Gewalt überschattet den Trost, den Chinas Arme in der Religion finden
Der Niedergang der kommunistischen Ideologie hat in China ein Vakuum hinterlassen, das jetzt zum Teil durch Religion gefüllt wird. Schätzungen zufolge besuchen in China heute mehr Protestanten eine Kirche als in Europa. Am stärksten ausgeprägt ist das Heilsbedürfnis bei den sozial Schwachen auf dem Land. Viele Menschen wenden sich dort religiösen Bewegungen zu, die im Untergrund agieren. Diese vertreten häufig recht unkonventionelle Glaubenslehren und jagen einander erbittert die Anhänger ab.
von Joseph Kahn
Kuang Yuexia und ihr Mann Cai Defu in der Landstadt Huaide im Nordosten Chinas hielten sich für gute Christen. Sie lasen jeden Abend vor dem Schlafengehen in der Bibel. Benahmen sich ihre Kinder schlecht, reagierten sie gelassen. Sie fluchten nicht, sie logen nicht.
Als jedoch im letzten Jahr ihr Nachbar Zhang Chengli sie mit allen Mitteln dazu bewegen wollte, ihre Untergrundsekte zu verlassen und sich stattdessen der seinen anzuschließen, schien dies eine Prüfung von geradezu satanischer Dimension. Zhang Chengli stieg auf ihre Gartenmauer, er belästigte sie auf den Feldern, er weckte sie nach Mitternacht mit lautstarken Aufrufen: Sie sollten sich bekehren, bevor Jesus wiederkommen und sie zur Hölle schicken würde. Frau Kuang schüttete Herrn Zhang Schmutzwasser über den Kopf, Herr Cai schlug ihn. Trotzdem ließ Herr Zhang über Monate in seinem Eifer nicht nach, bis die Religionsgemeinschaft des Ehepaars eingriff und seine Bekehrungsversuche ein für allemal beendete.
Herrn Zhangs Leiche wurde ohne Augen, Ohren und Nase am Straßenrand gefunden, etwa 500 Kilometer entfernt von ihrer Landgemeinde in der Provinz Jilin im nordöstlichen China. Die Polizei verhaftete Herrn Cai und andere Mitglieder seiner Sekte. Eine Frau starb in Polizeigewahrsam. Mithäftlinge sprachen von Folter.
Chinas wachsender materieller Wohlstand hat die ländlichen Gebiete, in denen zwei Drittel der Bevölkerung leben, ausgespart. Hier haben Sekten und Kulte, die um Seelen wettstreiten, Hochkonjunktur. Das hat die Behörden alarmiert, die sich offenbar nicht ganz sicher sind, was mehr dazu beiträgt, die ländliche Bevölkerung gegen die kommunistische Herrschaft aufzubringen die Verbreitung von Religionen oder aber deren systematische Unterdrückung.
Der Niedergang der kommunistischen Ideologie hat ein Vakuum hinterlassen, das jetzt durch die Religion gefüllt wird. Ausländischen Schätzungen zufolge besuchen in China heute mehr Protestanten eine Kirche als in Europa. Studenten in Peking warten während der Weihnachtsgottesdienste stundenlang auf einen Sitzplatz in einer der hundert überfüllten Kirchen der Hauptstadt. Bei der gesellschaftlichen Elite erfreut sich ebenso der Buddhismus großer Beliebtheit.
Aber am stärksten ausgeprägt ist das Heilsbedürfnis bei den sozial Schwachen auf dem Land. Die ländliche Wirtschaft wächst relativ langsam. Korruption und der Zusammenbruch der staatlich finanzierten Gesundheits- und Sozialversorgung machen den Menschen schwer zu schaffen. Die staatlich zugelassenen Kirchen jedoch sind vorwiegend in den Städten aktiv, wo sie streng überwacht werden können und wo Priester und Geistliche per Gesetz nur zu Menschen predigen dürfen, die zu ihnen kommen.
