Die Unabhängigkeitsbewegung hat es schwer
Die französischen Atomtests brachten Französisch-Polynesien weltweite Aufmerksamkeit - und Reichtum. Mit dem Geld aus Paris haben sich viele Leute eingerichtet. Vertreter der Unabhängigkeit befürchten aber, dass ihre Jugend im Nichtstun verkommt, falls sie nicht die Aufgabe zur Entwicklung einer unabhängigen Republik bekommt.
von Lorenz Gonschor
Bis 1995 war Tahiti den meisten Leuten in Europa praktisch nur als fernes tropisches Ferienparadies bekannt. Dann aber traf der französische Präsident Jacques Chirac die Entscheidung, die Atomtests im Pazifik wiederaufzunehmen. Für die Medien war das ein Anlass, ausführlich über die politische Situation in Französisch-Polynesien, dessen Hauptinsel Tahiti ist, zu berichten. Plötzlich nahm die Weltöffentlichkeit wahr, dass es in Tahiti nicht nur Palmen und Hotels, sondern auch handfeste politische Auseinandersetzungen gab.
Bei den damaligen Protesten gegen die Atomtests traten vornehmlich drei Gruppen hervor: Die Evangelische Kirche Französisch-Polynesiens, das Netzwerk der nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) Hiti Tau (“Die Zeit ist gekommen”) unter Gabriel Tetiarahi sowie die Unabhängigkeitspartei Tavini Huiraatira no Te Ao Maohi (“Diener des Volkes für das Land der Maohi”) unter Oscar Temaru. Insbesondere letztere erhielt durch diese Atomtests und deren Medienecho enormen Auftrieb und wurde zu einer breiten Oppositionsbewegung. Nachdem die Unabhängigkeitsbewegung der Kanaken Neukaledoniens bereits in den achtziger Jahren international bekannt geworden war, nahm die Welt nun auch die Rufe nach Unabhängigkeit in Französisch-Polynesien wahr.
Dieses Gebiet besteht aus etwa 120 Inseln im zentralen Pazifik, mit einer Meeresfläche von der Größe Europas, aber nur 4000 Quadratkilometer Landfläche und etwa 240.000 Einwohnern. Drei Viertel der Bevölkerung leben auf der Hauptinsel Tahiti, auf der die Hauptstadt Papeete liegt. Während eingewanderte Europäer und Chinesen eine wachsende Minderheit bilden, stellen die indigenen Polynesier, die sich selbst als Maohi bezeichnen, die Mehrheit der Bevölkerung.
Bei solchen Bevölkerungsanteilen ist es eigentlich verwunderlich, dass das Land bis heute von Frankreich beherrscht wird und die Unabhängigkeitsbewegung nur eine Minderheit der Maohi vertritt. Dabei stand Französisch-Polynesien Ende der fünfziger Jahre schon einmal kurz vor der Unabhängigkeit, was der damalige Präsident Frankreichs, Charles de Gaulle, 1958 aber in letzter Minute verhinderte: Pouvanaa a Oopa, der damals führende Politiker und mögliche Präsident eines unabhängigen Tahiti, wurde verhaftet und unter höchst eigenartigen Umständen zu langjähriger Verbannung in Frankreich verurteilt. Zu Beginn der sechziger Jahre wurde dann auch noch die Partei Pouvanaas, die von der Bevölkerung mehrheitlich gewählt worden war, verboten.
Dies alles geschah, weil Paris Französisch-Polynesien zum Atomtestgebiet erkoren hatte und deshalb die Unabhängigkeit um jeden Preis verhindern wollte. Die Meinungsfreiheit wurde deutlich eingeschränkt und das Land erneut im Stil des 19. Jahrhunderts von einem autoritären Kolonialregime mit einem allmächtigen Gouverneur an der Spitze regiert.
Erst ab 1977 gestand Frankreich den Inseln eine beschränkte Autonomie zu, die zwischen 1984 und 1996 weiter ausgebaut wurde. Seit 1982 steht mit kurzer Unterbrechung Gaston Flosse, ein mit Chirac eng befreundeter pro-französischer tahitianischer Politiker, an der Spitze der autonomen Territorialregierung. Seine Partei Tahoeraa Huiraatira (“Vereinigung des Volkes”) steigert ihren Stimmenanteil bei jeder Wahl weiter. Oscar Temaru muss sich bislang mit der Rolle des Oppositionsführers zufrieden geben.
Der Schlüssel zum Erfolg von Flosse und den pro-französischen Kräften lag im Aufbau der Atomtestzentrums, das so genannte Pazifische Experimentationszentrum (CEP). Um sich das Stillschweigen der Bevölkerung zu den Atomtests zu erkaufen, ließ Frankreich in den sechziger und siebziger Jahren sehr viel an Geld in das Territorium fließen. Bald arrangierte sich die Mehrheit der Bevölkerung mit dem “System CEP”, von dem sie profitierte, und gab den Wunsch nach Tiamaraa (Unabhängigkeit) auf. Auch nach dem Ende der Atomtests nahmen die Subventionen aus Paris weiter zu und belaufen sich zur Zeit auf jährlich rund eine Milliarde Euro.
