Wer gedenkt wem (nicht)?
Zum hundersten Mal jährte sich am 12. Januar der Beginn eines Vernichtungskriegs der deutschen “Schutztruppe” in “Deutsch- Südwestafrika”. Nicht nur die Aufklärung über das Geschehene und die Erinnerungsarbeit in Deutschland ist anzumahnen. Es lohnt sich auch der Blick auf den Umgang mit der Geschichte im heutigen Namibia.
von Henning Melber
Für die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia ist das Jahr 2004 von besonderer Bedeutung. Denn vor 100 Jahren endete die Niederschlagung des bewaffneten Widerstands der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft im ersten Genozid des Jahrhunderts. Zwischen 1884 und 1914 hat das Deutsche Reich mit zerstörerischer Brachialgewalt die Fundamente kolonialer Fremdherrschaft und die Grundlagen der Apartheid geschaffen. Das mahnt zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zu einer klaren Bestimmung der heutigen Beziehungen zwischen dem seit 1990 unabhängigen Namibia und dem Nachfolgestaat des Deutschen Reiches. Beides ist bisher nur halbherzig geschehen.
Zur Zeit ist Kuaima Riruako der oberste traditionelle Herrscher der Herero. In seiner Rede Ende August 2002 im Rahmen des alljährlich stattfindenden Herero-Tages im zentralnamibischen Okahandja, an dem der Ahnen gedacht wird, stellte er unmissverständlich klar: “Deutschland schuldet uns Reparationen. Sonst bleibt uns nur noch der simbabwische Weg offen.” Er fuhr fort: “Ich will das Volk der Herero nicht glorifizieren, aber keine Volksgruppe in diesem Land hat in der gleichen Weise gelitten wie die Herero. Als die Deutschen das Land und Vieh nahmen, nahmen sie es den Herero weg. Deshalb ist die namibische Landfrage eine Herero-Frage.” Mittlerweile zum achtzigsten Male seit der Beerdigung des legendären ersten Herero-Oberhaupts Samuel Maharero und anderer Führer wurde an der Grabstätte den Vorfahren die Ehre erwiesen und insbesondere des Krieges gegen die Deutschen und seiner Folgen gedacht.
Riruako ist Initiator und Wortführer der vor US-amerikanischen Gerichten 2001 angestrengten Zivilklage gegen die deutsche Bundesregierung auf Entschädigung für die Folgen deutscher “Schutzherrschaft”. Die Bundesregierung verweigert jedoch die Annahme der inzwischen zurückgezogenen Klageschrift. Forderungen richten sich auch gegen einige Firmen, denen aufgrund ihrer damaligen kolonialen Verwicklungen eine Mitverantwortung unterstellt wird.
Zugleich ist der Herero-Herrscher eine prominente innenpolitische Figur in Namibia. Er wirkte vor der Unabhängigkeit in der Interimsregierung von Südafrikas Gnaden mit. Danach agierte er in der “Demokratischen Turnhallen-Allianz” (DTA), der einzigen relevanten Oppositionspartei während der beiden ersten Legislaturperioden der von der South West Africa People’s Organization (SWAPO) gestellten Regierung. Nachdem der populäre SWAPO-Abtrünnige Ben Ulenga den Congress of Democrats (CoD) geründet hatte, dessen Wahlergebnis Ende 1999 die DTA-Stimmen knapp übertraf und die Opposition spaltete, driftete die DTA - auch durch wachsende interne Querelen - zunehmend ins Abseits.
Mitte 2003 überraschte Kuaima Riruako mit einer Reaktivierung der National Unity Democratic Organisation (NUDO) als eigenständige (Herero-)Partei; sie war zuvor Teil der DTA. Riruako verließ die DTA, die unter den Herero eine relativ große Gefolgschaft besaß, und führt nun die de facto ethnisch exklusive NUDO in die Kampagne für die zum Jahresende 2004 fällige Parlaments- und Präsidentenwahl. Viele der bisher in der DTA engagierten Herero sind ihm dabei gefolgt. Im geschichtsträchtigen Jahr 2004 herrscht somit Zwist auf mehreren Ebenen, wobei die Tagespolitik mit dem Umgang mit lebendiger Vergangenheit vermengt wird.
Die unvermeidliche Auseinandersetzung mit dem hundertjährigen Trauma wurde - sofern überhaupt - in Namibia höchst unterschiedlich vorbereitet. Es gibt keinen tragfähigen kleinsten gemeinsamen Nenner - auch wenn dafür im Vorfeld des Jahrestages gezielte und angestrengte Bemühungen bei Repräsentanten diverser Gruppierungen zu erkennen waren.