Die Behörden verbieten religiöse Aktivität auf dem Land nicht explizit. Aber sie machen es etablierten Kirchen so schwer, in ländlichen Gebieten zu wirken, dass sich viele Menschen religiösen Bewegungen zuwenden, die im Untergrund agieren und häufig recht unkonventionelle Glaubenslehren vertreten. Charismatische Sektenführer ziehen gegen die staatlich zugelassenen Kirchen ins Feld. Sie versprechen Heilung in einem Teil des Landes, in dem sich der Staat aus der Verantwortung für die Gesundheitsversorgung praktisch zurückgezogen hat. Sie verheißen auch Errettung bei der bevorstehenden Apokalypse. Und sie fordern von ihren Mitgliedern Geld, Loyalität und strikte Verschwiegenheit.
Sanban Purenpai (Drei Ränge von Dienern), eine verbotene christliche Sekte, die nach eigenen Angaben mehrere Millionen Anhänger hat, hielt vor rund zehn Jahren in Huaide und anderen Städten im Norden Einzug. Sie warb Bäuerinnen wie Yu Xiaoping und auch ihre Nachbarin Frau Kuang von den staatlich zugelassenen Kirchen ab. Ihr Untergrundnetzwerk leistete in isolierten Dörfern seelsorgerischen und sozialen Beistand. Damit trat sie allerdings in Konkurrenz zu ihrer Erzrivalin Dongfang Shandian (Blitz aus dem Osten), die ebenfalls versuchte, Frau Yu, Frau Kuang und andere zu ihrer Heilslehre zu bekehren. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Polizei ging rabiat gegen beide Gruppen vor. Der Wanderprediger und Gründer von Sanban Purenpai, Xu Shuangfu, der nach eigenem Bekunden über göttliche Kräfte verfügt, wurde im vergangenen Sommer zusammen mit vielen seiner Gefährten verhaftet. Nach Angaben der Polizei wurde gegen Herrn Xu ermittelt, weil er die Hinrichtung religiöser Gegner angeordnet haben soll.
Solche Maßnahmen behindern jedoch nur selten die Ausbreitung von Untergrundkirchen und Sekten. Ganz im Gegenteil: Gerade aus der staatlichen Repression leiten diese ihre Daseinsberechtigung ab. »Peking kann religiöse Gruppen, die nicht direkt seiner Kontrolle unterstehen, nicht dulden«, erklärt Susanna Chen, eine Forscherin in Taiwan, die sich mit den Sekten in ländlichen Gebieten befasst hat. »Aber sobald eine Gruppe erfolgreich zerschlagen wird, wachsen zwei neue nach. Und die sind dann oft gefährlicher als ihre Vorgängerinnen.«
Huaide liegt im Herzen der chinesischen Kornkammer. Der Mais wächst drei Meter hoch auf baumlosen Ebenen, die sich nach Osten bis zur nordkoreanischen Grenze erstrecken, hier und da unterbrochen von einer stillgelegten Fabrik oder einem schmucken Ziegeldorf. Nach der Herbsternte, wenn auf den Feldern nur die Maisblätter zurückbleiben, fällt die Stadt in einen schläfrigen Winterrhythmus. Aber unter der ruhigen Oberfläche gärt ein spiritueller Aufruhr.
Yu Xiaoping, die hier als Bäuerin und Verkäuferin lebt, wuchs ohne religiöse Bindung auf. Ihr Vater war Mitglied der Kommunistischen Partei und Verwalter einer Grundschule. Er lehnte Religion ab, besonders als er entdeckte, dass seine Schwester regelmäßig zur Kirche ging. Vor zehn Jahren starb er an Bauchkrebs und hinterließ ein kleines Stück Land, eine winzige Pension und eine sterbende Ideologie. Frau Yu fand eine Teilzeitbeschäftigung auf dem Bauernmarkt des Ortes. Gemeinsam mit ihrer Schwester oder ihrer kleinen Nichte schlief sie Seite an Seite neben ihrer Mutter auf dem Kang, der Familienschlafstatt in ihrer Zwei-Zimmer-Behausung. Sie litt unter ständiger Geldnot und unter der Enge.
