RENATE WILKE-LAUNER
Die Welt wird nie wieder so sein, wie sie einmal war. Noch wissen wir nicht, wie sie aussehen wird, aber viele Menschen spüren, dass sich etwas ändern muss, ganz gleich ob die Urheber der Anschläge in New York und Washington bald gefasst werden oder nicht.
Erinnern wir uns zunächst, wie sie vorher aussah. Kamen in der westlichen Welt in der letzten Zeit wichtige Personen zusammen, verwandelten sich die Konferenzorte in Festungen. Polizisten lieferten sich Schlachten mit zum Teil gewalttätigen Demonstranten, während die Teilnehmer möglichst unauffällig durch den Hintereingang huschten. Am Ende war der Schaden groß, in Genua gab es gar einen Toten.
Danach war kaum noch eine Stadt bereit, Gastgeber zu sein. Die Konferenz der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen soll nun nicht mehr in Rom stattfinden, man sucht nach einer Alternative, also nach einer Stadt, in der der Geschäftssinn stärker ist als die Furcht. Auch die Mächtigen dieser Welt schienen kapituliert zu haben; sie beschlossen, sich das nächste Mal in einem abgelegenen kanadischen Ort zu treffen. Und Weltbank und Weltwährungsfonds kündigten an, ihre Jahrestagungen stark zu verkürzen. Eine erstaunliche Entwicklung, umso mehr als die Präsidenten und Premierminister der G8-Nationen und die Washingtoner Finanzinstitutionen von den Demonstranten als ziemlich mächtig, gar als Urheber oder willfährige Spießgesellen des "Terrors der Ökonomie" angeklagt worden waren.
Aber kann man so einfach dem "Volk von Seattle" die Bestimmung der Spielregeln überlassen? Sollte man sich bei aller Kritik an belanglosen Gipfelergebnissen wirklich darüber freuen, dass die gewählten Repräsentanten großer Demokratien räumlich den Rückzug antreten? Nach dem beeindruckenden Aufstieg der NGOs schien eine Diskussion über ihre Anliegen und ihre Rolle überfällig.
Nun hat das brutale Attentat auf New York und Washington die Welt verändert. Mit der Spaßgesellschaft jeder kann und darf bis zur Peinlichkeit alles war es von der einen zur anderen Minute vorbei. Die politikverdrossenen Bürgerinnen und Bürger rücken wieder näher an ihre Regierungen, weil sie von ihnen Schutz erwarten. Sie spüren, dass eben doch nicht alles käuflich ist. Viele Menschen begreifen jetzt, dass sie nicht im Frieden, sondern allenfalls in Zonen relativer Ruhe leben. Sie müssen damit leben lernen, dass Hass nicht nur unter Kontrahenten klar auszumachender Konfliktherde herrscht, sondern auch sie treffen kann. Im Zeitalter der Globalisierung sind auch Konflikte und Kriege nicht mehr regional begrenzt.
Und noch etwas gilt es sich bewusst zu machen: Terroristische Angriffe werden nicht von "Ewiggestrigen" (wie wir unsere Rechtsradikalen immer noch verharmlosen) und Menschen in der Vorstellungswelt des Mittelalters (wie ein weitverbreitetes Vorurteil über den Islam weismachen will) verübt, sondern sind eine höchst moderne Reaktion auf die Weltgesellschaft. Religiöse Überzeugungen spielen dabei oft eine tödliche Rolle. Nach einer Statistik von 1995 kosteten Anschläge mit religiösem Hintergrund mehr Tote als die anderer Tätergruppen. (Wie weit die Verblendung bei Christen in liberalen Gesellschaften reichen kann, zeigt die Tatsache, dass der amerikanische Fernsehprediger Jerry Falwell die Angriffe vom 11. September als Zeichen des Zornes Gottes über bestimmte säkulare Gruppen bezeichnet hat, wofür er sich allerdings später nach herber Kritik unter anderem aus dem Weißen Haus entschuldigt hat.)
