Schlafes Bruder
Die Religion und die Mythologie sind in kaum einem Punkt so verwurzelt wie in der Erfahrung des Todes. Begräbnisriten sind Versuche, den Übergang der Verstorbenen ins Jenseits zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen. Viele Rituale, die nach dem Sterben einsetzen, können auf zweierlei Arten verstanden werden: zum einen als Hilfeleistung für den Verstorbenen auf seiner Reise nach dem Tod, zum anderen als Abschiedsritual.
von Constantin von Barloewen
Der Tod ist eine der wenigen universalen Erfahrungen menschlicher Existenz. Er verkörpert das unausweichliche Ereignis im menschlichen Leben. Gleichzeitig ist das Wesen des Todes in ein tiefes Geheimnis gehüllt. Seit der Vor- und Frühgeschichte hat der Tatbestand, dass die Menschen sterben, die menschliche Einbildungskraft angeregt und in der Mythologie, der Religion und der Philosophie in den verschiedenen Kulturen auf sehr unterschiedliche Weise Ausdruck gefunden.
Der Tod kann auf vielerlei Weisen erfahren werden, sie reichen von tiefem Schreckensgefühl bis zur ekstatischen Verzückung. In den meisten nichtwestlichen Kulturen herrschen religiöse und weltanschauliche Werte vor, rituelle Praktiken, soziale Strukturen, die es den Menschen erleichtern, den Tod zu erfahren und ihn als existentiellen Tatbestand anzunehmen. Grundsätzlich betrachten diese Kulturen den Tod nicht als das völlige Ende der Existenz, vielmehr glauben sie, dass Bewusstsein oder Geist oder auch das Leben in einer anderen Form über den Grad des physiologischen Endes hinaus andauert.
Ein besonderer Aspekt des Glaubens an die Fortdauer der Existenz nach dem Tod ist der Gedanke der Reinkarnation. Dieser Glaube an die Wiedergeburt kommt in so unterschiedlichen Kulturen und Religionen vor wie in den Philosophien und Religionen Indiens, den Kosmologien verschiedener nordamerikanischer Indianerkulturen, der platonischen und neuplatonischen Philosophie, der Orphik und weiterer Mysterienreligionen des alten Griechenlands sowie im frühen Christentum, im Hinduismus und im Buddhismus. Dort ist der Glaube mit dem Gesetz des Karmas verbunden, wonach die Qualität der persönlichen Inkarnation jeweils durch die Verdienste und Schuldposten der Person im vergangenen Leben definiert wird. Der Vorgang des Sterbens wird noch wichtiger als das Leben selbst.
In anderen Religionen wird das Leben selbst als ein Zustand der Trennung erfahren, der Tod hingegen bedeutet Wiedervereinigung, Befreiung, Heimkehr. Für die Hindus etwa verkörpert der Tod ein Erwachen aus einer Welt der Täuschung und eine Möglichkeit für das Selbst (jiva), seine göttliche Natur (Atman-Brahman) aufleuchten zu lassen. In der buddhistischen Lehre ist das Leiden ein untrennbarer Bestandteil der irdisch-biologischen Existenz. Das Ziel des geistigen Lebens kann bestimmt werden, indem das Feuer des Lebens ausgelöscht wird und der Turnus aus Tod und Wiedergeburt verlassen wird. Es mag sogar angehen, dass in manchen Kulturen das Sterben ein Aufrücken in der sozialen oder kosmologischen Hierarchie darstellt, gleichsam ein Hinauf in der Hierarchie der Ahnen, der mächtigen Geister oder der Halbgötter.
In wieder anderen Kulturen bedeutet das Sterben einen Übergang in eine selige Existenz in einem Sonnenreich oder den Schutz der Götter. Sehr häufig erscheint das Leben nach dem Tod als zweigegliedert. Es tauchen Höllen und Fegefeuer, aber auch Himmel und Paradiese auf. Auf der posthumen Reise der Seele mit Ziel auf ein erstrebenswertes Dasein werden die verschiedenartigsten Prüfungen abverlangt. Es ist für die Vollbringung der Reise unverzichtbar, dass man mit der Geographie und den Regeln der anderen Welt auf gutem Fuße steht. Jene Kulturen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, fordern vielschichtige Prozeduren, die das Individuum mit dem Tod vertraut machen.