An einem Wintertag des Jahres 1995 lud ihre Tante sie ein, den Gottesdienst im rund 65 Kilometer entfernten Gongzhuling zu besuchen. Dort befand sich die nächstgelegene, staatlich zugelassene protestantische Kirche. Aus einer Laune heraus stimmte Frau Yu zu. Sie war beeindruckt, als sie in dem einfachen, in beige und weiß gehaltenen Gemeinderaum 700 Menschen vorfand, die wie mit einer Stimme beteten und sangen. Frau Yu kam in der folgenden Woche wieder, dieses Mal fuhr sie allein mit dem Bus. Bei ihrem dritten Besuch ließ sie sich taufen.
Heute ist Frau Yu 36 Jahre alt, zierlich, hat rosige Wangen und kichert viel und gern. Aber sie bekennt sich zu einem von Gott auferlegten Lebenszweck. »Bis zu dem Tag, an dem ich zu Gott fand, irrte ich ziellos umher«, erläutert sie. »Plötzlich klärte sich mein Geist und ich fühlte mich frei von Schuld und Sünde.«
In Huaide gab es keine Kirche. Aber schon bald erhielt Frau Yu Einladungen von neuen Freunden, an Gottesdiensten in Privathäusern teilzunehmen. Die Dorfbewohner diskutierten über die Bibel. Manchmal hielt ein auswärtiger Pfarrer eine Predigt. Viele der Gastprediger kritisierten die staatlich autorisierte Kirche, die Frau Yu besucht hatte. Vor allem stellten sie die Vorschrift in Frage, dass Gemeindemitglieder mindestens 18 Jahre alt sein müssen. Es sei doch gerade Gottes Wunsch, dass auch Kinder das Evangelium hören. Die staatliche Meldepflicht für Kirchenmitglieder störte Frau Yu ebenso wie die Regelung, dass Funktionäre der Kommunistischen Partei wie ihr verstorbener Vater dem Christentum abschwören sollten. »Religion trägt man im Herzen, sie lässt sich nicht in Vorschriften fassen«, findet Frau Yu.
Eines Tages kam ein Geistlicher zu Besuch, an den sich Frau Yu wegen seines ausgeprägten südlichen Akzents sehr gut erinnern kann. Seine Kritik an den staatlich unterstützten Kirchen war vernichtend: Ihre Auslegungen der Heiligen Schrift seien veraltet und viel zu wörtlich und hätten der heutigen Welt nichts zu sagen. Er legte Frau Yu nahe, über eine Alternative nachzudenken, die so sagte er die Lehren Jesu mit Leben erfülle: Sanban Purenpai.
Xu Shuangfu, der nach Behördenangaben mit Geburtsnamen Xu Wenkou heißt, ist Unternehmer in Sachen Religion. Der heute über Sechzigjährige gründete die Sekte Sanban Purenpai gegen Ende der achtziger Jahre in der Provinz Henan und kümmerte sich persönlich um ihre Ausbreitung, obwohl er zwischenzeitlich eine Haftstrafe verbüßte. Der hierarchische Aufbau der Sekte beruht auf dem Grundprinzip der Dreiheit, das laut Herrn Xu die gesamte Heilige Schrift durchzieht: von den drei Dienern Gottes (Moses, Aaron und Pashur, dem Stammvater einer Priesterfamilie) im Alten Testament bis hin zu den drei Freunden Jesu (Martha, Maria und Lazarus) im Neuen. Herr Xu steht an der Spitze der Hierarchie und spricht so sagt er selbst wie Moses mit Gott.
