Die Kanzel im Kerker
Als Anführer der linken Protestbewegung "Lotta Continua" wurde Adriano Sofri zu 22 Jahren Haft verurteilt. Sofri selbst erklärte sich von Anfang an für unschuldig und weigert sich hartnäckig, ein Gesuch um Begnadigung zu stellen. Heute ist er gefragter Kolumnist und kommentiert aus der Zelle 1 des Pisaner Gefängnisses das Geschehen in der Republik.
von Florian Kronbichler
Der Name der Rubrik hieß beziehungsreich "Strafstöße", und sie brachte es während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 im fußballvernarrten Italien zu Kultstatus. Die Idee dazu soll weder von der Redaktion der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica gekommen sein, in der die Rubrik erschien, noch vom Autor Adriano Sofri stammen, der sie verfasst hat. Sofri ist Intellektueller mit revolutionärer Vergangenheit. Zum Fußball hält er, wie zum Sport allgemein, den seinem Ruf geziemenden Abstand, und außerdem sitzt er seit Jahren im Gefängnis: als Politischer. Seine Karriere als Fußball-Kommentator war somit nicht zwingend.
Zu Adriano Sofris Fußball-Berichterstattung aus dem Gefängnis soll es folgendermaßen gekommen sein: Wenn stimmt, dass Italien 50 Millionen Nationaltrainer hat, dann müssen in dieser Zahl die Bewohner der Kerker zwangsläufig mit inbegriffen sein. Mehr noch: Fußball ist Fernsehen, und nirgends wird mehr ferngesehen als hinter Gittern. Gefängnisinsassen sind somit zumal mehrheitlich Männer und ohne Ablenkung zum Fußballschauen verdammt. Und auch wenn die meisten Insassen der Haftanstalt von Pisa diese Verdammung nicht als ihre ärgste empfinden dürften, so war es ihnen doch unerträglich, ihre Erkenntnisse zum Geschehen nicht vermitteln zu können.
Ein Glück deshalb, dass sie in ihrer Gesellschaft einen Adriano Sofri hatten. Wenn stimmt, was erzählt wird, dann haben die Pisaner Häftlinge ihren Kollegen von Zelle 1 "kollektiv bedrängt", ihre Sicht der Dinge zu Protokoll zu nehmen und für gebotene Veröffentlichung zu sorgen. Dem Politischen fiel der Auftrag nicht schwer, und die Zeitung, für die er als Kolumnist arbeitet, hatte unbestellterweise einen Knüller: den prominentesten Häftling der Nation als WM-Kommentator und die geübtesten Fernseher als dessen Berater und Resonanzkasten. Die "Strafstöße" aus der Strafanstalt trafen ins Schwarze: Sofris Fußball-Rubrik wurde zum Renner der Zeitung, und das liebe Vorurteil vom Intellektuellen als Fußballmuffel ward widerlegt.
Die Episode beschreibt gut das Dilemma des Häftlings Adriano Sofri. Seit 1988 sitzt er mit Unterbrechungen im Gefängnis von Pisa ein. Seit 1997 mit höchstrichterlicher Verurteilung zu 22 Jahren Haftstrafe. Als Kopf der extraparlamentarischen Sponti-Bewegung Lotta continua ("immer währender Kampf" oder "der Kampf geht weiter" grad wie man es lesen mag) wurde er der Anstiftung und Beihilfe zum Mord am Mailänder Polizeikommissar Luigi Calabresi im Jahr 1972 für schuldig befunden. Ein schlichter, bis dahin unbescholten lebender Arbeiter und ehemaliger Lotta-Continua-Aktivist, hatte sich spontan der Polizei gestellt und gestanden, dass er an dem Attentat auf den Kommissar beteiligt war und dass er es auf Geheiß seines seinerzeit hoch verehrten Anführers Adriano Sofri getan hatte.
Wie kein anderes Urteil in der Justizgeschichte der Italienischen Republik hat der Richterspruch gegen den Anführer der Lotta Continua das Land in zwei Lager gespalten. Hie die Schuldbefürworter, für die der rote Terrorismus endlich nicht nur in seinen Handlangern, sondern auch in seinem Kopf getroffen wurde. Da die Unschuldsvertreter, für die es keine Beweise für Sofris Verwicklung in den Mordanschlag gibt, das Indiziengebäude der Richter nur auf politischen Theoremen gründet und letztlich alles nur die späte Rachenahme des Regimes an der verhassten Protestbewegung der frühen siebziger Jahre ist.
Sofri selbst erklärte sich von Anfang an für unschuldig, und kohärent damit weigert er sich bis heute, ein Gesuch um Begnadigung zu stellen. Eine Begnadigung, die einerseits alle maßgeblichen Verfassungskräfte bis hinauf zu Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi und Regierungschef Silvio Berlusconi dem Musterhäftling gern gewähren möchten, die aber andererseits schwerfällt wegen des Symbolcharakters des Häftlings und der Epoche, für die er steht. Es geht im Fall Sofri, nur folgenschwerer, um dieselbe Frage, die vor drei Jahren als Fall Joschka Fischer Deutschland bewegt hat: um die "Aufarbeitung" der gewalttätigen Vergangenheit der 68er. Hat eine solche justiziell oder hat sie politisch zu erfolgen? Und vor allem: Wann ist damit Schluss zu machen?
