Der Schmerz, nicht weinen zu können
Während des 41 Jahre lang dauernden Bürgerkriegs sind in Angola unzählige Menschen gestorben. Die Schätzungen gehen von 500.000 bis zwei Millionen. Ihre Angehörigen hatten oft nicht die Möglichkeit, sie zu begraben. Oder sie konnten, weil sie selbst auf der Flucht waren, die Beerdigungen nicht so durchführen, wie es der gebührende Respekt und die Zuneigung zu den Verstorbenen verlangen. Oftmals blieb keine Zeit für die angemessenen Rituale. Ein Jahr nach Beendigung des Krieges, wird der Ruf nach einem nationalen Trauerritual immer lauter.
von Ralf Syring
Ein 16-jähriges Mädchen aus der Stadt Huambo berichtet, wie sie darunter leidet, dass sie ihre Verwandten nicht auf richtige Art und Weise begraben konnte: "Wenn jemand starb, gab es keine Zeit zum Weinen und sie ließen uns nicht weinen. Sie sagten: 'Du weinst also über deinen Verwandten, der auf der anderen Seite starb'. Nur beerdigen und manchmal weinen, im Versteck, ganz leise. Sie haben uns die Begräbnisriten nicht durchführen lassen." Ähnlich ergeht es einem gleichaltrigen Jungen aus der Provinz Bié: "Aus meiner Familie sind viele gestorben: meine Tante, der älteste Bruder meines Vaters, unser Großvater, der Vater meiner Mutter. Meine Mutter wurde in Luena gefangengenommen. Ich bin mit meinen Schwestern von Vaters Seite, mit meinem Vater und meiner Stiefmutter zusammen geblieben. Wir haben keine Begräbniszeremonie gemacht in meiner Familie; denn als wir das tun wollten, fingen die Schüsse an ... nur schnell beerdigen ohne jede Zeremonie."
Der Christian Children's Fund Angola stellte diese Interviews mit Kindern und Jugendlichen 2002 in dem Buch "Paz é brincar B vontade" zusammen. Das Motiv kehrt immer wieder: Sterben ohne Begräbnisritus. Óbito heißt der Ritus im angolanischen Portugiesisch, ein Wort, das in Portugal einfach Sterben oder Tod bedeutet, in Angola aber die Zeremonie bezeichnet, die jeder einem verstorbenen Verwandten schuldig ist.
Die Bantu-Auffassung vom Tod wirkt in die moderne und offiziell weitgehend christliche Gesellschaft hinein. Wie auch in anderen Kulturen, gibt es ein Verständnis des Todes im Zusammenhang mit einer Sicht des Lebens. Das menschliche Sein ist für die Bantu grundsätzlich ein kollektives, wie P. Raul Ruiz de Asúa Altuna beschreibt: "Der Bantu weiß, dass er von der Konstitution seines Seins her wesentlich und für immer mit seiner Gemeinde verbunden ist. Und dass nichts und niemand ihn davon trennen, vereinzeln oder isolieren darf." Damit verbunden ist die Vorstellung der Welt und des Lebens als einer Einheit, die aus einem sichtbaren und einem nicht sichtbaren Teil besteht. Die unsichtbare Welt ist die des Schöpfergottes (nyambe in einigen Bantu-Sprachen) und der Geister der Vorfahren. Sie ist in der sichtbaren Welt immer präsent, es kommt ihr derselbe Grad von Wirklichkeit zu wie der sichtbaren. Für ein friedliches und angenehmes Leben kommt es darauf an, die Beziehung zur unsichtbaren wie die zur sichtbaren Welt (Gemeinde und Natur) nicht zu stören.
Nach dem Sterben gehen die Geister der Verstorbenen über in die unsichtbare Welt. Wenn die Beziehung zu den Geistern der Verstorbenen nicht gut ist, wird die Gemeinde bedroht. Hinzu kommt, dass der Tod als etwas Unreines betrachtet wird. Henri A. Kunod formuliert das so: "... der Tod ist nicht nur ein trauriges Ereignis, ein großer Schmerz wegen des Verlusts des Verstorbenen, sondern eine furchtbare Quelle der Verunreinigung, die alle Gegenstände und alle Personen, die im Kontakt mit dem Toten waren, alle Verwandten, selbst die, die weit entfernt leben oder arbeiten, ... in einen Zustand der Unreinheit versetzt. Diese Unreinheit ist in der Tat sehr gefährlich; sie tötet, wenn sie nicht in angemessener Weise behandelt wird."
Es gibt, je nach Regionen und Sprachgebieten verschieden, eine große Zahl von Riten, denen die Verwandten eines Verstorbenen folgen müssen, wenn sie nicht der Bedrohung durch die Unreinheit und dem Zorn des Geistes ausgesetzt sein wollen. Der Akzent liegt dabei nicht auf der Bedrohung des Einzelnen, sondern auf der befürchteten Störung der Beziehungen in der Gemeinschaft.
