RECHT IN BOTSWANA
Fast könnte man sagen, wir leben hier in Botswana zwei Leben. Gerade jetzt, da ich dies schreibe, bin ich an meinem
Schreibtisch in der Stadt. Aber am Wochenende werde ich wohl in meinem Heimatdorf sein. Üblicherweise sagen wir: "Ich
gehe nach Hause." Nach Hause bedeutet eigentlich: dorthin, woher ich stamme. Erst um das Jahr 1966 wurde Gaborone zur
Hauptstadt erkoren. Vor dieser Zeit war es ein Dorf und jedermann gehörte zu einem Dorf. Heute lebe ich zwei
unterschiedliche Leben. Wenn ich jetzt in die Stadt komme, bin ich ein Rechtsanwalt und unterstehe dem Allgemeinen Recht
- Common Law, wie man sagt. Wenn ich ins Dorf gehe, kehre ich in mein traditionelles Leben zurück, und meine Kollegen,
Freunde, Eltern und alle verstehen das. Ich bin Teil davon.
Es gibt bei uns zwei Lebenswelten: Gaborone, die Stadt, und Mogoditshane, das Dorf. In Mogoditshane gibt es kein
fließend Wasser, keinen Strom, keinen Küchenherd, kein Telefon (seit ein paar Jahren nehme ich allerdings ein Handy mit
in mein Heimatdorf Mokobeng). Aber ich muss nur hinüber nach Gaborone fahren und habe in meinem Büro alles, was zur
modernen Großstadt gehört - bis hin zum E-Mail-Anschluss.
von Patrick Kgoadi
Wir haben hier zwei Rechtssysteme: Im Dorf gilt das, was man im Grunde Gewohnheitsrecht nennen würde. Das ist das Recht, unter dem ich geboren und aufgewachsen bin, unter dem schon mein Großvater und Urgroßvater gelebt haben, und alle verstehen und haben verstanden, dass sie sich an die Sitten, Normen, Moralgrundsätze und strengen Regeln unserer Tradition halten müssen.
Aber jetzt hier in der Stadt stehe ich unter anderen Regeln: Ich muss Geld auszahlen, muss mir Essen kaufen, muss Miete zahlen, ein Auto fahren, Institutionen aufsuchen, die man früher nicht kannte. Was wir das Allgemeine Recht nennen, ist ein fremdes Recht für uns.
Als Anwalt finde ich es erstaunlich, dass ein Mensch wirklich zwei Leben zugleich leben und trotzdem zurecht kommen kann. Aber ich denke, dabei gibt es eine Menge Widersprüche. Wenn ich als Anwalt zum staatlichen Gericht gehe, verstehe ich die Prinzipien, die Gesetze und alles. Ich könnte so nicht zu einer traditionellen Gerichtsverhandlung gehen, weil ich in einer völlig anderen Lehre ausgebildet worden bin. Eine traditionelle Gerichtsverhandlung läuft ganz anders ab; es ist ein Gegensatz wie schwarz und weiß. Dort gelten andere Normen und Prinzipien. Die gesamte Gemeinde ist das Gericht und der Chief verkündet schließlich das Recht, wenn alle, die wollten, ihre Ausführungen gemacht haben.
Wenn jemand aus einem Dorf ein Vergehen begangen hat, kommt es vor, dass er sowohl vor das staatliche wie auch vor das traditionelle Gericht muss. Fast zwangsläufig wird er eines von den beiden Gerichten nicht begreifen. Oder nehmen wir das Thema Heirat. Auch da herrschen zweierlei Prinzipien. Moral und Normen unterscheiden sich. Nach dem Zivilrecht muss man die Eltern nicht einmal fragen, wenn man heiraten will. Um die Geliebte oder den Geliebten zu ehelichen, geht man zum Priester oder Standesbeamten des Distrikts. Man braucht nur zwei Zeugen und kann heiraten. Nach traditionellem Recht ist aber die gesamte Familie beteiligt. Ich heirate nicht meine Frau, sondern ihre gesamte Familie. Die meisten heiraten doppelt, nach dem staatlichen Zivilrecht und dem traditionellen Recht, allein schon, um nicht einen Bruch mit der elterlichen Familie zu vollziehen.
