Kommentar zur Kürzung der Entwicklungshilfe von Eberhard le Coutre
Das Geld wird knapp bei den deutschen Kirchen. Dafür werden verschiedene Gründe genannt. Von den vielen Kirchenaustritten im Laufe der letzten Jahre ist die Rede. Es wird auf Begleitumstände einer Steuerreform hingewiesen, die sich ungünstig auf die Kirchensteuern auswirkt. Und es werden von den Kirchen bisher betriebene Aktivitäten aufgezählt, die als überflüssige Spielwiesen erkannt wurden. Alle diese Ursachen haben ernstzunehmende Hintergründe und berechtigen kritische Überprüfung. Aber alle genannten Ursachen zusammengenommen - und weitere, die man noch nennen könnte - rechtfertigen nicht die Einfallslosigkeit und die Verbissenheit, mit der das Thema Sparen in den Kirchen zur Zeit behandelt wird.
von Eberhard le Coutre
Vor allem an zwei Tatsachen ist zu erinnern. Erstens: Auch eine Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit rückläufigem Kirchensteueraufkommen gehört noch zu den reichsten Kirchen der Welt. Wichtiger ist das Zweite: Es muß schon ziemlich gut verdient werden, bis die Kirchensteuer etwa zwei Prozent vom Einkommen ausmacht (bei gemeinsam veranlagten Eheleuten ab einem steuerpflichtigen Einkommen von deutlich über DM 100.000). Den Christen in den amerikanischen Kirchen oder in den deutschen Freikirchen, insbesondere aber auch in den vielen Kirchen in den Entwicklungsländern ist ihr Christsein wesentlich mehr wert. Da wird von Beiträgen in Höhe von rund zehn Prozent ausgegangen, zu erbringen entweder in Form von Geld oder als Arbeitsleistung für die Gemeinde und ihre Aufgaben. Mit anderen Worten: Kaum irgendwo in der Welt sonst ist das Christsein so billig wie bei uns.
Das ist natürlich wohlbekannt auf den kirchlichen Chefetagen. Aber es fehlen der Wille und die Phantasie, solches Wissen umzusetzen in überzeugende und akzeptanzfähige Programme, die sich dazu eignen, die Mitglieder unserer Kirchengemeinden um tatkräftige Mithilfe zu bitten an der finanziellen Mitverantwortung vor allem für die großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Kirchen. Aufgeregte und nicht verständlich erläuterte Sparprogramme werden jedoch nicht viel bewirken, solange nicht zugleich gezielt auch um Mitverantwortung geworben wird. Solche Bemühungen fortdauernd zu unterlassen heißt auch, insbesondere die engagierteren und intelligenteren Gemeindeglieder fortdauernd zu unterschätzen und zur Unmündigkeit zu degradieren.
In den Gliedkirchen der EKD wird inzwischen auch zu Lasten der 1968 beschlossenen Gemeinschaftsaufgabe Kirchlicher Entwicklungsdienst (KED) gespart. Besonders alarmierend dabei ist: Die Einzahlungen für den KED sind in den letzten Jahren erheblich stärker gesunken als das Kirchensteueraufkommen zurückgegangen ist. Damit wird angesichts der 1979 in Bad Godesberg gemeinsam mit der katholischen Kirche formulierten Aufgabe, "Entwicklung als internationale soziale Frage" zu verstehen, ein bedauerlicher Abstumpfungsprozeß erkennbar. Wie konnte es dazu kommen? Ein Blick zurück auf die Anfänge mag ein paar aufklärende Beobachtungen - wenigstens zum Verständnis, vielleicht zur Kurskorrektur - beisteuern.
Als wir ärmer waren, waren wir großzügiger. Etwas ausführlicher gesagt: Als wir, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) organisierte Provinz der weltweiten Christenheit, noch weniger Geld hatten als heute, waren wir persönlich freigebiger, als Gemeinschaft von Christen von kühneren Visionen bewegt und als Kirche phantasievoller im Umgang mit dem verfügbaren Geld als heute. Das heißt, als wir ärmer waren, machten wir klügeren Gebrauch von dem, was wir hatten und konnten. Was hat sich in den Kirchen geändert, seit die Dritte Welt als immer wichtiger werdender Raum für unsere soziale Mitverantwortung entdeckt wurde? Was war damals bei uns anders als heute?
