung der Staaten auf das 0,7-Prozent-Ziel die Auffassung, dass staatlicher Transfer und staatliches Handeln auf Seiten der Geber wie der Empfänger nachholende wirtschaftliche Entwicklung und privates Engagement auslösen könnten. Das damit oft genug verbundene staatswirtschaftliche Denken und Handeln erwies sich aber als wenig wirksam, wenn es darum ging, die Produktivkräfte der Menschen in den Entwicklungsländern zu wecken. Es führte vielmehr häufig zur Entwicklung einer Rentenmentalität und zum Aufbau kostspieliger Patronagesysteme im Interesse der in den Entwicklungsländern Herrschenden. Zwar hatten die UN neben der 0,7-Prozent-Marke auch ein 1-Prozent-Ziel formuliert, das staatlichen und privaten Transfer umfassen sollte und auch jahrelang erreicht wurde, doch spielte es im Bewusstsein der entwicklungspolitischen Szene nur eine nachgeordnete Rolle. Die aktuelle, aus Budgetnot geborene Diskussion über Public Private Partnership wirft allerdings ein neues Licht darauf und eröffnet neue methodische Möglichkeiten.
Ein Vergleich zeigt die Wirkungsgrenzen des staatlichen Finanztransfers in die Dritte Welt. Zwischen 1977 und 1987 wurde die staatliche Hilfe für Afrika verdoppelt. Trotzdem entstand hier das drückendste Armutsproblem der Dritten Welt. 1971 hatten die UN 24 Länder in die Liste der am wenigsten entwickelten Länder aufgenommen. Heute sind es 48, davon 34 in Afrika.
Das führt zu der Frage, was staatliche Entwicklungshilfe vermag und in welche Dimensionen sie eingebettet ist. Anfang der achtziger Jahre hatte die Steigerung der Ölpreise eine Größenordnung, dass alle staatliche Entwicklungshilfe des Westens geringer war als die jährliche Steigerung der Energiekosten in der Dritten Welt. Alle Erhöhungen öffentlicher Kapitalzuflüsse in die Entwicklungsländer änderten nichts daran, dass der Netto-Kapitaltransfer in den achtziger Jahren immer weiter gesunken ist. Die westliche Hilfe brachte per Saldo mit den Rückzahlungen, die für frühere Kredite anstanden, kaum noch Entwicklungskapital. Besonders folgenschwer war der Rückzug der Bankwirtschaft aus der Finanzierung vieler Entwicklungsländer, besonders Afrikas. Hatte sie 1981 noch 38 Prozent des Ressourcentransfers finanziert, so waren es 1989 nur noch 8 Prozent. Der staatliche Anteil an den Kapitalübertragungen stieg gleichzeitig von 33 auf 62 Prozent. Hielten staatliche Gläubiger 1981 noch 38 Prozent der Drittweltschulden, so waren es 1989 schon 48 Prozent. In einer Zeit, in der am meisten über Entstaatlichung der Entwicklungszusammenarbeit geredet wurde, kam es tatsächlich zu einer Verstaatlichung. Die Frage, ob staatliche Administrationen wirklich geeignet seien, Wirtschaftswachstum zu bewirken, wurde durch die Kraft des Faktischen erledigt. Dass finanzielle Hilfe, sofern sie als Kredit gegeben wurde, in der Regel zur Verschuldung von Ländern mit weicher Währung in Hartwährungsländern führte, wurde lange Zeit nicht als Problem erkannt.
Dass auch die ODA-Statistik ihre Eigenheiten hatte, sah nicht jeder Beobachter. Nicht selten sorgten Geberländer dafür, dass Staaten in Europa oder Mittelasien, an denen sie besonders interessiert waren, in die Liste der ODA-Empfänger aufgenommen wurden. Deutschland erreichte nicht nur die Anerkennung der Leistungen der Bundesländer, sondern in den achtziger Jahren auch die Anerkennung der Studienplatzkosten für Studenten aus der Dritten Welt als ODA-Leistung. Das wirkte sich natürlich positiv auf das Bild der Statistik aus.