Wir bekommen aber zunehmend Probleme mit der Interpretation des traditionellen Rechts. Das ist eine Folge des Wandels in unserer Gesellschaft. Die Landbevölkerung lebt zwar noch weitgehend nach traditionellem Gewohnheitsrecht, aber sie entfernt sich sichtbar von den alten Sitten. Wie soll man für Menschen die traditionellen Regeln interpretieren, wenn der eine aus dem Norden und die andere aus dem Süden Botswanas kommt und beide sich in der Stadt kennen lernen? Entfernung kann Verschiedenes bedeuten: räumliche Entfernung oder Entfernung von Traditionen, weil ich in einer veränderten Umgebung aufwachse und weil sich traditionelle Sitten als Folge des Wandels selbst wandeln. Auch in der Stadt verinnerlichen wir nicht das gesamte Allgemeine Recht, weil wir noch teilweise im Gewohnheitsrecht leben, und wir entfernen uns vom Gewohnheitsrecht, weil wir mehr und mehr am Allgemeinen Recht teilhaben. Das führt oft zu Konflikten infolge unterschiedlicher Interpretationen. Tatsächlich ist ein großer Teil des traditionellen Lebens zerstört und eine Menge neuer Kräfte wirken sich aus; das Bildungssystem hat uns verändert, soziale Normen haben sich geändert.
Nach unserer Tradition respektieren wir das Alter. Wir achten die Weisheit des Alters. Wenn zum Beispiel in der Kgotla, der Volksversammlung, ein alter Mann aufsteht und seinen Hintergrund, seine Erfahrungen zu bestimmten Dingen schildern will, wird er - auch wenn er kein perfekter Redner ist - respektiert, ja geradezu verehrt. Und wenn wir beispielsweise eine Kuh schlachten, werden bestimmte Stücke Fleisch für die Alten reserviert. In meinem Alter beispielsweise darf ich keine Nieren essen. Die sind den Alten vorbehalten. Und wenn ich Hirsebier aus einer Kürbis-Kalabasse trinken will, kann ich nicht gleich anfangen zu trinken, sondern muss die Kalabasse zunächst bestimmten Altersgruppen reichen. So hat unsere Gesellschaft ihr Überleben gesichert und für das Alter gesorgt. Das Dorf besteht nicht aus Kleinfamilien, es ist die Großfamilie, die für ihre einzelnen Mitglieder sorgt. So wird auch jemand, der im Alter nach neuem Begriff allein stehend ist, selbstverständlich von allen versorgt, wenn er durch das Dorf geht. Und noch schicken die meisten Söhne und Töchter, wenn sie in der Stadt ihren Lohn oder ihr Gehalt bekommen haben, selbstverständlich Geld nach Hause zu der Großfamilie. Noch haben wir kein staatliches soziales Netz. Aber wenn der Trend so weiter geht, gibt es keine andere Lösung, als dass der Staat einspringt und für den Erhalt der Gesellschaft sorgt, für die Kinder und die Alten.
Es gibt jetzt schon Leute, die sind endgültig vom Dorf weggezogen, und leben eine andere Art von Leben. So brechen unsere Traditionen zusammen. Viele Dinge werden unserer Gesellschaft beinahe übergestülpt. Wir entwickeln uns nicht, wir passen uns an. Und es ist schwer, zur Tradition zu stehen, wenn man tatsächlich ausländische Normen und Prinzipien übernimmt, aber von einem erwartet wird, dass man gleichzeitig in beiden Lagern lebt.
aus: der überblick 01/2000, Seite 92
AUTOR(EN):
Patrick Kgoadi:
Patrick Kgoadi ist Rechtsanwalt und Notar in Gaborone, Botswana.