Das wirksamste Argument gegen die Unabhängigkeit ist zweifellos der Erhalt dieser hohen Subventionen, die ein Leben in Wohlstand sichern, ohne dafür viel tun zu müssen. Auch auf die Möglichkeit, ohne bürokratische Beschränkungen nach Frankreich auswandern zu können, wollen manche nicht verzichten. Ein junger Tahitianer sagte mir: “Warum sollte ich die Tavini wählen und mich ins Abenteuer der Unabhängigkeit stürzen, wenn die mir nur vage Versprechungen machen. Mit Flosse bleiben wir bei Frankreich, das unser Land weiterhin finanziert und ich habe eine gesicherte Zukunft”. Eine andere Befürworterin des Verbleibs bei Frankreich meint: “Dank des französischen Geldes gibt es hier keine Armut, alle leben in Wohlstand.”
Frankreichs Subventionen werden aber höchst ungleichmäßig verteilt und man setzt äußerst zweifelhafte Prioritäten. In der Gemeinde Pirae beispielsweise, deren Bürgermeister lange Zeit Gaston Flosse war, wurde vor zwei Jahren für viele Millionen Euro ein neues überdimensioniertes Rathaus mit luxuriöser Ausstattung gebaut. Gleichzeitig fehlt aber das Geld, um den desaströsen Zustand der öffentlichen Wasserversorgung in Ordnung zu bringen. So fließt denn bei starkem Regen in Pirae statt Wasser brauner Schlamm aus den Leitungen. Auch viele Wohnhäuser sind sehr heruntergekommen, und es gibt - vor allem in der Gemeinde Faa’a, aber auch in Papeete und Pirae - slumartige Wohnviertel.
Unter der Bevölkerung dieser Viertel, die nicht vom künstlichen Wohlstand des CEP profitierte, entstand in den siebziger Jahren die heutige Unabhängigkeitsbewegung. Zunächst in kleine Gruppen zersplittert, scharten sich die Befürworter der Unabhängigkeit im Laufe der achtziger und neunziger Jahre um Oscar Temaru, der seit 1983 Bürgermeister von Faa’a, der größten Gemeinde Tahitis, ist. Inzwischen ist aber die Flosse-Regierung eifrig dabei, Temaru die Stammwählerschaft abzujagen. Die Zauberworte dafür heißen Lotissement social und Fare MTR, Sozialwohnungen und kostenlose Fertigbauhäuser, die den Armen zugute kommen sollen, woraufhin diese zum Dank Flosse wählen. Diese Klientelpolitik der Regierung hat aber langfristig katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung: Da die Regierung fast alles zahlt und selbst die Wohnhäuser für die Familien baut, verlieren viele Menschen jeglichen Anreiz zur Arbeit. Ich hatte während meiner letzten Reisen den Eindruck, dass vor allem viele Jugendliche immer mehr in Lethargie versinken und nichts tun, außer am Straßenrand zu sitzen, Bier zu trinken und Paka (Marihuana) zu rauchen.
Viele ältere Leute verzweifeln angesichts dieser Zukunftsperspektiven für ihre Kinder. Ein älterer Unabhängigkeitsaktivist betonte: “Ich möchte nicht sterben, bevor dieses Land unabhängig geworden ist. Ich denke an meine Kinder; was wird mit ihnen geschehen, wenn sich nichts ändert? Sie werden auf der Straße sitzen und kriminell werden. Nur wenn unser Land unabhängig ist, haben sie eine Perspektive, dann werden sie beim Aufbau des Landes gebraucht.”
Es gibt in der Tat viel aufzubauen in Tahiti. Seit der Schaffung des CEP wurden praktisch alle Aspekte der einheimischen Wirtschaft vernachlässigt. Die Täler im Inneren Tahitis - einst voller Gärten und Felder - verwildern, während sich die Bevölkerung im schmalen Küstenstreifen zusammendrängt. Diese Täler könnten alle rekultiviert werden und die Bevölkerung sich selbst ernähren. Eine neu gegründete kulturelle Vereinigung im Hamuta-Tal in Pirae praktiziert dies vorbildlich.
Neben der Landwirtschaft könnte die Fischerei der zweite wichtige Wirtschaftszweig werden. Die Territorialregierung setzt dagegen vor allem auf den Tourismus als Haupteinnahmequelle neben den französischen Finanzhilfen. Nach Meinung vieler Unabhängigkeitsbefürworter kann der Tourismus allein aber keine solide wirtschaftliche Basis sein, da er zu stark von äußeren Faktoren abhängig ist. Oscar Temaru erläutert: “Die Ressource Nummer eins unseres Landes ist nicht der Tourismus, sondern unser Ozean. Wenn wir die Fischereiindustrie richtig entwickeln, kann unser Land vielleicht im Laufe des 21. Jahrhunderts der weltweit führende Produzent von Protein werden.” In der Tat liegt darin die große Chance für alle Länder des Pazifiks, denn ihre geringe Landfläche wird durch riesige Meeresreichtümer ausgeglichen. Um diese Ressourcen richtig entwickeln zu können, ist vor allem Austausch und Kooperation mit den bereits unabhängigen Nachbarstaaten wichtig, wo sich die Bevölkerung größtenteils noch autark von Landwirtschaft und Fischerei ernährt.