Das Bemühen, dem 0,7-Prozent-Ziel näher zu kommen, führte nicht selten zu entwicklungspolitisch bedenklichen Entscheidungen, wenn ein Empfängerland das Geld gar nicht sinnvoll aufnehmen konnte und die permanente Schwierigkeit, geeignete Projekte zu definieren, den Mittelabfluss hemmten. Jahrelang war Bangladesch, eines der bedürftigsten Länder, das Musterbeispiel für solche Engpässe. Gerade dort, wo Armutsbekämpfung am dringendsten war, fand man kaum ausreichend vorbereitete und ausgereifte Projekte. Umso größere Beträge mussten angesichts der Schwächen der Staatsverwaltung in die Projektdefinition und -vorbereitung durch ausländische Fachleute investiert werden. Es war keine Seltenheit, dass die einzelnen Geber sich ausgearbeitete Projekte gegenseitig abjagten, was nebenbei noch recht einkommenswirksam für die zur Vergabe befugten Minister und Beamten Bangladeschs war. Auch die bei manchen Gebern verbreitete Betrauung von Consultingfirmen mit der Projektdurchführung konnte Ausdruck mangelnder Planungs- und Administrationskapazitäten bei Gebern und Empfängern sein und führte – längst nicht immer, aber auch nicht selten – zu einseitig technokratischen Projektansätzen. Sozioökonomische und kulturelle Voraussetzungen des Projekterfolges blieben dabei manchmal auf der Strecke.
Für einen Entwicklungsminister ist es schlimm, wenn er das ihm zur Verfügung gestellte Budget nicht ausschöpfen kann. Nachdem der Bundestag Ende der siebziger Jahre durch eine überparteiliche Initiative eine deutliche Erhöhung des Entwicklungshilfe-Haushaltes erreicht hatte, kam Bundesminister Offergeld in eine solche Verlegenheit und musste einen dreistelligen Millionenbetrag an den Finanzminister zurückgeben. Das Parlament und die für die Menschen in der Dritten Welt engagierten Kreise unserer Gesellschaft können einen solchen Schritt kaum ertragen. Der Mittelabfluss muss also sichergestellt, die budgetäre "Punktlandung" erreicht werden. Dieser Druck hat immer wieder Großprojekte gezeitigt, bei denen auch noch ein übergroßer Zielkatalog die Projektdurchführung erschwerte. Es wurden Staudämme und Kraftwerke gebaut, denen lange Zeit die Überlandleitungen zum Energietransport fehlten, weil die Koordination der Geber gescheitert war (Senegal); es entstanden übergroße Salzgewinnungswerke, die nie funktionierten und Sanierungsfälle blieben (Uganda); und es wurde eine einzige Düngemittelfabrik zur Versorgung eines ganzen Landes (Sambia) errichtet, ohne dass Rohstoffversorgung, Verteilung und Transport geregelt werden konnten. So war es von Vorteil, dass auch die Produktion nur zeitweise lief. Die Aufzählung der – gelegentlich durchaus gegen den Rat der Fachleute entstandenen – "weißen Elefanten" ließe sich vermehren. Große Investitionen in die Infrastruktur hatten nicht den gewünschten Erfolg, weil man die mangelnde Fähigkeit der Empfängerländer, diesen Strukturen zu erhalten nicht bedacht hatte.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Ursache solcher Missgriffe lag längst nicht nur bei den Geberländern, sondern auch in der planerischen und administrativen Überforderung der Empfänger. Auch wäre die Schlussfolgerung falsch, den Staat weitgehend aus der Entwicklungszusammenarbeit ausschalten zu wollen. Die Forderung nach Entstaatlichung der Entwicklungshilfe übersieht, dass auch die Hilfe von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen Fehlschläge kennt. Es handelt sich auch nicht um ein spezielles Problem deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Die Regierungen der Länder, die gesetzlich auf das 0,7-Prozent-Ziel festgelegt sind, haben oft genug gegen Jahresende Zuflucht bei rasch durchführbaren Sonderprogrammen (zum Beispiel Impfungen oder Alphabetisierung) suchen müssen, um den Mittelabfluss zu erreichen. Die periodisch wiederkehrenden Abflussprobleme des Europäischen Entwicklungsfonds sind bekannt. Sie ermöglichten zu einem beträchtlichen Teil die Finanzierung der jüngsten Entschuldungs-Initiative, wobei man die Tatsache überging, dass es sich um Mittel handelte, die den AKP-Staaten vertraglich zustanden. Den entstandenen Stau hätte man auch anders abbauen können. Ein Fonds, der nicht parlamentarisch kontrolliert werden kann, da er nicht in das Budget der Europäischen Union eingestellt wird und fern der nationalen Öffentlichkeit arbeitet, zieht aber nur begrenztes Interesse auf sich.