An manchen Kriegen nimmt schon jetzt ein großer Teil der Weltbevölkerung teil: als Fernsehzuschauer und als Bürger von Ländern, die Waffen liefern und einsammeln, als Spender für Organisationen, die Nothilfe leisten und Flüchtlinge versorgen, als Mitglieder der Diasporagemeinschaften, die aus der Ferne Konfliktparteien finanzieren (vgl. "der überblick" 2/2001). Dass über das Fernsehen heute vieles live in alle Welt übertragen wird, kann Menschen zusammenbringen, es kann die Konflikte aber auch weiter verschärfen. Eine Rede wie die von Präsident Bush vor dem amerikanischen Kongress kann den Menschen des Landes Trost und Zuversicht geben, in Europa mit Sympathie, aber auch ein wenig Befremden verfolgt werden, in anderen Teilen der Welt dagegen als Bestätigung für Arroganz und Selbstgerechtigkeit aufgenommen werden.
Umgekehrt haben die Amerikaner und wir mit ansehen müssen, dass es auch Menschen auf diesem Globus gibt, die offen Freude über diese Anschläge auf zwei Symbole der Supermacht USA zeigen; wieder andere, auch in unserem Land, haben sie zwar bedauert, aber gleich darauf zu Erklärungen angehoben, in denen den USA ein langes Sündenregister präsentiert wurde. Hier verbindet sich mangelndes Taktgefühl im Moment der Demütigung und der Trauer hält man niemandem seine Fehler vor mit der Gefahr, zu relativieren und zu entschuldigen, wo es nichts zu relativieren und zu entschuldigen gibt. Es ist der Ton, der irritiert, nicht die notwendige Suche nach den Ursachen.
Wer meint, hinter dem Anschlag berechtigte Reaktion auf amerikanische Politik und legitime Globalisierungskritik zu entdecken, täuscht sich. Den terroristischen Fundamentalisten aller Couleur zielen auch und vielleicht in erster Linie auf grundlegende Errungenschaften liberaler Gesellschaften: die Trennung von Staat und Kirche, die Gleichstellung der Frau und die (gerade erst und noch nicht vollständig errungene) Akzeptanz von Homosexualität. So gesehen hat Bundeskanzler Schröder recht, wenn er von einem Anschlag auf die zivilisierte Welt spricht.
Nicht die Verdammten dieser Erde sind hier aufgestanden, sondern die Selbstgerechten, die nichts weiter gelten lassen wollen als sich selbst und ihresgleichen. Dass möglicherweise viele Muslime unter der Reaktion der USA leiden werden, nehmen sie nicht nur in Kauf, es ist Teil ihres Kalküls, um weitere Menschen zum heiligen Krieg zu motivieren. "Terroristen sind Parasiten der Unterdrückung, sie sind nicht die Freunde der Unterdrückten", heißt es in einer Erklärung der vom amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer mit herausgegebenen Zeitschrift Dissent.
Die Terroristen haben sich mit den Zwillingstürmen des World Trade Center (vielleicht) ein Symbol wirtschaftlicher Macht ausgesucht, sie haben aber eine Stadt getroffen, die wie kaum eine andere in der Welt die Hoffnungen unzähliger Menschen repräsentiert und vielen einen Neuanfang und ein besseres Leben ermöglicht hat. Menschen aus über 60 Nationen und aller Religionen starben unter den Türmen, darunter nicht nur Angestellte glitzernder Firmen, sondern auch gerade Eingewanderte und Illegale, die in den Versorgungseinrichtungen ein bescheidenes Auskommen gefunden hatten und damit ihre daheim gebliebenen Familien unterstützten. Wie stark und wie menschlich diese Stadt ist, zeigt sich auch darin, dass es kaum Übergriffe und kein Kriegsgeschrei gibt und schon jetzt darüber nachgedacht wird, was Menschen zu solchem Hass bewegt.