Eine wirkungsträchtige symbolische Begegnung mit dem Tod gab es durch rituelle Handlungen in allen Zeitstufen und Kulturen. Bei Tempelinitiationen, in den Mysterienreligionen und Geheimgesellschaften wie auch in den unterschiedlichen ekstatischen Religionen wird die Begegnung mit dem Tod zum entscheidenden Ereignis der Durchgangsriten (rites de passage). Solche Erfahrungen des symbolischen Todes leiten nicht nur zu der Einsicht in die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, sondern auch zu der Erleuchtung durch das transzendente, spirituelle und ewige menschliche Bewusstsein. Auf einer symbolischen Ebene wird die Begegnung mit dem Tod durch spirituelle Praktiken erlebt. Hierfür gibt es viele Beispiele: das Tibetische Totenbuch (Bardo Thoedol), die Sammlung von Bestattungstexten, die unter dem Begriff des Ägyptischen Totenbuches (Pert Em Hru) zusammengefasst sind, sowie die Literatur des Mittelalters, welche die Kunst des Sterbens beschreibt (Ars-Moriendi- Literatur).
In vielen schriftlosen Kulturen ist die intime menschliche Gemeinschaft der Raum, in dem der sterbende Mensch ein Zuhause findet. Die Sippe, der Stamm oder die Familie ist wichtiger als die selbständige Persönlichkeit des einzelnen. Hier wird der Verlust der Individualität beim Sterben weniger schmerzhaft erfahren als in den Kulturen, in denen die Betonung des Ichs sehr ausgeprägt ist.
Die christliche Tradition kennt zwei unterschiedliche Arten, den Himmel darzustellen. In der einen Variante wird eine theologische und metaphysische Vorstellung vom Himmel gespiegelt, die einen Zustand wiedergibt, in dem Scharen von Heiligen und Engeln sich eines Gottes erfreuen, der in der Versenkung seiner Existenz erlebt wird. Die hiermit verbundene Symbolik verknüpft die hebräische Vision konzentrischer Sphären mit dem Gedanken der spirituellen Reise nach dem Tod. Die andere Variante spricht von den Mythen des goldenen Zeitalters und vom Garten Eden als den Ursprüngen der Idee des Paradieses oder des Gartens der Liebe. Hierbei kennt die Symbolik Elemente einer ursprünglichen Natur, Mauern aus Gold und Straßen, die mit Smaragden gepflastert sind.
Im Koran hat das Paradies die Gestalt einer blühenden Oase mit Gärten, Flüssen und wuchernden Bäumen. Auf den Sofas liegen die Männer in ihren seidenen Kleidern und freuen sich an Früchten und Wein. Nach Befriedigung der Sexualität kehren die Frauen gleichsam wieder in den Stand der Jungfräulichkeit zurück.
Die Griechen des Altertums sprachen von den Inseln der Seligen, vom Elysium, das am Ende der Welt über den Wassern des Atlantiks verborgen ist. Die orphischen Mystiker, durch die eine Lehre von der Erlösung als Befreiung von der Materie und den irdischen Bindungen gelehrt wurde, erkannten in den elysischen Gefilden eine heitere Ruhestatt reiner Geister, die zunächst in einer Unterwelt von seltsamer Helligkeit, später in den höheren Regionen des Himmels verborgen war.