Ganz sicher war jedoch der vom traditionellen Herero-Oberhaupt schon frühzeitig erhobene Exklusivitätsanspruch der Herero einer breiten Koalitionsbildung aus mehreren Gründen abträglich. Zum einen rückte er die Entschädigungsfrage ins Zentrum, nicht den Versöhnungsgedanken. Trotz der Hartnäckigkeit, mit der diese Klage betrieben wird, sind jedoch Zweifel an deren tatsächlichen Erfolgsaussichten unter formaljuristischen Gesichtspunkten durchaus berechtigt. Sie lässt sie sich eher als symbolische Forderung verstehen, auch materielle Wiedergutmachung zu leisten.
Angenommen, die Klage hätte wider Erwarten dennoch Erfolg, bliebe letztlich noch die spannende Frage, wem die Kompensation zugute käme und wie die Empfänger damit umgingen. Dass die Herero-Perspektive und die von dieser geleiteten Klage einen auf die eigene Gruppe reduzierten Monopolanspruch bekräftigt, düpiert die vom Völkermord ebenfalls betroffenen Nama-Gruppen. Sofern die Feierlichkeiten über die Gedenkfeiern innerhalb der eigenen lokalen Nama-Gemeinschaften - wie unter den Bondelswarts in Warmbad, Südnamibia, und den Witbooi in Gibeon, der Hauptstadt der Region Namaland - hinaus gehen, sind nur wenige Nama auch bei den allgemeinen Erinnerungsakten präsent. Daran zeigt sich, wie sehr die Nama an den Rand gedrängt werden, während die Herero seit einiger Zeit wieder in den Vordergrund treten.
Der heutige Grad eklatanter Verelendung unter den Nama kann nach wie vor als eine Langzeitfolge der Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen durch die deutsche Kolonialarmee gesehen werden: Neben den hohen Opfern an Menschenleben in den Konzentrationslagern an der Küste waren auch Deportationen einzelner Verbände bis in die westafrikanischen Kolonialgebiete (Kamerun und Togo) des deutschen Reiches eingeschlossen. So haben die Nama gegenwärtig noch erheblich weniger am nachkolonialen System teil als die Herero - ungeachtet der Tatsache, dass auf den namibischen Dollarnoten mit dem Konterfei von Hendrik Witbooi einer ihrer legendären Widerstandskämpfer geehrt wird. Dies ist nicht nur als Zeichen der Referenz gegenüber seiner unbestreitbaren Rolle im primären antikolonialen Widerstand zu deuten. Es zeigt auch, dass die SWAPO-Regierung weniger Berührungsängste gegenüber den Nama als den Herero hat.
Während einige Gruppen der Herero auch heute noch eine ethnisch-kulturell verankerte und historisch begründete Skepsis (um nicht zu sagen Aversion) gegenüber der SWAPO zeigen, verkörpert mit dem heutigen Vize-Premierminister ein direkter und gleichnamiger Nachkomme Hendrik Witboois die erkennbare (wenn auch einflusslose) Integration dieser Gruppe. Eigentlich spielen sie im Gegensatz zu den Herero im politischen Machtkalkül aus numerischen Gründen und wegen ihrer sozialen Deklassierung kaum eine Rolle und brauchen so von der SWAPO auch nicht gefürchtet oder mit Misstrauen beäugt zu werden.
Vor diesem Hintergrund kristallisierten sich im Laufe des Jahres 2003 zwei ernsthafte innernamibische Initiativen zur Begehung des geschichtsträchtigen Jahres 2004 heraus, von denen die eine exklusiv die Rolle der Herero hervorhebt. Die andere betont im Gegensatz dazu das Bemühen um Gemeinsamkeiten im Rückblick auf die Geschichte. Sie fand sich in einem etwas umständlich aber zutreffend betitelten National Preparatory Committee for the Commemoration of 1904 (NPCC 04) zusammen. Dieser auch “Bischofskomitee” genannte Ausschuss war insbesondere Ergebnis des Engagements zweier Kirchenführer, des Bischofs der Deutsch-Evangelischen Lutherischen Kirche, Reinhard Keding, der zugleich stellvertretender Schatzmeister der Initiative ist, sowie des hererosprachigen Bischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche Namibias, Bischof Zephania Kameeta, der dem Komitee vorsitzt. Letzterer war während des ersten Jahrzehnts der Unabhängigkeit Abgeordneter der SWAPO im Parlament.