Noch ist nicht eindeutig geklärt, wer den Terroranschlag befohlen hat, noch weiß die Weltöffentlichkeit nicht, was die USA planen. Dass sie bisher so vergleichsweise besonnen reagiert haben, ist mit Erleichterung aufgenommen worden. Der Präsident, dessen Regierung zuvor Verbündete und Vereinte Nationen mit brüsken Alleingängen konfrontiert und internationale Fortschritte blockiert hatte, macht offenbar einen Bildungs- und Reifeprozess durch. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass die USA sich den UN wieder annähern und ihre Politik multilateraler gestalten. Damit besteht eine Chance, dass sie weniger selbstbezüglich und selbstherrlich agieren und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der 11. September ist auch für viele Chilenen ein Trauer- und Gedenktag. Vor genau 28 Jahren machte ein von den USA unterstützter Putsch der Regierung Allende ein blutiges Ende.
Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die derzeitige Antiterrorkoalition im Kampf um Menschenrechte und Abrüstung herbe Rückschläge bringen wird. Die US-Sanktionen gegen die Atomstaaten Indien und Pakistan sind bereits aufgehoben worden, die russische Führung hofft, dass sie ihren brutalen Tschetschenien-Krieg nun als Kampf gegen den Terrorismus salonfähig machen kann, und China lässt schon erkennen, dass es auf Verständnis im Kampf gegen "Terrorismus und Separatismus" im eigenen Land hofft.
Doch nicht nur die Regierungen sind im Kampf gegen den Terror gefordert, auch die Zivilgesellschaft muss sich in dieser Situation herausgefordert fühlen. Egal, was möglicherweise noch passieren wird: Es dürfen keine Feindbilder entstehen, nach denen "der Islam" oder Menschen bestimmter Herkunft pauschal verdächtigt werden. Die Verständigungsbemühungen mit Menschen anderer Kulturen und Glaubensrichtungen müssen unbedingt verstärkt werden, das ist auch, aber nicht allein eine Aufgabe für die Kirchen. Diese Anstrengungen dürfen aber nicht blind sein für die Gefahren, die von religiösen und politischen Extremisten ausgehen. In der Vergangenheit hat die Furcht, zu Feindbildern beizutragen, gelegentlich dazu geführt, dass gefährliche Entwicklungen nicht beim Namen genannt wurden.
Schließlich muss aus den Konfrontationen anlässlich der Gipfeltreffen der letzten Monate ein konstruktives Miteinander werden. Die Regierungen sind gut beraten, jetzt nicht nur die Geheimdienste zu verstärken, sondern das Gespräch mit denen zu suchen, die seit langem darauf hinweisen, wo überall in der Welt es brennt. Eine inklusivere Globalisierung kann helfen, dem Terror den Boden zu entziehen. Umgekehrt müssen sich einige der Globalisierungsgegner kritisch fragen und befragen lassen, ob sie die richtigen Prioritäten setzen und ob die wütende Emotionalisierung der Politik, die gelegentlich aus ihren Reihen zu hören ist, nicht zu Feindbildern beiträgt.
Der Kampf gegen den Terrorismus muss keineswegs in jeder Hinsicht zu Lasten der Entwicklung gehen, wie jetzt viele befürchten. Bei der Bekämpfung der Geldwäsche ist in den letzten Tagen bereits Bewegung in die Politik gekommen. Nach Schätzungen des Weltwährungsfonds macht die Verwandlung von schmutzigem in sauberes Geld bis zu fünf Prozent des globalen Bruttosozialprodukts aus. Und auch eine radikale Beschränkung und Kontrolle des Handels mit Rüstungsgütern und illegal geförderten Rohstoffen davon spricht leider im Moment noch kaum jemand könnte helfen, die Gewaltmärkte dieser Welt auszutrocknen. Damit wäre für Afrika, wo jeden Tag Menschen getötet werden, ungeheuer viel gewonnen.
Grenzenlose Gerechtigkeit haben die USA ihren jetzt begonnenen militärischen Aufmarsch genannt. Das ist gewagt, zumal der Ausgang ungewiss ist und möglicherweise neues Leid verursacht. Würden sie eines Tages den Kampf gegen die Armut mit ähnlich grimmiger Entschlossenheit aufnehmen, könnten sie Mitstreiter und neue Freunde gewinnen.