Anders war die Kirchlichkeit selbst. Zwar waren wir und die damaligen Zeitgenossen kaum frömmer oder moralischer als heute. Aber der Status der Kirchen in der Gesellschaft war ein anderer und es gab eine andere innerkirchliche Prioritätenliste. Die Entdeckung der Dritten Welt fiel bei uns ja noch in die Phase der kirchlichen Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Neuorientierung meint in diesem Zusammenhang beides, - die Kirchen haben sich neu orientiert, aber auch sehr viele einzelne Menschen haben neue Orientierung gesucht und oft auch gefunden. Leute, die nach 1933 aus der Kirche ausgetreten, oder nie in sie hineingewachsen waren, oder Bindungen an sie verloren hatten, bemühten sich um Rückkehr.
Hinzu kommt: Die Anfänge der kirchlichen Entwicklungsverantwortung fielen in eine Zeit, in der eine breite Öffentlichkeit von den Kirchen noch erwartete, daß sie in Zeiten gesellschaftlichen Wandels Ziele und Wege überzeugend und verbindlich zu formulieren und zu propagieren in der Lage sind. Nichtzugehörigkeit zur Kirche galt in weiten Kreisen als anstößig, oft als karriereschädlich und peinlich. Objektiv war es wahrscheinlich nicht wirklich so, - aber es wurde von vielen so empfunden, und die Kirchen taten wenig bis nichts um diese ihnen förderliche Stimmung kritisch zu problematisieren.
Inzwischen ist es ja fast grnau umgekehrt: Oft genug gerät in größere Rechtfertigungszwänge, wer engagiert Verbleiben in der Kirche demonstriert als der smarte Aussteiger. Wir finden uns heute in einer Situation vor, in der die Kirchen neben anderen Anbietern als Mitbewerber auf dem Markt der Sinngeber angesehen werden. Was die Lage nicht einfacher macht: Weite kirchliche Kreise scheint die latente Anfrage nach sinnstiftenden Antworten gar nicht mehr so sehr zu interessieren, sie ziehen es vielmehr vor, mit sozialen Angeboten und gesellschaftlichen wie politischen Forderungen um Kundschaft und Akzeptanz zu buhlen, Profilierung also auf einem Felde zu suchen, auf dem möglicherweise andere so manches vielleicht überzeugender anzubieten haben.
Wichtiger aber als ein Hinweis auf das äußere Erscheinungsbild ist der Versuch, die innere Befindlichkeit der frühen Jahre, in denen wir die Dritte Welt entdeckten, zu charakterisieren. Die gelehrte und in den Kirchen vorherrschende Theologie der ersten Zeit nach dem Kriege war bestimmt durch die großen Auseinandersetzungen um die Vermittelbarkeit der christlichen Botschaft in eine moderne Welt. Drei Namen mit dem "B" am Anfang wurden prägend für eine ganze Theologengeneration und bekamen Auswirkungen bis in die Gemeinden hinein. Karl Barths radikale Kritik an allem, was mit dem Etikett "Religion" oder "religiös" daherkam, führte zu einer qualitativ neuen Sensibilität für das Reden über Gott; - jeder positive Satz fordert einen Gegen-Satz heraus, sich solcher Dialektik zu verweigern, etwa durch eine hausbackene, eindimensionale Frömmigkeit, heißt das Thema der Theologie total zu verfehlen. Rudolf Bultmann präsentierte mit seinem Programm zur Entmythologisierung das Konzept für eine philologisch exakte und historisch redliche Auslegung der Heiligen Schrift, die bemüht ist, zeitgeschichtliche Mythen nach ihren bleibenden Bedeutungen zu befragen, unwesentliche Ummantelungen zu durchbrechen und die existentielle Betroffenheit des modernen Menschen durch Anspruch und Verheißung des Evangeliums als auch heute verbindlich erkennbar zu machen. Schließlich wurde Dietrich Bonhoeffer wichtig als einer von wenigen wirklich glaubwürdigen Zeugen für die christliche Botschaft, der früher als andere, vor allem auch früher als die etablierten Kirchen, die verhängnisvollen Irrwege des Zeitgeistes durchschaute und bis an sein gewaltsames Lebensende über Formen wie Inhalte eines neuen, weltlichen, nicht durch etablierte Institutionen abgesicherten Redens von den großen Wahrheiten Gottes nachgedacht und geschrieben hat.