In der aztekischen Kultur können drei verschiedene Paradiese unterschieden werden, in denen die Seele nach dem Tod Eingang findet. Das unterste und erste dieser Paradiese, Tlalocan, ist ein Land von Wasser und Nebel, ein Ort des Überflusses, der Heiterkeit und der Seligkeit. Das dort erlebte Glück ist von sehr irdischer Art. Die Toten johlen Lieder und Gesänge, spielen Bockspringen und jagen buntgefleckte Schmetterlinge. An den Bäumen hängen Früchte, und das Land ist überladen mit Mais, Kürbissen, Paprika, Tomaten, Bohnen und einer Vielzahl blühender Blumen. Tlillan-Tlopallan verkörpert das Paradies der Eingeweihten, der Jünger von Quetzalcoatl, dem Gottkönig, der für die Wiedergeburt stand. Es wird das Land der Fleischlosen genannt, es ist der Fluchtpunkt für diejenigen, die gelernt haben, außerhalb ihres physischen Leibes und ohne Bindung an ihn zu existieren. Tonatiuhichan ist das höchste Paradies, das "Haus der Sonne". Hier in diesem Paradies leben jene, die volle Erleuchtung erlangt haben. Sie verkörpern die Privilegierten, die als tägliche Gefährten der Sonne auserkoren sind und dem Leben völlig entrückt sind.
Die buddhistischen Aussagen über die Ruhestätte der Seele richten sich weitgehend nach der hinduistischen Mythologie. Der Mahayana-Buddhismus kennt eine Hierarchie verschiedener Paradiese, die von Gottheiten und geistigen Wesen bevölkert sind. Diese Himmelreiche verkörpern aber nicht das letzte Ziel der buddhistischen Religion und Philosophie. Vielmehr sind dies zeitweilige Stationen für jene Menschen, die noch nicht bereit sind, ihre persönlichen Wünsche und Bindungen preiszugeben und noch nicht die völlige Lösung von den Fesseln der jeweiligen Persönlichkeit erzielt haben.
Ebenso ist der Gedanke der Hölle und des Fegefeuers, wo die Toten unmenschlichen Qualen ausgesetzt sind, in einer Vielzahl der Kulturen auf der Welt zu finden.
Nach der hebräischen Überlieferung gehen die Toten in den Scheol, eine große Grube oder eine ummauerte Stadt, "das Land des Vergessens", "das Land des Schweigens". Dort hausen sie in Staub, Dunkelheit und Unwissen, gänzlich von Maden bedeckt und von Jahwe vergessen. Die christliche Gestalt der Hölle kennt Scharen von bösartigen Teufeln, welche die Verdammten durch körperliche Schmerzen, Würgen und sengende Hitze quälen. Die Hölle ist tief unter der Erde verborgen, die Zugänge führen durch dunkle Wälder, Vulkane oder den Schlund des Leviathans. Die Offenbarung spricht von einem "Pfuhl", der schwefelt und mit Feuer lodert. In diesem feurigen Pfuhl werden die Feigen, die Ungläubigen, die Zauberer, Götzendiener und Lügner versenkt. Eis und Kälte tauchen im mittelalterlichen Bild der kalten Hölle auf so wie im untersten Kreis der Hölle in Dantes Inferno. Eisige Kälte kennzeichnet auch Hifelheim, die nordische Unterwelt, die von der zornigen, gnadenlosen Göttin Hel beherrscht wird. Das islamische Bild der Hölle weist große Ähnlichkeit mit dem der jüdisch-christlichen Tradition auf, aus der es abgeleitet ist.
Anthropologische Studien belegen, dass der Tod in vor- und frühgeschichtlicher Zeit gleichsam erst vom Menschen entdeckt werden musste, ehe er als Problem begriffen wurde. Vermutlich haben die Menschen in der Frühzeit ihrer Entwicklung nicht nur die Endgültigkeit des Todes bestritten, sondern auch seine Unvermeidlichkeit.
Das Gilgamesch-Epos ist ein Wendepunkt. Dieses Epos stammt etwa aus dem Jahr 2600 vor Christi Geburt. Es gehört damit zu den ältesten Dokumenten der Kulturgeschichte über den Tod. Die Erzählung selbst muss noch ein paar tausend Jahre älter eingeschätzt werden. Es entschlüsselt die Unvermeidlichkeit des Todes: Noch während Gilgamesch um seinen Freund Engidu trauert, bricht in ihm die Einsicht auf, dass er sich auf das gleiche schreckliche Schicksal vorbereiten muss. Die Unvermeidbarkeit des Todes ist vor dem Hintergrund der langen Zeit, in der bereits Menschen auf der Welt leben, also eine relativ junge Erfahrung.