Das 14-köpfige Organisationskomitee ist gewollt multi-ethnisch und umfasst alle Parteien. Wenngleich den Deutschstämmigen, den Herero und den Nama die meisten Sitze eingeräumt wurden, sind auch andere Repräsentanten des nachkolonialen Namibia in seinen Reihen vertreten. Zudem wurde eine ausdrückliche Einladung zur Mitwirkung auch an die gesonderte Initiative der Herero unter Riruako ausgesprochen. Das NPCC 04-Komitee verabschiedete im Juli 2003 in einer öffentlichen Veranstaltung in der “Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit” (NaDS)/Goethe-Zentrum in Windhoek eine Erklärung, in der es betont, dass die offene Benennung begangenen Unrechts und das Schuldeingeständnis gegenüber Herero und Nama ein Beitrag zu einer Heilung der Wunden sei. Das Komitee möchte helfen, die Gemeinsamkeiten zu vertiefen und die trennende Geschichtserfahrung und -erinnerung zu überwinden, indem es über lange Zeit hinweg öffentliche Diskussionen zu dem Thema organisiert.
Der versöhnliche Grundtenor fand bereits in dem im Oktober 2003 erschienenen “Afrikanischer Heimatkalender 2004" seinen Niederschlag. Dieser ist als Jahresband der Deutsch-Evangelischen Lutherischen Kirche schon jahrzehntelang als besinnliche Traditionslektüre in den eher konservativen Teilen der deutschstämmigen Minderheit verankert, unter denen viele auch heutzutage noch dem Thema 1904 bestenfalls Misstrauen und Zurückhaltung entgegen bringen. Gleichwohl stellte sich die Redaktion thematisch sehr offen und pluralistisch der Auseinandersetzung mit dem Thema. So konnte der Jahresband durch eine beeindruckende Meinungsvielfalt einen ermutigenden Akzent setzen. Auch Zedekia Ngavirue hat darin einen Beitrag geschrieben. Ngavirue stammt aus einer Familie von Herero-Oberhäuptern und verkörpert als Leiter der Nationalen Planungskommission im Ministerrang sowie Botschafter Namibias in Brüssel eine für Namibia keinesfalls ungewöhnliche mehrdimensionale Identität. Kritisch bemerkt er in seinem Artikel, dass er von keiner Förderung einer Gedenk-Initiative mit staatlichen Mitteln wisse.
In der Tat zeigte die Regierung Namibias eher Zurückhaltung, sich mit dem Thema zu befassen. Anlässlich des 14. Unabhängigkeitstags am 21. März 2004 wird wenigstens eine Sonderbriefmarke zum Gedenken an die Kolonialkriege und -konflikte herausgegeben. Dem Informationsminister Nangolo Mbumba zufolge solle die Briefmarke “versöhnlich” wirken. Deshalb seien nicht etwa gesonderte Gruppen wie Deutsche und Herero abgebildet. Die Regierung habe auch nichts mit der Reparationsklage einer Herero-Fraktion zu tun, stellte er auf einer Pressekonferenz Ende November 2003 klar. Er bekräftigte damit, dass sich die offizielle Politik in den bilateralen Beziehungen mit Deutschland konsequent von Reparationsforderungen der Herero distanziert. Diese kollidieren aus Sicht der Regierung mit dem definierten Gemeinwohl im Zuge der nachkolonialen Nationsbildung in einem Einheitsstaat. Sowohl Staatspräsident Sam Nujoma (in einem Interview mit der Zeitung “Die Welt” Ende November 2002) als auch der deutschstämmige namibische Botschafter in Berlin Hanno Rumpf (in einem Interview mit “die tageszeitung” Mitte Dezember 2003) wiesen Ansinnen auf Entschädigung einzelner Bevölkerungsgruppen zurück.
Die SWAPO-Regierung findet - unter Berücksichtigung des Apartheid-Erbes und daraus resultierender Sensibilitäten hinsichtlich sozio-kulturell unterschiedlicher Identitäten - keinen Gefallen an einer (zumindest offiziellen) Sonderbehandlung einzelner Bevölkerungsgruppen. Schon gar nicht - angesichts der geschilderten politischen Differenzen - wenn es sich dabei um die Herero handelt. Von den Nama war im Rahmen der Entschädigungsfrage ohnehin nie die Rede. Die Befreiungsbewegung an der Macht bemüht sich eher darum, den antikolonialen Widerstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der hauptsächlich in den mittleren, östlichen und südlichen Landesteilen stattfand, in denen der Siedlerkolonialismus handfeste Gestalt annahm, in die Kontinuität des Befreiungskampfes zu stellen und damit zu vereinnahmen.