Solchermaßen mit dem besten intellektuellen und spirituellen Rüstzeug versehen, das unser Jahrhundert theologisch zu bieten hatte, begannen die Kirchen nach dem Kriege, ihre öffentliche Verantwortung neu zu definieren und zu praktizieren. Einige Neugründungen oder Anknüpfungen an bewährten Vorläufern illustrieren die neuen Aufbrüche der vierziger und fünfziger Jahre: Die Studentengemeinden, die Evangelische Akademikerschaft, engagierte Jugendarbeit in den Gemeinden mit vielfältigen Verflechtungen auf regionaler und bundesweiter Ebene. Zu nennen ist ferner die Neugründung des Deutschen Evangelischen Kirchentages, von dem konkrete Anregungen für die deutsche Politik ausgingen. Ferner die Evangelischen Akademien und - last not least - das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt. An diesen Neugründungen war erkennbar, was man das Profil des deutschen Protestantismus nennen konnte.
Die Erinnerung an die Aufbrüche nach dem Zweiten Weltkrieg ist insbesondere deshalb wichtig, weil die Neuanfänge Bemühungen darum waren, christlichen Glauben zu wecken und zu festigen. Es konnte überhaupt keinen Zweifel daran geben: Verwirklichte Moral, neues Handeln, politische und sozialethische Verantwortung erwachsen aus dem Glauben. Die kirchliche Trägerschaft von Programmen und Projekten, die inzwischen auch im kirchlichen Entwicklungsdienst so wichtig geworden ist, bietet allein noch keine Gewähr für neue Qualität. Erfolg-reiche Konkretisierungen christlicher Vorstellungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur konnte und kann es nur in dem Maße geben, in dem eigenverantwortlich denkende und handelnde Persönlichkeiten gefunden und dafür motiviert werden können. Wichtig also ist es, Menschen zu suchen und zu finden, die ihr eigenes Gewissen bemühen können - nicht nur Beschlüsse von Gremien ausführen - , Menschen, die wissen, daß mögliches Scheitern keine Verurteilung des Handelnden zur Folge hat, sondern daß Vergebung und Neuanfänge möglich sind.
Auch das Entwicklungsengagement der Kirchen wurde eindeutig und klar als Folge aus dem Glauben begriffen. Wenn man die frühen Erklärungen zur Entwicklungsverantwortung nachliest, ist das deutlich zu erkennen. Beispielhaft für viele andere ußerungen dazu ein Satz der EKD-Synode in Bremen 1973: "Im Glauben an Gottes Schöpfung und Heilsabsicht für den Menschen nehmen die Christen die erschreckenden Perspektiven der sich zuspitzenden sozialen und rassischen Konflikte als Herausforderung an, sich aktiv im Rahmen einer Strategie des gemeinsamen Überlebens zu engagieren."
Auf diesem Hintergrunde ist nun zu fragen, was uns in den Kirchen seit so vielen ermutigenden Neuanfängen nach 1945 schleichend abhanden gekommen ist. Vielleicht die persönliche Betroffenheit? Wie bereits festgestellt: Als wir die Armut in Übersee als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft bei uns entdeckten, waren wir selber noch nicht so reich wie heute. Dennoch - oder: Deshalb? - wurde "Entwicklung" schnell eine Sache, die mit geradezu jugendbewegtem Elan ergriffen und ebenso ideenreich wie hartnäckig verfolgt wurde. Davon, daß es hier einmal um eine starke, zu großem persönlichem Engagement bereite Basisbewegung ging, ist inzwischen nicht mehr viel zu spüren. Diejenigen, die sich bei uns immer noch - inzwischen zumeist beruflich - mit der Armut in der Welt beschäftigen, leben im beruhigenden Wohlstand einer gut gesicherten Mittelklasse. Dieser Zustand soll und darf nicht diffamiert werden. Aber daß es hier ein Problem gibt, sowohl für den seelischen Haushalt der Akteure, als auch für den kirchlichen Entwicklungsdienst und sein Verhältnis zu den Partnern in Übersee, davon ist bei uns zu wenig und zu selten die Rede.