Die Gruppe bekennt sich zu einer chiliastischen Lehre vom Tausendjährigen Reich Christi auf Erden nach seiner Wiederkunft vor dem Weltende. Anhänger berichten, dass Herr Xu die Wiederkunft Jesu und die Vernichtung der Ungläubigen für das Jahr 1989 prophezeit hatte, dann noch einmal für 1993. Als das nicht eintraf, erklärte Herr Xu, dass selbst Gott mit seiner Schätzung, wie lange die Nachkommen Abrahams in Ägypten bleiben würden, falsch gelegen habe. Einen dritten Termin für die Wiederkunft nannte er nicht.
Die Zukunft konnte Herr Xu zwar nicht voraussagen, aber in das Leben seiner bäuerlichen Anhänger griff er tief ein. Im Leben von Frau Yu spielte die Sekte eine führende Rolle, durchaus vergleichbar mit dem Einfluss, den die Kommunistische Partei in ihrer Blütezeit, als sie Menschen nach maoistischer und marxistischer Lehre formte, auch auf das Leben ihres Vaters hatte.
In Sanban Purenpai war Frau Yu einer »Mitarbeiterin« unterstellt, die sich Xing Zhi oder »Glückliches Streben« nannte. Xing Zhi organisierte Gebetsversammlungen, sie sammelte Spenden und sie erklärte Frau Yu, was sie anziehen, was sie essen und wann sie morgens aufstehen sollte. Sie brachte die neue Anhängerin auch mit einem anderen ihrer Schützlinge, Herrn Zhang Qinghai, zusammen. Frau Yu und Herr Zhang lasen zusammen in der Bibel, sie diskutierten ihre Ziele und sie verliebten sich in einander. Sie heirateten vor zehn Jahren, sechs Monate nach ihrem ersten Treffen. »Wir müssen nicht innerhalb der Gruppe heiraten«, erklärt Frau Yu. »Aber Xing Zhi sagte, es sei ideal, wenn man in der Gruppe jemanden findet, den man liebt.«
Wie Frau Yu hatten auch Kuang Yuexia und ihr Mann Cai Defu erste religiöse Erfahrungen in einer vom Staat zugelassenen Kirche gemacht. Aber weil die Entfernung so groß war und weil sie durch die Erziehung ihrer zwei Mädchen und ihres Jungen stark beansprucht waren, konnten sie nur selten die Kirche besuchen.
Dann, im Jahr 1995, wurde bei Herrn Cai ein Gehirntumor festgestellt. Er unterzog sich einer Operation, für die die Familie einen Kredit von umgerechnet knapp 1500 Euro aufnehmen musste. Weil er danach an Sprachstörungen litt, empfahlen die Ärzte weitere Behandlungen. Aber die Familie konnte sich keine zusätzlichen Arztrechnungen mehr leisten. So wurde er nach Hause entlassen, wo er sich langsam erholte.
Sanban Purenpai entsandte ihre Organisatorin vor Ort, Chen Zhihua, die aus der Bibel vorlas und mit Frau Kuang und dem bettlägerigen Herrn Cai Kirchenlieder sang. Mitglieder der Gemeinschaft halfen Frau Kuang, ihre zwei Hektar Land zu bestellen, solange ihr Mann krank war.
Frau Kuang ist 46 Jahre alt. Sie spricht in nervösen Monologen, die oft in Tränen übergehen, wenn sie auf das Thema Religion kommt. Sie sagt, Sanban Purenpai habe ihrem Leben Halt und ein Ziel gegeben. »Ich liebte die Gesänge und die Disziplin«, erinnert sie sich. »Früher war ich oft wütend auf die Kinder, bis man mir beibrachte, meine Persönlichkeit zu ändern. Ich habe gelernt, den Hass aus meinem Herzen zu verbannen.« Dank der empfangenen Lehren habe sich der Gesundheitszustand ihres Gatten verbessert. Die Sekte predige Ruhe im Angesicht der Prüfung, und Herr Cai habe gelernt, den Blutzustrom zu seinem Gehirn zu kontrollieren. So seien die Blutungen zurückgegangen, die immer auftraten, wenn Herr Cai unter Stress stand. Und er konnte sich wieder der Feldarbeit widmen. »Dass wir die Bibel besser verstehen lernten, hat zu Ergebnissen geführt, die mit teuersten Medikamenten nicht möglich gewesen wären«, ist Frau Kuang überzeugt.