Die Flosse-Regierung und die ihr nahestehenden Medien berichten allerdings praktisch ausschließlich über Katastrophen und Konflikte, wenn es um die unabhängigen Staaten des Pazifiks geht. In einem Wahlkampfspot antwortete Flosse auf die Frage, warum er gegen die Unabhängigkeit ist: “Schaut unsere Brüder im Pazifik an: In Fidschi wurde die Regierung abgesetzt und zur Geisel genommen; oder schaut auf die Salomonen, verwüstet vom Bürgerkrieg. Unabhängigkeit, das heißt Chaos, Korruption und Diktatur.” Völlig ignoriert wird bei dieser Propaganda allerdings, dass die beiden genannten Konflikte ganz spezifische lokale Ursachen haben und nicht auf die Unabhängigkeit an sich zurückzuführen sind.
Die meisten unabhängigen Staaten des Pazifiks funktionieren nämlich verhältnismäßig gut. Der kleine Inselstaat Tuvalu beispielsweise steht bei der Einhaltung der Menschenrechte im weltweiten Vergleich recht gut da, und das Lebensniveau in den meisten unabhängigen Staaten ist nicht niedriger als das der ärmeren Tahitianer. Im Gegensatz zu anderen Teilen der Dritten Welt gibt es im Pazifik nirgendwo ein Problem der Unterernährung. All dies wissen die meisten Maohi aber nicht, und haben auch deswegen Angst vor der Unabhängigkeit.
Eine weitere Ursache für die Schwächung der Unabhängigkeitsbewegung ist die zunehmende Zahl von Siedlern aus Frankreich und den anderen Ländern der Europäischen Union, die nach wenigen Monaten Aufenthalt das Wahlrecht erhalten. Ende der achtziger Jahre stellten die Maohi noch über 80 Prozent der Bevölkerung. Heute liegt der geschätzte Anteil nur noch bei 65 bis 70 Prozent. Genaue Angaben sind seit mehr als zehn Jahren nicht erhältlich, da die entsprechenden Statistiken nicht mehr veröffentlicht werden.
Gleichzeitig betreibt die Regierung eine Kampagne zur Geburtenreduzierung unter den Tahitianern, wodurch das Gewicht der Siedler noch verstärkt wird. Systematisch kaufen sie den Tahitianern ihr Land ab. Durch Spekulation werden die Bodenpreise in die Höhe getrieben und sind für die meisten Einheimischen unerschwinglich geworden. “Wenn das so weiter geht, werden wir Maohi bald auf den Korallenbänken leben müssen”, kommentiert einer meiner Gastgeber. Für die Anhänger der Tavini Huiraatira ist dies ein weiterer Grund, warum sich die Inseln so schnell wie möglich von Frankreich trennen sollten, solange die Maohi noch die Mehrheit stellen.
Bei all dem bleibt natürlich die Frage, was Frankreich mit seinen Pazifikgebieten in Zukunft vorhat. Während es unter der linken Regierung Jospin einige Andeutungen zugunsten der Unabhängigkeit gab, scheint die jetzige gaullistische Regierung das derzeitige System erhalten zu wollen.
Nicht nur bestärkte Chirac bei seinem Besuch in Tahiti im Juli 2003 den Willen Frankreichs, im Pazifik präsent zu bleiben, sondern das französische Parlament ist auch gerade dabei, ein neues Statut für Französisch-Polynesien zu beschließen, welches Flosse noch mehr Macht geben wird. Ganz im Gegensatz zu dem unter Jospin ausgehandelten Nouméa-Abkommen für Neukaledonien sieht dieses Statut aber kein Referendum über die Unabhängigkeit vor, und im Gegensatz zu Neukaledonien wird die Opposition nicht an der Macht beteiligt. Ob Frankreich aber nach dem Ende der Atomtests wirklich auf endlose Zeit bereit ist, allein aus Prestigegründen seine Südseekolonie mit Steuergeldern aufrechtzuerhalten, bleibt abzuwarten.
aus: der überblick 01/2004, Seite 65
AUTOR(EN):
Lorenz Gonschor:
Lorenz Gonschor studiert in Tübingen Ethnologie. Seit mehreren Jahren konzentriert er sich auf Französisch-Polynesien, wohin er 1999, 2001, 2003 und 2003/04 Studienreisen unternahm. Zur Zeit hält er sich zu einem Auslandsstudienjahr in Hawaii auf.