Dies war natürlich in der Geschichte des Todesgedankens nur ein erster Schritt. Es gilt aber festzuhalten, dass im Gilgamesch-Epos die meisten Topoi anklingen, die später in der Kulturgeschichte Wurzeln fassen sollten. Dies gilt für die Todesfurcht ebenso wie für die Vergeblichkeit des Lebens und die Frage, wie man der unwiderruflichen Wahrheit begegnen könnte, dass der Übergang vom Leben zum Tod durch nichts zu verhindern ist. Gilgamesch hatte aber noch nicht den Tod vor Augen. Tatsächlich zerstört wurde allein sein Glaube an die irdische Unsterblichkeit und an eine Welt ohne Tod. Die Einsicht, dass der Tod die absolute Vernichtung darstellen könnte, wurde nur befürchtet. Dies resultiert daraus, dass in der assyrischen und der babylonischen Kulturgeschichte der Tod nicht als das absolute Ende des Lebens begriffen wurde und folglich auch nicht als völlige Auflösung des von Bewusstsein getragenen Lebens. Vielmehr verkörperte der Tod die Trennung von Körper und Geist, das Auseinanderbrechen des Körpers und das Übertreten der Seele von einer Existenz in eine andere. Die Seele taucht ab in eine Unterwelt und verharrt dort bis in alle Ewigkeit. Diese Vorstellung taucht in vielfältiger Gestalt auf.
Entsprechend der persischen Lehre des Zarathustra liegt die Hölle im fernen Norden, verwurzelt in den Tiefen der Erde. Sie gleicht einem finsteren und schmutzigen Ort, der von Dämonen bevölkert ist. Dort sind die verdammten Seelen der "Jünger der Lüge" verurteilt, nach dem Tod in Schmerzen zu verharren, bis der Gott der Dunkelheit, Ahriman, selbst zerstört wird.
Die aztekische Tradition kannte eine Besonderheit: Nicht das Verhalten des Gestorbenen bestimmt das Schicksal nach dem Tod, sondern sein Beruf und die Art seines Todes. Diejenigen Toten, die nicht für eines der beiden Paradiese erwählt wurden, sind in Mictlan, der Unterwelt, einer Vielzahl von magischen Prüfungen ausgesetzt. Bevor sie ihre letzte Ruhe finden, müssen sie neun Höllen durchqueren. Diese Höllen sind jedoch keine Orte, an denen die Bösen bestraft werden, sie sind vielmehr notwendiger Durchgang im Zyklus der Schöpfung. Der kosmische Prozess macht es unausweichlich, dass alle geschaffenen Dinge in der Materie aufgehen und letztlich eine Rückkehr zum Licht, zu ihrem Schöpfer anstreben.
Im Hinduismus und Buddhismus tauchen ebenfalls zahlreiche Arten und Stufen von Paradiesen und Höllen auf. Beide sind nicht Orte, an denen die Gestorbenen für immer verharren. Es sind Durchgangsstadien im Zyklus von Tod, Geburt und Wiedergeburt. Die Qualen in diesen Höllen sind mindestens ebenso vielfältig, diabolisch und abschreckend wie in den anderen erwähnten Kulturen. Das Gericht über die Toten ist in der Mythologie somit ein immer wiederkehrendes Thema.
Die christliche Kunst kennt eine Vielzahl von Teufeln und Höllen, die um die Seele der Toten ringen. Dies trifft auch auf Darstellungen des jüngsten Gerichts zu. In der islamischen Kunst tauchen zwei Engel auf - Munker und Nakeer B, um die Toten zu prüfen und mit Fragen zu überschütten. Werden die Befragten für rechtschaffen erachtet, so werden sie durch wohlriechende Düfte erfrischt und eine Tür zum Paradies wird ihnen aufgetan. Die Ungläubigen werden in Höllengewänder gehüllt, und es werden ihnen die Tore zur Hölle gewiesen. Die Hitze und der Pestwind der Hölle umschließen sie, das Grab fällt zu und zermalmt sie und ihre Knochen. In dieser Hölle müssen sie bis zum Tag der Auferstehung verharren. Die islamische Tradition spricht auch von Sirat, jener Brücke über die Hölle, die alle Toten überqueren müssen. Die Gläubigen vermögen es, das Gleichgewicht zu halten und hinüberzugelangen, die Ungläubigen verlieren den Halt und stürzen in den Höllenschlund.