Vor einigen Jahren wurden Frau Yu und Frau Kuang zu einem Hausgottesdienst bei Frau Chen geladen. Vor Ort erfuhren sie, dass der »höchste Diener«, Herr Xu Shuangfu, in eigener Person eingetroffen war, um eine Predigt zu halten. In seiner Gegenwart wagte niemand, ein Wort zu sprechen. Sein Aussehen hat sich Frau Kuang stärker eingeprägt als seine Worte. Er hatte volle Wangen, eine sehr helle Haut sowie ein verklärtes Lächeln, wirkte halb chinesisch, halb europäisch. »Er sah aus wie Jesus«, erinnert sie sich.
Seit Beginn der Wirtschaftsreformen in den achtziger Jahren haben die Maßnahmen, die religiöse Aktivitäten in China unterbinden sollten, vor allem in den Städten nachgelassen. Aber die Meldepflicht und stetig wiederkehrenden Schikanen schränken die Religionsgemeinschaften in ihrer Entwicklung ebenso ein wie der chronische Priestermangel. Die fünf offiziell anerkannten Bekenntnisse Buddhismus, Taoismus, Islam, Katholizismus und Protestantismus tun sich schwer, Anhänger zu gewinnen. Offenbar soll sich keine Religion so viel Einfluss verschaffen können, dass sie der Kommunistischen Partei Konkurrenz machen könnte.
Verlierer sind die Menschen am Rande der Gesellschaft, die den größten Bedarf an spirituellem Beistand haben: Arbeitslose, Migranten, die aus ländlichen Gebieten in die großen Städte gezogen sind, und die kleinen Bauern auf dem Lande. Ihnen nützen Kirchen, die nach dem Gesetz gar nicht für sie da sein können, wenig. Eine Bewegung, die sich diese Lücke zunutze machte, war Falun Gong, in deren Lehre traditionelle chinesische Qigong-Übungen mit Meditation verbunden werden. Millionen loyaler Anhänger leisteten unbeugsamen, jedoch friedlichen Widerstand, als die Regierung die Bewegung 1999 zerschlagen wollte.
Christliche Sekten bilden und verändern sich in den ländlichen Regionen, wo sie sich um dieselben benachteiligten Gruppen bemühen. »Religiöse Kulte sprechen vor allem die Menschen an, um die sich die Regierung nicht mehr kümmert«, erklärt Kang Xiaoguang, Politikwissenschaftler an der Quinghua-Universität in Peking. »Sie übernehmen die soziale Fürsorge, welche die Regierung nicht mehr gewährleistet. Sie geben den Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit«. Es gibt die Huhan Pai (Rufer) und die Lingling Jiao (Geistkirche), die Mentu Hui (Jüngergemeinschaft) und die Pai Yang (Weiße Sonne), die Quanfanmian Jiao (Ganzheitskirche) und die Ku Pai (Weinende Gruppe). Viele sind apokalyptisch. Einige sind stark antikommunistisch. Sanban Purenpai und Dongfang Shandian zählen mit Mitgliederzahlen, die nach eigenen Angaben in die Millionen gehen, zu den größten. Wichtiger als ihre jeweiligen Lehren und Praktiken ist wahrscheinlich ihre schiere Masse. Sie tauchen plötzlich auf und schockieren die Machthaber mit ihrer Geheimhaltung, Finanzkraft, engmaschigen Organisation und manchmal mit ihrer Bereitschaft zur Gewaltanwendung.
