Die Erfolgsgeschichte der Korruption in Mexiko
Während die Alchimisten in Europa noch vergebens versuchten, unedle Metalle in Gold zu verwandeln, eroberten die marianischen Konquistadoren und Ordensleute jenseits des Atlantiks neue Territorien und steckten dem spanischen Königreich Neuspanien* ab. Sie strebten danach, die infantile Machtsehnsucht nach einem von ergebenen Dienern wimmelnden Schlaraffenland auf Erden zu verwirklichen und die unersättliche Begierde nach Gold zu sättigen, ohne eigene Opfer aufzubringen.
von Stephan Hasam
Fast ein halbes Jahrtausend später erklärte der heute größte Tycoon Mexikos, Carlos Slim*, auf der Forbes-Milliardär-Liste 2006 mit über 30 Milliarden US-Dollar drittreichster Mann der Welt, Mexiko sei ein Schnäppchen, "Mexico is a buy" ein Eldorado, also, wo "avancieren" zugleich "vorrücken" und "erbeuten" heißt: quien no tranza, no avanza.
Seit Jahrhunderten ist Mexiko ein von einer Oligarchie geschnapptes Land der Korruption und organisierten Erpressung, der massiven Reichtumsaneignung durch Anwendung regulativer Gewalt, wo Ausbeutung der Schwächeren, marianisch-ödipale Männergewalt und Frauenfeindlichkeit, Folter, Entführungen (Kolumbien übertreffend) sowie Hinrichtungen allgemeine Praxis und geschichtliche Tradition sind. Die Lebenswelt ist aufgebaut auf hierarchisch eingeordneten von Schutzherren kontrollierten Körperschaften und besteht aus autoritätshörigen Dienern. Daher die alltäglichen Formeln: "dienen", servir, "zu Eurem Befehl", a sus órdenes, "um Sie zu bedienen", para servir a usted, und "dieser Diener", este servidor, statt einfach "ich" zu sagen. Das Ich als mündiges Subjekt fehlt, und Kritiker gelten als Störenfriede und Verräter. Eine gesellschaftsfeindliche Lebenswelt aus autoritär ausbeutenden und ausgebeuteten "flexiblen Menschen", die Renaissance und Aufklärung zurückwies.
In einem solchen Staat sind die Einzelnen angreifbar und wehrlos. Die Menschen müssen, auch wenn sie selbst nicht zu den Erben der Rauboligarchie gehören, im wesentlichen ebenso ausgeprägt sein, und jene Mentalität, Aneignungsmethoden und Gewaltpraktiken nachahmen. Diese Lebenswelt wird als natürlich und allein existierend aufgefasst, und alle Menschen müssen sich einer oder mehreren Selbstschutzgemeinschaften unterordnen, wenn sie Existenzsicherheit erwarten wollen. Je ärmlicher sie sind, desto unentbehrlicher ist die Selbstschutzkörperschaft. Je ärmlicher diese Selbstschutzkörperschaft, desto weniger findet sie Beachtung bis sie schließlich Gewalt anwendet: "Wer nicht weint, wird nicht gestillt", el que no llora, no mama.
Das vom Tridentinum* propagierte mittelalterlich geschlossene Staatsgebilde vom organischen Sozialkörper, dessen Seele und Vernunft im Staatsoberhaupt innewohnen und dessen Glieder und Organe aus stratifiziert miteinander verbundenen Unterkörperschaften bestehen, war die Grundlage des Nationalismus des spanischen Königreichs, daher auch Siziliens*, Neapels* und Neuspaniens, wo es heute noch im republikanischen Gewand weiter besteht und sichtbar ist: im Gebilde Mexikos als marianischer Gesamtkörper und im liturgiestarken allgegenwärtigen mexikanischen Nationalismus, der fortwährend Gefahr läuft, innerlich zu zersplittern. Nimmt die Gefahr zu, wie 1982 mit der mexikanischen Schuldenkrise, wird der sanierende Kapitalaneignungsplan von großartigen Fahnen- und Nationalhymnegesetzen begleitet. Heute an der Schwelle eines qualitativen Sprungs im Aneignungsmodell, lancierte das Medienmonopol der Oligarchie ausgehend vom Palast der Schönen Künste* eine neue nationalistische Evangelisierungskampagne: Celebremos México* "lasst uns Mexiko feiern", die von Pop- und Sportstars, Schauspielern, Schriftstellern, und Nachrichtensprechern über das ganze Land, mit Betonung auf den Kultworten "Mexico", "mexikanisch", und "in unserem Land" verbreitet wird, und von allen, unbewusst, wiederholt wird.