über die Frage wird gestritten, seit Adriano Sofri letztinstanzlich verurteilt ist. Eine große politische Öffentlichkeit, und zwar beileibe nicht nur die linke, misstraut dem Urteil. Immer von neuem landet der Fall auf der Tagesordnung der Institutionen und auf den Titelseiten der Zeitungen, und genauso regelmäßig verschwindet er wieder: Es traut sich so niemand recht, den "Fall Sofri" zu lösen. Nicht, solang keine Einstimmigkeit dazu herrscht. Diesen Sommer wäre es beinahe so weit gewesen: Regierungschef, Parlamentspräsidenten und Staatspräsident erklärten sich zur Begnadigung bereit. Ja, forderten sie ausdrücklich. Selbst ohne ein Gesuch des Verurteilten.
Aber wieder fand sich ein Justizminister, Roberto Castelli von der unberechenbaren Regionalistenpartei Lega Nord, der die Lösung vereitelte: Ihm wäre es vorbehalten gewesen, die Akte Sofri an den Staatspräsidenten weiterzuleiten. Er tat es nicht, "denn da könnte ja jeder kommen", war sein hemdsärmeliges Argument, und der Präsident konnte somit nicht verfahren.
Mittlerweile kann gesagt werden, niemand will Sofri im Kerker behalten. Denn er ist ein politisch denkbar unbequemer Häftling. Indem er nämlich ein provozierend hochanständiger ist. Es begann schon damit, dass er sich trotz Unschuldsbeteuerung und trotz hochrangiger politischer Beziehungen der Verhaftung nie entzog. Zwischenzeitlich freigesprochen, unternahm er ausgedehnte Reisen ins Ausland. Als ihn das nächsthöhere Gericht dann wieder verurteilte, tauchte der mittlerweile 61-Jährige nicht unter, so wie es viele Exponenten jener "bleiernen Jahre" getan hatten. Korrekt stellte sich Sofri der Gerichtsbehörde.
Und korrekt führt der sich unschuldig Bekennende sein Kerkerleben. Dem Establishment, dessen Schreck der brillante Absolvent der Eliteuniversität Scuola Normale di Pisa in seinen Jugendjahren war, wäre ein frei gebliebener Sofri lieber gewesen. Als wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Justiz 1988 sich den ehemaligen Anführer von Lotta Continua holte, war dieser so gut wie ein politischer Ruheständler. Er trat noch in elitären Diskussionszirkeln auf, pflegte zwar die alten Freundschaften, jene zu seinem Südtiroler Weggefährten Alexander Langer, politisch jedoch hatte er sich sehr dem moderaten Lager der damals regierenden Sozialisten unter Bettino Craxi angenähert. Eine Komplott-Theorie kann am leichtesten schon mit dem Hinweis zerstreut werden, dass Sofri zum Zeitpunkt seiner Festnahme besoldeter Berater des zur gleichen Zeit amtierenden (sozialistischen) Justizministers Claudio Martelli war.
Prozesse und Verhaftung ließen den Polit-Pensionisten notgedrungen wieder zum Politiker werden. Es sei nicht zynisch, in diesem Zusammenhang Luigi Pintor zu zitieren, den letzten Sommer verstorbenen hervorragenden Urvater Italiens linken Journalismus': Pintor behauptete, auf die Zeit des Faschismus bezogen, "der Kerker war für viele von uns die beste Universität."
Adriano Sofri bekommt das oft zu hören, und es verletzt ihn. In Briefen, die der Häftling körbeweise bekommt und auf die er prinzipiell nicht anwortet (in einem Brief erga omnes hat er sich ein für alle Mal öffentlich dafür entschuldigt) kehrt wie ein Refrain die Feststellung wieder: "Du da drinnen bist viel freier als wir hier draußen." Der prominente Häftling hält solche ermunternd gemeinte Einschätzung für "einen Frevel, nicht mir gegenüber, sondern gegenüber all den jungen Marokkanern, Drogenabhängigen, kleinen Dieben und anderen, die hier hinter Schloss und Riegel sitzen."
Damit gesteht Sofri: Natürlich ist er ein privilegierter Häftling. Offiziell als Tribut an sein Alter (Jahrgang 1942) hat er eine Einzelzelle. Dass diese mehr mit Büchern und Papier belegt ist als von ihm selbst, ist Gegenstand wiederholter Klagen in seinen Artikeln. Besuche bei Sofri sind relativ leicht zu erwirken. Es reicht, sich einen Parlamentarier oder einen Journalisten als Begleiter zu nehmen. Vorgelassen zu werden, ist eher eine Frage der Belastbarkeit des Häftlings als der Anstaltsordnung. Zwar darf auch Häftling Sofri nicht Telefongespräche empfangen und weder E-Mail noch Internet benutzen, aber sonst bewältigt er ein Kommunikationspensum, dass es beinahe schon ein italienischer Nationalsport ist zu fragen: Aber wie macht denn der Sofri das nur?