Auch die Zarathustra-Religion kennt das Überqueren der Brücke beim Gericht der Toten. Sie müssen versuchen, "die Brücke der Trennenden" (Cinvato paruta) zu überqueren. Den Gerechten gelingt es ohne weiteres, über die Brücke in die ewige Seligkeit zu gelangen, während die als Böse eingestuften von dem Dämon Vizarsh ergriffen werden.
Die Guarayo-Indianer in Bolivien glauben, dass die Seele nach dem Tod zwischen zwei Wegen auswählen muss. Der eine ist breit und bequem, der andere schmal und gefährlich. Es ist der Seele verboten, sich durch die augenscheinlichen Vorteile des leichten Weges verleiten zu lassen, sie sollte vielmehr den schwierigen Weg einschlagen. Die Seele muss zwei Flüsse überqueren, den einen auf dem Rücken eines gewaltigen Alligators, den anderen auf einem langgestreckten Baumstamm. Beim Licht eines angezündeten Strohhalms muss sie sich durch ein dunkles Gebiet durchschlängeln und zwischen Felsen balancieren. Sind alle Gefahren überstanden, erreicht die Seele ein bezauberndes Land mit blühenden Sträuchern und singenden Vögeln, wo sie ihr Glück für die Ewigkeit findet.
Die Huichol-Indianer in Mexiko kennen eine ähnliche, wenngleich kompliziertere Reise der Seelen in die geistige Welt. Diese Überlieferungen werden von Generation zu Generation weitergereicht und in bunten Garnbildern, den Nearikas, dargestellt. Zu Anfang führt der Weg geradeaus, aber an einer Stelle, dem "Ort des schwarzen Felsens", spaltet sich der Weg in zwei Richtungen. Derjenige, der ein reines Herz hat, schlägt den rechten Weg ein, diejenigen aber, die zu Lebzeiten Inzest begangen haben oder mit Spaniern sexuell verkehrten, waren gezwungen, den linken Weg zu gehen. Sie sind dort einer Vielzahl von Martern ausgesetzt, werden auf einen großen Dorn aufgespießt, von reinigendem Feuer versengt. Danach ist es ihnen erlaubt, zu der Weggabelung zurückzukehren und den rechten Weg, der zu ihren Ahnen führt, weiterzuwandern.
Die Vision der Huichol von der posthumen Reise der Seele hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schilderung der Azteken. So verlangt die Tradition, dass die Toten eine Reihe von Prüfungen bestehen, etwa einen tiefen Fluss überqueren, der von einem gelben Hund bewacht wird, zwischen zwei auseinanderklaffenden Bäumen hindurch wandern oder über einen Berg aus Obsidiangestein klettern. Um die posthume Reise zu erleichtern, führten die Azteken vielschichtige religiöse Rituale durch.
In der traditionellen Inuitkultur gibt es drei menschliche Seelenarten. Die erste Seele, die unsterbliche Seele, lässt den Körper beim Tod zurück und steigt zum Leben in eine künftige Welt auf. Die zweite Seele steht für die Atmung und die Wärme des Körpers und hört mit dem Tod auf zu leben. Die dritte Seele trägt Züge der Personen, die mit ihr in Verbindung standen. Die traditionellen Inuits glauben, dass mit dem Sterben die unsterbliche Seele in einer anderen Welt weiterlebt, die oft der irdischen Existenz gleicht. Daraus folgern die Inuit, dass vor dem Tod keine große Furcht bestehen sollte. Da das Leben oft härter als der Tod erscheint, gibt der Mensch mit dem Leben nicht viel auf. In der Sicht der Inuits wird der Tod durch böse Geister hervorgerufen, die als Schatten der Toten gedeutet werden (tamak). Diesem Geist der Toten geht man möglichst aus dem Weg. So verlassen Inuits das Haus, in dem ein Mensch gestorben ist, tragen den Körper unmittelbar nach dem Tod fort oder lassen den Menschen zum Sterben alleine und bereiten die Speisen für das Grab vor, ehe noch der Tod bei einem Menschen eingetreten ist.