So war sie sich in diesem Punkt mit der deutschen Regierung durchaus einig: Kompensationsleistungen sollten sich in indirekter Form mittels spezieller entwicklungspolitischer Zusammenarbeit in einem hohen Transfer an materieller Hilfe an die zentralstaatlichen Instanzen der Republik Namibia niederschlagen. Ob diese dann den vom damaligen Unrecht betroffenen direkten Nachfahren der Herero, Nama, Damara und - nicht zu vergessen - der San tatsächlich mehr als anderen zugute kommt, ist eine andere Frage und liegt letztlich in der Verantwortung der namibischen Regierung. Ob das der Vertrauensbildung dient, ist eine andere Frage, zumal die SWAPO-Regierung nicht gerade für Transparenz sorgt und somit nicht erkennen lässt, ob solche Hilfsgelder besonders in Gebieten der Nachfahren der Betroffenen investiert werden.
Hochrangige Repräsentanten der Bundesregierung aber stoßen zu verschiedenen Anlässen ganz ungeniert und im sicheren Gefühl der Zustimmung durch die namibische Regierung in dasselbe Horn staatlicher Räson. Sie verweisen eilfertig darauf, dass die 500 Millionen Euro, die Namibia seit der Unabhängigkeit an Entwicklungshilfegeldern zugute gekommen sind, der Verpflichtung zur besonderen Verantwortung gegenüber der einstigen Kolonie Rechnung tragen, die der Deutsche Bundestag in einer Entschließung von 1989 ausgedrückt hat. Das sei auch als eine indirekte Form der Kompensierung für vergangenes Unrecht zu verstehen. Diese dem Freiwilligkeitsprinzip folgende pekuniäre Kulanz, die in keinem ursächlichen Zusammenhang zu einer entschädigungsrelevanten Entschuldigung oder Schuldanerkennung stehe, sei nicht für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gedacht, sondern ein Transfer an den Fiskus.
Allerdings scheut sich die Bundesregierung auch weiterhin vor einer durchaus denkbaren weiter gehenden Konsequenz, nämlich der namibischen Regierung Gelder für den Erwerb von Land zu dessen Umverteilung bereit zu stellen. Ganz so weit geht dann das Vertrauen in die unbestechliche Gleichbehandlung der Bürger - oder genauer die Vorzugsbehandlung der Nachkommen der vom Landraub einstmals zuvorderst Betroffenen - doch nicht.
Historisches Faktum hingegen bleibt, dass unter dem deutschen Kolonialismus die heutzutage virulente und brisante Landfrage zwar geschaffen wurde, sich allerdings nur auf die innerhalb der damaligen “Polizeizone” lebenden Gemeinschaften beschränkte. Zur Polizeizone gehörten nur die mittleren und südlichen Landesteile. Sie war die proklamierte (Besiedlungs-)Zone, die unter direkter deutscher Verwaltung stand. Auf diesem Gebiet entfaltete sich die siedlerkoloniale Wirtschaft, während die nördlich davon gelegenen Gebiete einer indirekten Verwaltung unterstanden und zum Arbeitskräftereservoir für die Kolonialwirtschaft umfunktioniert wurde.
Die SWAPO hingegen hat ihren Ursprung und Rückhalt sowie ihre entscheidende politische Verankerung in den nördlich von der damaligen Polizeizone liegenden Gebieten des früheren Ovambolandes (den heutigen so genannten “vier O-Regionen”, den Distrikten Omusati, Ohangwena, Oshana und Oshikoto). Deren Bewohner hätten sich durch den deutschen Kolonialismus allenfalls vom Wettstreit um die Ländereien anderer Gruppierungen ausgeschlossen fühlen können, da ihnen der Zuzug meist nur zeitweise als Wanderarbeiter infolge des Arbeitskräftemangels nach dem Genozid gestattet wurde. Eine Landvertreibung und -aneignung erfolgte in den Siedlungsgebieten der Ovambo zu keiner Zeit. Die dort lebenden Menschen dienten unter dem kolonialen Ausbeutungssystem vor allem als billige und rechtlose Arbeitskraft. Sie machen seit dem verheerenden Ergebnis der Vernichtungspolitik bis heute mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung Namibias aus. An den Widerstandsaktionen ab 1904 nahmen sie nur am Rande teil und können sich kaum damit rühmen.