Mexiko gilt als die allumfassende Körperschaft, der alle anderen untergeordnet sind, und die alle anderen schützend in sich aufnimmt, la gran familia mexicana, eine nur die Familienangehörigen angehende cosa nuestra*, wo das omertá*-bewahrende Diktum herrscht, "die schmutzige Wäsche wäscht man daheim", la ropa sucia se lava en casa. Über das Wie spricht man lieber nicht. Folgerichtig steht in republikanischer Sprache verkleidet im Paragraphen 33 der mexikanischen Verfassung, dass jeder Outsider, der nicht mit den Oberkörperschaftshäuptern unter einer Decke steckt und gar Kritik ausübt, zügig aus dem Land verbannt werden kann, wie es dem Schriftsteller Mario Vargas Llosa geschah, als er Mexiko die perfekte Diktatur nannte. Der Gesamtkörper so die grundlegende Auffassung müsse sich gegen Aneignungsversuche durch Fremde schützen.
Als Präzedenzfälle gelten die Invasion und Einverleibung der Hälfte des Nationalkörpers 1848 durch die USA, die kurzlebige Herrschaft im Schloss Chapultepec Kaiser Maximilian von Habsburgs (1864-1867) auf Einladung eines Teils der mexikanischen Oligarchie, und die US-Invasion 1914. Den Sorgen vor einer imperialistische Aneignung von außen entspricht ein Imperialismus im Innern, oft mittels Joint Ventures der Körperschaftshäupter mit ihren fremden Partnern. Die Mafiaorganisationen im Drogen- und Entführungsgeschäft ahmen die Samthandschuhkartelle der Staatsoligarchie nach und sind ihnen oft untergeordnet. Wie in Russland spielen auch in Mexiko Polizei-, Militär- und Geheimdienstkontakte eine Schlüsselrolle. Carlos Slims Bruder Julián machte Karriere in der Staatssicherheit und wurde Direktor für Nationale Sicherheit.
Schon das spanische Königreich versuchte seine nationale Einheit durch den Aufbau eines geschlossenen Körpers zu konsolidieren, "wo die Partikularismen der Personen oder der Territorien und die Vielfalt der Privilegien und Rechte von Korporationen eines zentralisierten Staats, stark und mächtig, absorbiert werden sollten", wie Mexikos Historikerin Marialba Pastor formulierte. "Um sich Treue und Gehorsamkeit zu vergewissern, behielt der Staat die mittelalterlichen patrimonialen Beziehungen bei, wo die Landes- und Schutzherren die Autoritätsfiguren ihren Gefolgsleuten Schutz gewährten, womit sie sich ihren Adelsrang, ihre Privilegien und ihr Erbgut sicherten. Dafür in Umtausch versicherte der Staat, wie ein 'großer Vater', den 'Kindern des Vaterlandes' die Bereitstellung von Vorräten für ihr Überleben". Hier der Ursprung des populistischen Caudillos als Körperschaftsoberhaupt und seiner ihm ergebenen, unmündigen und opferbereiten Schützlingsmasse der ewig Ärmlichen: das Volk, el pueblo.
Die Partikularisierungstendenzen der Glieder und Organe wurden durch eine Mischung von Privilegien, Bestechung, Lob, Komplizenschaften, omertá, Sippenhaftung, Erpressung, gegenseitiges Überwachen, Beichten, Intrigen, Gerüchte, Drohungen und Strafen bekämpft. Auf dem Lande errichteten die Ordensleute Konzentrationsdörfer, reducciones*, für die arme Landbevölkerung. Jedes Dorf ein Körperschaftsghetto: einen Heiligen, ein Dialekt, eine andersfarbige Uniform zur Identifizierung und Kontrolle, heute noch als Folklore verkauft. Neben der Inquisition als Großnötigung, gab es ein zweites Herrschaftsinstrument: ein Spioniernetzwerk der ekklesiastischen Gerichte, zuständig für die Überwachung der Einhaltung von Sitten- und Gebräuchen bis in die Intimsphäre. Ein Erpressungsparadies. Öffentlichkeit und Privatleben gingen ineinander über, was auch für die untergeordneten Sozialkörper bis zu den einzelnen Monaden* galt, den marianischen Familien nämlich, aus welchen die übergeordneten Sozialkörper sich bildeten.
Der italienische Elitentheoretiker Gaetano Mosca glaubte, die Grundlagen der Mafiakultur, der Symbiose zwischen der regulären und irregulären Hemisphäre der Lebenswelt, im spanischen Sizilien entdeckt zu haben, nämlich "im System der Übereinkünfte und Verpflichtungen, das die Obrigkeit mit den Missetätern vornahm" und "im Schutz, den die Oberklasseangehörigen, manchmal in öffentlichen Ämtern eingesetzt, und die Behörden selbst, den cosche mafiosi* [gewährten]". Zu dem Schutz des Übeltäters durch den erhabenen Herrn komme hinzu, "jene viel höhere Leistungsfähigkeit: die des Abgeordneten, des Bürgermeisters, des Assessors zugunsten des mafiosen Caudillos oder sogar eines einflussreichen Mitglieds einer Kamarilla". In Mexiko auch des Staatshauptes.