In den meisten afrikanischen Gesellschaften hingegen werden die Toten in der Nähe des Hauses beerdigt, damit der Geist des Verstorbenen bei Bedarf in den Kreis der Familie zurückkehren kann. Wie die Geburt eine neue Form der irdischen Existenz ermöglicht, so wird auch der Tod als eine zweite Geburt betrachtet, als Beginn einer neuen spirituellen Existenz. Das Aufrücken in das Land der Ahnen ist aber nur möglich, wenn die Begräbnisrituale genau eingehalten werden. Da die Ahnen jederzeit zu ihren Familien zurückkehren können, darf man niemals den Wünschen der Verstorbenen zuwiderhandeln.
Bis hin zur Moderne stellte das Sterben eine Verwandlung dar, und der Tod verkörperte ein Durchgangsstadium in ein anderes Leben. In den archaisch-mythischen Kulturen war der Tod noch eine überwiegend kollektive Bedrohung und folglich eher ein soziales als ein individuelles Schicksal. Mit Blick auf die Auferweckung wird bis zum 12. Jahrhundert im Abendland bei den Toten von einer kollektiven Erlösungshoffnung ausgegangen, also von einem ruhigen Schlaf bis zur Auferstehung. Im Hochmittelalter und in den folgenden Jahrhunderten steigert sich die Individualisierung der Erlösungshoffnung.
Es gibt entscheidende Zäsuren im Verständnis des Todes. Zunächst herrschte das mythische Todesverständnis vor. Den Übergang zur griechischen Philosophie können wir als Wende zum rationalen Logos bezeichnen, das Werden des jüdisch-christlichen Denkens als Wende zur anthropozentrischen Theonomie und das Überwechseln zur neuzeitlichen Metaphysik als Wende der Selbstreferenz.
Zunehmend rationale religiöse Deutungen von Wirklichkeit ließen ein Todesbild entstehen, welches das konkrete Todesschicksal mit der immer rationaler werdenden Lebensführung in Verbindung bringt. Diese Tendenz gipfelt im Abendland mit dem Verlust der Monopolstellung der Religion als oberste Instanz, dem Tod einen Sinn zu geben. Es gibt kein Todesbild mehr, das in einen Sinnentwurf von der Welt im Ganzen eingebettet wäre. Frühere Kulturen kannten noch mannigfaltige symbolische Sinnstrukturen, welche die Welt im Ganzen erklären konnten. Hierdurch entstand die Verbindung von persönlicher und sozialer Identität. So konnte zwischen individueller Sterblichkeit und gesellschaftlich-kultureller Kontinuität über das Ende des einzelnen hinaus ein Sinnzusammenhang bewirkt werden.
Der Glaubensverlust hat den Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. In außereuropäischen Kulturen und in früheren Zeiten hatten wir teil an der Vergänglichkeit des Menschen und göttliche Teilhabe zugleich. Die Einstellung, dass Gott das Jenseits bedeute, ging immer stärker verloren. Die christliche Theologie hat den Unsterblichkeitsgedanken niemals ganz aufgegeben und die Entplatonisierung des Glaubens nicht mit dieser Schärfe vorangetrieben. Vielmehr wird von einer "natürlichen Unsterblichkeit" ausgegangen, die sich aus dem Schöpfungsgedanken herleitet. In der christlichen Tradition vollzieht sich im Tod durch das Christusereignis Unsterblichkeit als Vollendung der gesamten Geschichte am Jüngsten Tag. Im Tod erfährt der Mensch, dass vollständig über ihn verfügt wird, und zugleich wird von ihm die höchste Tat seiner Freiheit, die Begegnung mit Gott und die Entscheidung über sein ewiges Schicksal erwartet.