Für die Kommunistische Partei ruft dieses unangenehme Erinnerungen an Chinas Vergangenheit wach. Chiliastische Bewegungen waren Vorboten des Untergangs von Dynastien, seit die »Gelben Turbane« Ende des zweiten Jahrhunderts zum Fall der Han-Dynastie beitrugen. Im 19. Jahrhundert schwächten der Taiping- und der Boxer-Aufstand die Qing-Dynastie, und der damit einhergehende Verlust der sozialen Ordnung verhalf schließlich den Kommunisten an die Macht.
Das »Büro 610« war von der Staatsmacht ursprünglich geschaffen worden, um gegen Falun Gong vorzugehen. Inzwischen hat die Regierung das Mandat dieser Behörde erweitert. Es richtet sich jetzt auch gegen ländliche Religionsgemeinschaften. »Eine größere Bedrohung als Falun Gong stellen unterdessen Organisationen im ländlichen Raum dar, die mit der Partei um die Herzen der Menschen wettstreiten«, heißt es in einem Dokument aus dem Büro 610. »Einige sind sogar die Speerspitzen einer Bewegung, welche die Kommunistische Partei aus der Macht drängen will.«
Ganz oben auf der Abschussliste des Büros 610 steht Dongfang Shandian. Die Gruppe wurde 1990 von einer Frau Deng gegründet, die behauptet, der als Frau wiedergekehrte Jesus Christus zu sein. Dongfang Shandian wirbt Anhänger hauptsächlich aus anderen religiösen Gemeinschaften ab. Dabei sind Bespitzelung, Entführung und Gehirnwäsche gängige Praxis, wenn man zwei Personen Glauben schenken darf, die nach eigenen Angaben von der Gruppe gewaltsam festgehalten wurden. Dongfang Shandian wurde zwar vor einigen Jahren verboten. Das hat sie aber in ihrer Expansion nicht aufhalten können, und nach Einschätzung ausländischer Beobachter ist sie heute die größte religiöse Untergrundgruppe in China.
In Huaide nahm Dongfang Shandian wie an anderen Brennpunkten im Nordosten auch die stärkste religiöse Kraft vor Ort, nämlich Sanban Purenpai, ins Visier. Anfang 2003 rekrutierte Dongfang Shandian einige Neumitglieder in Huaide. Diesen wurden dann Bekehrungsquoten und ein enger Zeitplan vorgegeben, um möglichst viele Seelen zu retten, bevor der weibliche Jesus die Ungläubigen vernichten würde.
Frau Yu und ihr Mann wurden von zwei ehemaligen Mitgliedern ihrer eigenen Sekte angesprochen. Sie erhielten eine eigens angefertigte tausendseitige Version der Bibel und ein Gesangbuch im gelben Einband. Anhänger von Dongfang Shandian besuchten sie häufig, um mit ihnen über die Schriften zu sprechen und sie zum Übertritt zu bewegen. »Wenn wir der einen Person keine Zusage gaben, schickten sie einfach eine andere, wie Boten des Teufels«, erzählt Frau Yu.