Der Krieg ist für sich allein eine erhebliche Störung dieser Beziehungen. Die Unmöglichkeit, im Krieg die Toten angemessen zu beerdigen, also die notwendigen Riten durchzuführen, ergibt zusammen mit dem Krieg einen Teufelskreis. Nicht selten haben während des Krieges in Angola die Ältesten auf dem Land resigniert vorausgesagt, dass der Krieg nicht aufhören werde, weil er verhindere, dass die Menschen das tun, was notwendig ist, um die Geister der unsichtbaren Welt zu befrieden.
Der Schmerz jener, die im Krieg auf der Flucht oder in anderen Situationen ihre Toten nicht oder nur ganz schnell begraben konnten, ist also ein doppelter: der Verlust des Menschen und die Bedrohung durch die Folgen der Unreinheit und des nicht befriedigten Geistes. Das Leid wird vermehrt durch das Wissen von der Nichterfüllung einer Pflicht ohne eigenes Verschulden.
Es gibt Regeln für Beerdigungszeremonien aus der Ferne. Denn auch im Frieden kann es zu solch einer Zwangslage kommen. Es ist dann möglich, auch an anderen Orten ohne die physische Anwesenheit des Leichnams eine Zeremonie durchzuführen. Auch kann eine solche Totenfeier unter bestimmten Umständen nachgeholt werden. Während des Bürgerkrieges kam es aber sehr häufig vor, dass Verwandte, die weit entfernt von den Verstorbenen wohnten, nicht zu dem Ort gelangen konnten, an dem die Beerdigung stattfand.
Die Zeremonie umfasst unterschiedliche Teile. Es gibt Vorschriften über die Weise, wie der Leichnam aus dem Haus getragen werden muss (so der Mensch denn in einem Haus gestorben ist), über die Art, wie das Grab ausgehoben wird, wie und von wem der Leichnam in das Grab gelegt wird, über die Klage und über die Kleidung, die danach in unterschiedlichen Zeiten ein Jahr lang getragen werden darf und muss.
Eine Gruppe von Psychologen und Sozialarbeitern des Christian Children's Fund hat zahlreiche Hinweise zusammengetragen, dass die Verhinderung, Begräbnisrituale durchzuführen, einen ganz entscheidenden Anteil an der Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen in Angola hat. Dabei wird unter Traumatisierung ein Prozess verstanden, der mit eigenen Kräften nicht mehr bewältigt werden kann. Es ist damit ein wichtiges Merkmal für das Einwirken des Krieges auf die sozialen Beziehungen benannt, die im kulturellen Kontext der Bantu-Gesellschaften eine größere Rolle spielt als die - ohne Zweifel auch hier vorhandene - Wirkung auf die Menschen als einzelne Personen. Diese Tatsache hat wichtige Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von heilenden Eingriffen.
Es ist gegenwärtig - nach dem Ende des 41-jährigen Krieges in Angola im Jahre 2002 - eine beliebte Propaganda-Aussage, dass der Krieg nun vergessen werden möge, und alle voller Tatendrang nur nach vorn blicken sollen. Es ist aus zahlreichen Beispielen - vergangenen und gegenwärtigen - bekannt, dass das leider nicht geht. So denken auch innerhalb der regierenden MPLA in Luanda Menschen darüber nach, wie die Geister der Lebenden und der Verstorbenen friedlich werden können. Es wird überlegt, ob es ein nationales Trauerritual geben könnte. Die Idee ist nicht neu. Sie wurde in anderen Ländern bereits praktiziert. Allerdings sind die Machthaber im Land sehr zurückhaltend in diesen Überlegungen. Es ist schwer vorstellbar, wie ein solches Ritual stattfinden sollte, wenn nicht die Repräsentanten des Staates ihren eigenen Anteil an dem jahrzehntelangen Morden zur Sprache bringen. Es muss nicht notwendigerweise ein öffentliches Schuldbekenntnis abgelegt werden. Doch die Wirksamkeit eines großen nachträglichen Trauerrituals für unzählige Verstorbene, denen diese Respektbezeugung vorenthalten bleiben musste, wird davon abhängen, wie sich die Staatsvertreter selbst zur kriegerischen Vergangenheit verhalten.
Ein öffentliches Begräbnis- und Reinigungsritual wäre nicht zuletzt ein Ausdruck von Respekt vor den Überlebenden, an dem es die Machthaber beider kriegführenden Parteien in der jüngsten Geschichte haben fehlen lassen. Es könnte ein Beitrag sein zur Beruhigung der Geister und einen Grund legen für eine tatsächliche Versöhnung - einen Grund legen, nicht sie ersetzen. Denn Versöhnung ist nicht ein Moment, sondern ein Prozess. Doch der braucht einen Anstoß. Es herrscht noch Furcht davor in Angola, dieses schwierige Gebiet zu betreten. Die keimende Zivilgesellschaft ist dabei so zögernd wie die regierende Partei. Doch es gibt Anfänge des Nachdenkens.
Literatur
P. Raul Ruiz de Asúa Altuna: Cultura Tradicional Banto. Luanda (Secretariado Arquidiocesano de Pastoral) 1993
Henri A. Junod : Usos e costumes dos Bantu. Maputo (Arquivo Histórico de Moçambique) 1996
aus: der überblick 02/2003, Seite 89
AUTOR(EN):
Ralf Syring:
Ralf Syring ist Projektkoordinator der Deutschen Welthungerhilfe in Angola.