Die Unterschiede im Umgang mit den Ereignissen, die sich mit dem Jahr 1904 verbinden, fanden am 11. Januar 2004 ihren Ausdruck in zwei unabhängig voneinander stattfindenden Veranstaltungen. Sie erinnerten an jenen Tag ein Jahrhundert zuvor, als die Herero in einem Überraschungsangriff weit über 100 Deutsche töteten - in erster Linie Siedler und Händler (Missionare, Frauen und Kinder wurden fast ausnahmslos und bewusst geschont, ebenso wie anderssprachige Weiße - entgegen seither weithin propagierter Gräuelmär zur Rechtfertigung des darauffolgenden Vernichtungsfeldzuges). Mit jenem 11. Januar begann der offene Aufstand, auf den die deutsche Kolonialmacht mit ihrem Vernichtungskrieg reagierte, wobei immer noch kontrovers diskutiert wird, ob das ein Genozid war.
Am Sonntagmorgen des 11. Januar 2004 versammelten sich also in der zentralnamibischen Stadt Okahandja mehrere hundert überwiegend hererosprachige Besucher. Ähnlich seiner eingangs zitierten Rede an gleicher Stelle fast anderthalb Jahre zuvor betonte das Oberhaupt der Herero Kuaima Riruako erneut in vereinfachender Ausschließlichkeit, dass einzig die Herero den Preis des “nationalen Selbstmords” für die Verteidigung ihres Landes zu zahlen gehabt hätten. Er warnte ausdrücklich jene, die den Beitrag der Herero zur Unabhängigkeit des Landes herunterzuspielen versuchten. An der Veranstaltung nahm kein Vertreter der Regierung Namibias teil. Eine Einladung an Staatspräsident Sam Nujoma war kurzfristig mit der Begründung abgesagt worden, er habe andere Verpflichtungen. Ein Ersatz wurde von ihm nicht entsendet. Dies kommentierte Kuaima Riruako als “ein Zeichen, welches wir nicht vergessen werden”.
Am Nachmittag des selben Tages fand sich in der Friedenskirche in der Windhoeker Innenstadt ein im Gegensatz zu der Herero-Versammlung sehr vielfältiges Publikum ein, um in einem an der Gegenwart und Zukunft orientierten Versöhnungsgottesdienst dem Jahrestag zu gedenken. Neben den beiden Bischöfen Reinhard Keding und Zephania Kameeta ergriff auch der Afrika-Referent der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Eberhard Hitzler sowie der stellvertretenden Premierminister Hendrik Witbooi das Wort. “Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber etwas für die Zukunft tun”, erklärte an gleicher Stelle der deutsche Botschafter Wolfgang Massing. Er gehörte zu denen, die schon am Vormittag an der Zeremonie in Okahandja teilgenommen hatten. Dort hatte er als erster Vertreter einer deutschen Regierung am Grab Samuel Mahareros einen Kranz niedergelegt. Eine Geste, der zwar weiterhin beharrlich keine Entschuldigung folgte, die aber von Kuaima Riruako ausdrücklich als Akt von symbolischer Bedeutung gewürdigt wurde.
Derweil wird in Windhoek und anderswo weiter gerätselt, ob es Zufall war, dass der deutsche Bundeskanzler Schröder bei seiner Afrikareise im Januar 2004 zwar Südafrika, aber nicht das benachbarte Namibia eingeplant hatte.
Literatur
Janntje Böhlke-Itzen: Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904-1907. Frankfurt am Main 2004
Larissa Förster, Dag Henrichsen und Michael Bollig (Hrsg.): Namibia - Deutschland. Eine geteilte Geschichte. Widerstand - Gewalt - Erinnerung. Köln 2004
Reinhart Kössler: Erinnerungspolitik, Versöhnung und Kriegsfolgen. In: Henning Melber (Hrsg.): Namibia - Grenzen nachkolonialer Emanzipation. Frankfurt am Main 2003
Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin 2003
aus: der überblick 01/2004, Seite 87
AUTOR(EN):
Henning Melber:
Dr. Henning Melber ist Forschungsdirektor des »Nordiska Afrikainstitut« in Uppsala, Schweden und einer der Vize-Präsidenten der »European Association of Development Research and Training Institutes« (EADI).