Mors certa, hora incerta. Dieser Satz ist Ausdruck der dialektischen Spannung des Menschen im langen Verlauf seiner Zivilisationsgeschichte: Er kennt zwar den Tatbestand seiner Sterblichkeit, nicht aber den Zeitpunkt. Gerade diese Unbestimmbarkeit des Todes bewirkte in der Kulturgeschichte die mythologische, religiöse und letztlich die philosophische und wissenschaftliche Sinngebung des Todes. Immer machte der Mensch Versuche, das positiv Unbestimmbare symbolisch sinnhaft zu verstehen, um sich der universalen Bedrohung zu stellen, das Ende des eigenen Lebens sinnhaft in den gesamten Lebensprozess integrieren zu können. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben wird und aus diesem Grund ein Verhalten gegenüber seinem eigenen Tod entwickeln muss. Jede bekannte Kultur definierte ihr Verhältnis zum Tod, suchte in irgendeiner Weise eine kulturelle Wertstruktur, eine symbolische Sinndeutung des Kosmos, die mit dem Verhältnis zum Tod in einer engen Beziehung stand. Nicht der Tod vermittelt dem Menschen Probleme, sondern das Wissen um ihn.
Viele Kulturen haben den Tod in ihrem täglichen Leben akzeptiert, sie erleben den Tod als einen wesentlichen Augenblick für den sozialen Körper. Der Tod und seine Bewältigung standen immer vor der Rückkehr des Menschen in den Kosmos (Erde, Wasser, Feuer, Himmel), indem Riten des Übergangs Anwendung fanden (Mysterien, Sakramente, Techniken der Reinigung, Trancezustände, Opferhaltungen). Andere Welten kannten Formen des Überlebens - Wiedergeburt, Verschmelzung mit dem Göttlichen, Auflösung in ein alles umschließendes Ganzes.
Das JudentumDas Judentum ist zunächst ganz auf das Diesseits ausgerichtet. Nähere Todes- und Jenseitsvorstellungen sind ihm in seinen Anfängen fremd. Die Früchte eines im Gehorsam vor Gott geführten Lebens werden im Diesseits erwartet. Ein langes und möglichst sorgenfreies Leben gilt als sichtbarer Ausdruck eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels. Versöhnt mit Gott zu leben und zu sterben, ist das Lebensideal im frühen Judentum. Was nach dem Tod geschieht, ist zunächst von geringem Interesse. Das ändert sich in späterer Zeit, als die Frage nach der ausgleichenden Gerechtigkeit in einem nachtodlichen Jenseits, wenn sie im Diesseits nicht erfahren wird, immer stärker ins Zentrum rückt. Der Grundgedanke der Versöhnung, jetzt verbunden mit der messianischen Erwartung eines Heilskönigs, der das künftige Friedensreich errichtet, ist dabei bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Der IslamEine sehr ausgefeilte Vorstellung davon, was nach dem Tod zu erwarten ist, hat seit jeher der Islam. Koran und Überlieferung lassen nicht den geringsten Zweifel daran, dass diejenigen, die nicht an Allah und seinen Gesandten Muhammad glauben, am Tag des Gerichts schwere Strafen in der Hölle zu erwarten haben. Welcher Art diese Strafen sind, wird zum Teil sehr ausführlich geschildert. Ebenso ausführlich beschrieben werden aber auch die Freuden des Paradieses, an denen alle diejenigen teilhaben, die sich zu Lebzeiten zum Islam bekennen, ihren religiösen Pflichten nachkommen und Buße tun. Unter ihnen gilt als besonders auserwählt, wer im Einsatz für den Islam den Märtyrertod gestorben ist. Ihm ist ein Platz im Paradies sicher. Der HinduismusDer Tod bedeutet im Hinduismus nichts Einmaliges oder Endgültiges. Vielmehr ist er stets nur erneuter Ausgangspunkt für eine neue Geburt in neuer