Zhang Chengli, ein ortsansässiger Bauer und Funktionär von Dongfang Shandian, leitete das Team, das Frau Kuang und Herrn Cai bekehren sollte. Nach Auskunft von Frau Kuang verfolgte er sie bis in ihre Wohnung und auf die Felder. Seine Botschaft war klar. »Er erklärte uns, dass Gott uns schützen werde, wenn wir Dongfang Shandian beitreten«, berichtet Frau Kuang. »Wenn wir aber nicht beitreten, würden wir sterben.« Eines nachts sei er nach Mitternacht mit einem Megaphon vor ihrem Schlafzimmer erschienen und habe durch das Fenster gerufen: »Bekehrt euch oder ihr werdet sterben!« Bei einer anderen Gelegenheit stutzte er einer Taube die Flügel und warf das Tier in ihren Gemüsegarten. Der Vogel hüpfte herum, bis ihn Frau Kuang einfing, um ihn in den Kochtopf zu stecken. Als sie das Tier untersuchte, fand sie an seinem Bauch einen Zettel, auf dem zu lesen stand: »Wer das Licht nicht sehen kann, wird sterben.«
Um Herrn Zhang los zu werden, goss ihm Frau Kuang schmutziges Wasser über den Kopf. Herr Cai ließ die Lehren seiner eigenen Sekte zum Thema Gelassenheit außer Acht, versetzte Herrn Zhang einen Faustschlag und zerfetzte die Reifen seines Fahrrads mit einem Metallrohr. Als Herr Zhang immer noch nicht aufgab, zogen sie in Erwägung, die Polizei einzuschalten. Aber sie gehörten ja selbst einer christlichen Untergrundbewegung an. Und sie entschieden, dass dies moralisch nicht vertretbar sei. »Wie schlecht er auch sein mochte«, sagt Frau Kuang, »ich konnte doch nicht einen Mitchristen bei der Polizei denunzieren.«
Sanban Purenpai, die Sekte der drei Ränge der Diener, hatte in mehreren Provinzen des Nordostens mit Mitgliederschwund zu kämpfen. Als daher Xing Zhi, ihre Koordinatorin in Huaide, von der Kampagne des Herrn Zhang erfuhr, schritt sie entschlossen zur Tat. Laut Frau Kuang forderte sie Herrn Cai auf, sie zu benachrichtigen, sobald Herr Zhang wieder auftauchte. Frau Yus Mann wurde als Wache postiert. Als Herr Zhang mit dem Fahrrad vorbeifuhr, wurde er abgefangen, gefesselt und geknebelt und in den Laderaum eines weißen Lieferwagens geworfen, der sich dann mit hoher Geschwindigkeit entfernte. Das berichten Anwohner, die Zeugen der Entführung waren. Die Mörder schnitten Herrn Zhang Augen, Nase und Ohren aus dem Gesicht, bevor sie sich seiner Leiche entledigten. Das war die Visitenkarte der Sanban Purenpai, die mit mehreren grausamen Morden in Verbindung gebracht werden. Die Polizei konnte den Toten nur deswegen identifizieren, weil er ein Zeugnis seines Sohnes von der Grundschule in Huaide in der Hosentasche hatte.
Daraufhin schlugen die Ordnungskräfte zu. Noch am gleichen Abend wurden Frau Yu und ihr Mann sowie Frau Kuang und Herr Cai, ihre Nachbarin Frau Chen und weitere Sektenmitglieder zum Polizeipräsidium der Provinz Jilin gebracht. Frau Kuang war so aufgeregt, dass sie sich auf dem Rücksitz übergeben musste. Frau Yu und Frau Kuang erzählten später, dass sie an Metallstühle gefesselt und die ganze Nacht hindurch in getrennten Räumen verhört wurden. In den frühen Morgenstunden, so erinnern sich beide Damen, hörten sie Frau Chen schreien und stöhnen. Im Morgengrauen brach die Polizei ihre Vernehmung ab und entließ Frau Yu und Frau Kuang mit der Anweisung, über ihre Festnahme Stillschweigen zu bewahren. Kurz danach erfuhren die beiden Frauen, dass Frau Chen im Polizeigewahrsam gestorben war. Der Familie von Frau Chen teilte die Polizei mit, sie habe einen »plötzlichen Herzanfall« erlitten.