Die Körperschaften sind Janusköpfe, allen voran der oligarchische Staat. Symbiotische Beziehungen zwischen Körperschaften und Staat sind beidseitig vorteilhaft, erklärt die Historikerin Pastor. Die Körperschaften, die Korruption und Unterwerfung ihrer Mitglieder fördern, erhalten Privilegien zur Monopolisierung der Produktion, des Warenverkaufs, des Arbeitsmarktes, eines politischen oder religiösen Glaubens. Dafür leisten sie dem Staat viele Dienste zwecks Sozialkontrolle und Erhaltung des Status quo. Der mafiose Geist ist antisozial und eine korporative Lebenswelt toleriert keine Zivilgesellschaft. Anstelle politischer Parteien gibt es als Parteien verkleidete Körperschaften, die sich aus grupos oder tribus (Stämme) bilden. Und die "politische" Tätigkeit wird grilla (zirpende Vortäuscherei) genannt.
Die Körperschaftsspitzen, jefes (Chefs) oder cabezas de grupo (Gruppenoberhäupter) genannt, verbinden die auf verschiedenen Schichten in fortwährender Spannung koexistierenden Körperschaften untereinander und mit dem Staat. Pastor schreibt: "Genauso wie die Körperschaften sich aus ihren eigenen Familien und ihren Anhängern bilden, nimmt der Staat die Führer der Körperschaften als seine prominentesten Leiter und Funktionäre in eine idyllische und monolithische Beziehung auf. Die Korruptionspraktiken verwandeln sich in alltägliche Praktiken und bilden die Zentralstruktur, von der ausgehend das ganze System definiert wird. Die Körperschaften sind die Erziehungsquelle der korrupten Mentalitäten und Verhaltensweisen, die ihre Mitglieder dafür vorbereitet, große Aktionen zu vollbringen" unter dem Schutzmantel Marias. Eine Ordnung durch Vermittlung der Unordnung entsteht: eine unaufhörliche Dynamik von Intrigen, Allianzen, Bestechungen, Pakten, Kriegen, Verrat, Erpressung, in der die Schwachen immer verlieren.
Skandale signalisieren den Ausbruch von Kämpfen zwischen Körperschaften um Macht und Mittel zur Nötigung. Das öffentlich Ausgetragene ist weitgehend Liturgie, Fassade. Das Wesentliche bleibt Outsidern ein unzugängliches Geheimnis. Die Korruption "des Anderen" wird öffentlich "mit voller Kraft des Gesetzes" bekämpft, bis nach einer von den Medien getragenen andauernden tauziehenden Machtdemonstration bei einem Frühstück die Gruppenoberhäupter Vereinbarungen treffen. Dann schrumpft schlagartig der Skandal zusammen, verschwindet aus den Medien, und die Legalität wird den Frühstücksvereinbarungen angepasst.
Der Übergang von der verbrauchten Einparteienherrschaft des 20. Jahrhunderts zum neuen Modell ist fast vollzogen. Im domestizierenden Rausch der neuen Nationalevangelisierung hat sich die Oligarchie dank eines neuen Gesetzes die Totalherrschaft der Elektromedien und Telekommunikation des Landes angeeignet. Ein Goebbels'scher Traum. Fast gleichzeitig machte Carlos Slim, zusammen mit Zementtycoon Lorenzo Zambrano*, den Chapultepec-Schloss- Pakt* "für die nationale Einheit" bekannt; lobend von den Unterkörperschaftshäuptern des Landes unterschrieben: Gouverneuren, Gewerkschaftshäuptern, Universitätsrektoren, Hofintellektuellen, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Sportund Popstars und Präsidentschaftskandidaten.
Wer sich der Ein- und Unterordnung entziehen will, wird öffentlich brüskiert. Das Flaggschiff des korporativen Pakts heißt IDEAL*, Slims neu gegründetes, Halliburton* nachahmendes Geschäft zur Ausführung riesiger Staatsprojekte. Das Startkapital, sagt er, soll aus den zwangsinvestierten Pensionsfonds der Gehaltsempfänger kommen. Das private bankrotte Bankwesen wurde 1982 verstaatlicht, und die Besitzer wurden entschädigt. Nach Sanierung privatisierte es der Staat 1992 erneut gegen ein Schnäppchen von 3,5 Milliarden US-Dollar. Zwei Jahre später musste er die Banken wieder auf Staatskosten sanieren, was ihn 100 Milliarden Euro kostete. Thukydides berichtete, dass in der Antike gewalttätige Räuber und friedlich einnehmende Händler als gleich ehrenhaft galten. In Mexiko ist es heute noch so. Postmodern avant la lettre, erkennt sich Mexiko wieder in der heutigen aufklärungsfeindlichen postmodernen Welt der janusköpfigen Megacorporations, und verzahnt sich tadellos damit.
aus: der überblick 02/2006, Seite 60
AUTOR(EN):
Stephan Hasam
Stephan Hasam ist Politologe in Mexiko-City und langjähriger Beobachter
der mexikanischen Lebenswelt.