Gestalt. Es ist ein immer währender Kreislauf ohne Anfang und Ende. Die Qualität der nächsten Existenz wird dabei jeweils bestimmt durch das Verhalten des Wiedergeborenen in seinen früheren Leben. Ein qualvolles Dasein in einer der vielen Höllen ist so ebenso vorstellbar wie ein Leben in einer positiven Existenzform, etwa als Mensch. Diesem Kreislauf zu entrinnen, hat sich der gläubige Hindu zum Ziel gesetzt. Unter den beschrittenen Wegen und angewandten Techniken, um die Befreiung zu erreichen, ist die Ausrichtung auf einen höchsten persönlichen Gott eine häufig genutzte Möglichkeit. Manche sehen in der Gottesvorstellung nur eine willkommene Gedankenstütze auf Zeit, die sie im Fortgang ihrer meditativen Übungen schließlich wieder aufgeben, um ihrem Ziel nahe zu kommen. Andere wiederum richten ihr ganzes Sinnen und Trachten ausschließlich auf einen bestimmten Gott, den sie als höchsten verehren, um dem Wiedergeburtskreislauf im Vertrauen auf seine gnädige Hilfe zu entfliehen und an seinem Paradies teilzuhaben. Der BuddhismusDen Wiedergeburtskreislauf zu verlassen, ist auch das Ziel im Buddhismus. Doch wohin dieses Verlassen führt, darüber schweigt sich Buddha aus. Der Inhalt seiner Erleuchtung, das Nirvana, ist rational nicht fassbar, so besagen es die alten Lehrtexte. Im frühen Buddhismus ist man davon überzeugt, dass jeder Gedanke an ein Jenseits nur vom Wesentlichen ablenkt, letztlich die Befreiung verhindert. Diese Haltung ändert sich grundlegend mit dem Entstehen des Mahayana-Buddhismus, der sehr viel stärker Rücksicht nimmt auf die religiösen Bedürfnisse der breiten Masse. So sind schließlich üppige Paradiesbeschreibungen für das Nirvana dem späteren Buddhismus nicht fremd. Ebenso gewinnen Erlösergestalten zunehmend an Bedeutung, die von den Gläubigen wie Götter verehrt werden und von denen man sich konkret Hilfe verspricht im Bemühen, dem Wiedergeburtskreislauf zu entrinnen. Das ChristentumWer an dem von Gott zugesicherten ewigen Leben im Jenseits teilhaben will, das am Ende der Zeiten nach christlicher Überzeugung im Prinzip allen Menschen beschieden ist, muss zu Lebzeiten in die Christusnachfolge getreten sein. Was nach dem Tod mit denen geschieht, die sich anders entschieden haben, ist eine Frage, die besonders im Mittelalter beschäftigt. Von den Höllenqualen, die dort, auch unter Berufung auf frühchristliche Quellen, ausgemalt werden, wissen jedoch die allgemein anerkannten neutestamentlichen Schriften selbst nur andeutungsweise zu berichten. Auch für die zeitweise üppigen Paradiesschilderungen bieten die biblischen Texte allenfalls Anhaltspunkte in den alttestamentlichen Schöpfungserzählungen. Im katholischen Bereich sind manche Bilder aus vergangenen Tagen erhalten geblieben. Im Protestantismus hingegen sind konkretere Aussagen über Tod und Jenseits eher unpopulär. Alle Texte aus: Uwe Herrmann: "Zwischen Hölle und Paradies. Todes- und Jenseitsvorstellungen in den Weltreligionen", GTB 1210, 8 Gütersloher Verlagshaus GMBH, 2003. |
aus: der überblick 02/2003, Seite 10
AUTOR(EN):
Constantin von Barloewen:
Constantin von Barloewen ist Professor für Anthropologie und war Mitglied der Weltkommission für Kultur und Entwicklung der UNESCO.
Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehört der von ihm
herausgegebene Sammelband "Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen", der im Inselverlag 2000 als Taschenbuch neu aufgelegt wurde.