Fast ein Jahr nach ihrer Festnahme befinden sich ihre Ehemänner immer noch im Gefängnis, obwohl sie bisher keines Verbrechens beschuldigt worden sind. Xing Zhi, die Koordinatorin der Sekte, wurde ebenfalls verhaftet. Der Gründer der Gemeinschaft, Xu Shuangfu, wurde im vergangenen Sommer nach langer Fahndung gefasst. Christliche Aktivisten im Ausland protestierten gegen die Verhaftung, die sie als Beweis für die harte Unterdrückung der Hauskirchen anführten. In einer schriftlichen Stellungnahme teilte Chinas Amt für öffentliche Sicherheit mit, dass Herr Xu des Auftragsmordes und der Führung einer illegalen Vereinigung angeklagt sei.
Frau Kuang lebt jetzt allein in Huaide, denn ihre Kinder sind in eine Großstadt gezogen, um dort Arbeit zu suchen. Sie sagt, sie habe Angst vor Vergeltung, entweder seitens Dongfang Shandian oder seitens der Polizei. Vor einiger Zeit sah sie zwei Polizeibeamte in ihren Hof kommen. Sie vermutete, dass sie noch einmal verhört werden sollte. Und aus schierer Angst trank sie in Gegenwart der Beamten eine Flasche Rattengift. Man brachte sie ins Krankenhaus, wo ihr der Magen ausgepumpt wurde.
Frau Yu lebt weiter mit Mutter und Schwester zusammen. Vor der Tür rostet der Holzkohlengrill vor sich hin, auf dem ihr Mann Fleisch für den Straßenverkauf briet. Regenwasser und Schmutz sammeln sich darin. Die Polizei hat Frau Yus Bibel beschlagnahmt. Trotzdem betet diese häufig für die Freilassung ihres Mannes. Die Gewalt in ihrem Dorf hat ihren Glauben an Xu Shuangfu nur gestärkt. Er habe schließlich schon immer geweissagt, dass böse Mächte und teuflische Sekten im entscheidenden Moment um Einfluss ringen würden. »Genau dies geschieht«, glaubt sie, »wenn die Welt zu Ende geht.«
Religion in China:Zahllose ChristenDie chinesische Regierung erkennt fünf Glaubensgemeinschaften an: Buddhismus, Taoismus, Islam, Katholizismus und Protestantismus. Christen müssen entweder Mitglied der »Katholischen Patriotischen Vereinigung« sein, welche die Autorität des Vatikans ablehnt, oder der »Protestantischen Drei-Selbst-Bewegung«, die versucht, alle protestantischen Konfessionen ungeachtet ihrer inhaltlichen Unterschiede unter ein Dach zu bringen. Nach amtlichen Quellen gibt es in China fünfzehn Millionen eingetragene Protestanten und fünf Millionen Katholiken. Der Vatikan schätzt die Gesamtzahl der Katholiken, die entweder staatlich zugelassene Kirchen oder im Untergrund tätige Hauskirchen besuchen, auf zwölf Millionen. Die Angaben zur Zahl der Protestanten, die jenseits staatlicher Kontrolle ihre Religion ausüben, gehen weit auseinander: Sie liegen zwischen 30 und 80 Millionen, und dies in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Auch wenn die Schätzungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist man sich doch darüber einig, dass die Zahl der praktizierenden Christen ebenso zunimmt wie die der Sekten in ländlichen Regionen, die sich um eine charismatische Führungsperson bilden, Anleihen bei der christlichen Lehre nehmen und illegal operieren. Zu den größten zählen Dongfang Shandian, die 1990 gegründet wurde und die bereits erfolgte Wiederkunft Jesu in Frauengestalt verkündet, und die der Drei Ränge der Diener, Sanban Purenpai, die in den späten achtziger Jahren in der Provinz Henan gegründet wurde. Die beiden rivalisierenden Sekten führen einen erbitterten Wettstreit um Mitglieder. Beide sind verboten. Joseph Kahn |
aus: der überblick 01/2005, Seite 39
AUTOR(EN):
Joseph Kahn:
Joseph Kahn ist Reporter der »New York Times« und leitet deren Büro in Peking. Wir entnehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der »International Herald Tribune« vom 26. 11. 2004.