Der Häftling Sofri schreibt. Und er schreibt so viel und in so unterschiedlichen Medien, dass er allein dadurch fast schon destabilisierend wirkt. In der linksliberalen La Repubblica und in dem ehemalig kommunistischen Parteiblatt L'UnitB erscheinen regelmäßig seine Kolumnen. In Italiens größtem Wochenmagazin, Panorama, das zum Medienkonzern von Regierungschef Berlusconi gehört, hat der Mann im Kerker das letzte Wort (Dopo tutto), und für den Il Foglio, das elitäre Schicki-Politblatt der Berlusconi-Ehefrau Veronica, schreibt er jeden Tag eine Piccola posta ("Kleine Post"), ein paar Zeilen aus seinen Tagebuch-Aufzeichnungen, die längst auch in Buchform zu haben sind. Von der ausgedehnten Korrespondenz und der peniblen Betreuung des eigenen Falles gar nicht zu reden.
Darüber hinaus gehören Polit-Diskussionen mit Live-Zuschaltungen des Herrn aus Zelle 1 von Pisa zum Repertoire eines jeden halbwegs ehrgeizigen TV-Senders. Sofri ist im Kerker zu jenem Rhythmus zurückgekehrt, den er als junger Revolutionär pflegte: ein Tag- und Nachtarbeiter mit so gut wie keinem Schlafbedarf. Weil aber auch der Tag des Adriano Sofri nur 24 Stunden hat, muss dem Schwerbeschäftigten zur Hand gegangen werden. Fürs Fernsehen besorgt das Sohn Luca, der zwar nicht die intellektuelle Schärfe des Vaters hat, diesem jedoch zum Verwechseln ähnlich sieht. Luca Sofri ist bei Talk- Shows gefragter Ersatz für den Papa.
Stimmt also doch ein bisschen, was der Häftling Adriano Sofri so oft gesagt bekommt: Nämlich dass "du da drinnen viel freier bist als wir hier draußen?" Der in mittlerweile zusammengerechnet acht Kerkerjahren sichtbar gealterte Jugendbewegte von ehedem weist den Trost weiterhin von sich. Ein Privileg jedoch räumt er ein: Im Unterschied zu jedem anderen Forscher und Journalisten kommt er an so gut wie keine Quellen und Unterlagen heran. "Unbegründete Gedanken" nennt er folglich das, was er schreibt. Er sagt: "Ich kann sagen, was ich will, weil ich im Gefängnis sitze." Soll heißen: Schlimmer kann es nicht werden.
KurzbiographieAdriano SofriAls Kind eines süditalienischen Vaters und einer norditalienischen Mutter steigt Adriano Sofri (Jahrgang 1942) an der Eliteuniversität Scuola Normale von Pisa im Herzen Italiens zum Kopf der italienischen 68er Bewegung auf. Er ist Anführer von Lotta continua, der radikalsten, wenn auch undogmatischsten unter allen linksextremen Bewegung jener Zeit. 1976 beschließt Lotta continua die Selbstauflösung. Teile der Bewegung sind in die Terrorismusszene abgedriftet. Sofri zieht sich aus der Politik zurück, reist, ist journalistisch tätig, berät die regierenden Sozialisten, bis ihn, 1989 die Vergangenheit einholt: Zusammen mit zwei anderen ehemaligen Lotta-continua-Exponenten wird Adriano Sofri verhaftet. Der Vorwurf: Planung und Mithilfe an der Ermordung des Mailänder Polizeikommisars Luigi Calabresi im Jahr 1972. Die Anklage beruht auf der Aussage eines Kronzeugen. Nach zehn Jahren und dreizehn Prozessen mit zum Teil entgegengesetzten Urteilen, wird Adriano Sofri 1997 letztinstanzlich zu 22 Jahren Haft verurteilt. Seither sitzt er in der Haftanstalt von Pisa ein. Kohärent mit seiner Unschuldsbeteuerung weigert sich Adriano Sofri, den Staatspräsidenten um Begnadigung anzurufen. Für ihn tun das seit Jahren hochrangige Politiker aller Lager und namhafte Exponenten des kulturellen Lebens Italiens. Florian Kronbichler |
aus: der überblick 04/2003, Seite 45
AUTOR(EN):
Florian Kronbichler:
Florian Kronbichler ist freier Journalist in Bozen, Südtirol. Er war Chefredakteur des politischen Wochenmagazins "FF". Er schreibt Reportagen für deutsche und italienische Zeitungen des Alpenraums.