Nach allen diesen Erfahrungen muss man fragen, ob sich das 0,7-Prozent-Ziel als Prokrustesbett erwiesen hat, von dem man sich bald und gründlich verabschieden sollte. Es ist sinnlos zu leugnen, dass in der deutschen Entwicklungshilfe der kommenden Jahre zum Beispiel die Finanzielle Zusammenarbeit kaum höher sein wird als die gleichzeitigen Rückflüsse aus früher gewährten Krediten aus den Entwicklungsländern. Eine ganze Reihe anderer Teilziele haben das Mengenziel inzwischen qualitativ unterlaufen. Man denke an die Vereinbarungen des Kopenhagener Weltsozialgipfels, des Umweltgipfels von Rio de Janeiro und an die Strategien zur Armutsbekämpfung. Auch die zunehmend akzeptierte Tendenz zu politischer Konditionalisierung steht in Konkurrenz zum Denken in rein quantitativen Dimensionen. Hinter die Erkenntnis, dass dauerhafte Entwicklungshilfe nur bei ausreichenden politischen Rahmenbedingungen sinnvoll ist, werden wir nicht mehr zurückfallen wollen.
Andererseits ist nicht zu erwarten, dass die UN-Generalversammlung das 0,7-Prozent-Ziel für obsolet erklärt. Dafür gibt es keine Mehrheiten. Also wird das Ziel als internationale Messgröße erhalten bleiben. Nichts hindert aber die Bundesregierung daran zu erklären, dass sie es als fragwürdig, realitätsfern und unerreichbar betrachtet, sofern sie diese Tatsachenfeststellung mit einer bindenden und klaren, quantitativen und qualitativen Definition ihrer Entwicklungspolitik verknüpft. Zu solcher Ehrlichkeit ist zu raten. Sie dient dem Image mehr als jede Kosmetik. Der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums, der vor 15 Jahren zum letzten Mal eine Stellungnahme zu dieser Frage ausgearbeitet hat, Fachkongresse und die entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit könnten wertvolle Vorarbeit in der Sache und in der Bewusstseinsbildung leisten. Wir müssen aufhören, diesen alten Fetisch gegen besseres Wissen künstlich am Leben zu erhalten, wenn es uns um die Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik ernst ist. Ein schleichender Abschied, weil die Verhältnisse das erzwingen, verursacht ernsten Schaden und zerstört viel guten Willen in der Öffentlichkeit.
aus: der überblick 02/2000, Seite 86
AUTOR(EN):
Dr. Volkmar Köhler:
Dr. Volkmar Köhler war von 1982 bis 1989 parlamentarischer Staatssekretär der CDU im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er ist heute Vorsitzender des Kuratoriums des Instituts für Entwicklungsforschung an der Universität Bochum sowie Mitglied des China Council for Development and Environment.