Mit guten Gründen hat das Thema "Theologie der Armut" auch in Deutschland eine Reihe von Jahren die ökumenische Diskussion begleitet. Aber bei kritischer Betrachtung kann das allein noch nicht genügen. Die Kirchen müssen nicht nur eindringlich von der Armut der Armen reden können, sie müssen darüber hinaus auch sagen können, wie man mit einem einigermaßen erträglichen Gewissen im Wohlstand leben kann. Oder, wenn sie das nicht fertigbringen, muß wenigstens das Problembewußtsein für dieses Dilemma deutlich wachgehalten werden, - gerade auch von Kirchen, deren Denken und Trachten mit dramatischer Aufgeregtheit fast nur noch um ihre eigenen Finanzprobleme zu kreisen scheint.
Was ist übrig geblieben, nachdem uns im Laufe der Jahre die existentielle Betroffenheit im Umgang mit der Moral und der kreativen Phantasie etwas eingetrocknet ist? Übriggeblieben ist ein kraftlos gewordener, bis zur Langweiligkeit ausufernder plakativer Gebrauch von Forderungen und Appellen. Wenn Christen in früheren Phasen der Kirchengeschichte neue Notwendigkeiten gesehen haben, gerieten sie selbst in Bewegung, gründeten neue Gemeinschaften, Orden, Siedlungen, korrigierten Loyalitäts- und Eigentumsverhältnisse, verabschiedeten sich von alten Gewohnheiten. Heute verabschieden wir nur noch neue Erklärungen und Papiere. Früher änderten die bewegten Christen sich selbst, heute fordern sie und schreiben vor, daß und wie andere sich zu ändern haben. Das aber ist letztlich eine einschläfernde und distanzierende Bewegung.
Viele öffentliche Erscheinungsformen der Kirchen legen somit den Schluß nahe, daß immer weniger das verfolgt wird, was den Kirchen eigentümlich ist und was nur von ihnen vertreten werden kann. Man hat es sich statt dessen bequem gemacht in der Rolle eines höhere Weihen gewährenden Verstärkers ohnehin richtiger Selbstverständlichkeiten, - und wird natürlich als solcher Verstärker auch immer wieder gern in Anspruch genommen, solange man die jeweils gewünschte Richtung verstärkt.
Mit der Ausprägung einer weitgehend verselbständigten kirchlichen Verlautbarungskultur einhergegangen ist die Vernachlässigung der Pflege des theologischen Kernbereiches. Unter anderem ist dieser Vorgang zu beobachten an der "theologischen Lyrik", die den sogenannten "Konziliaren Prozeß" begleitet. Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung - drei elementare Forderungen nach Verwirklichung des Guten und für das Überleben Notwendigen - haben sich zu eigenständigen Inhalten verselbständigt, die als sozusagen ausschließlich aus dem Evangelium abzuleiten verstanden werden.
Was wäre daran so schlimm? muß sich fragen lassen wer so argumentiert. Die Antwort ist eindeutig: Natürlich ist es nicht schlimm, sondern sogar geboten, daß Christen ihr Christsein als eindringlichen Aufruf verstehen, sich um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu bemühen. Höchst problematisch aber ist es, wenn Christen - beabsichtigt oder nicht - durch die Art und Weise, wie sie davon reden, den Eindruck erwecken, es sei ihrer Meinung nach genuin christlich, diese Ziele zu verfolgen. Wo solche Töne anklingen, ist massive Arroganz und Mißachtung atheistischer und andersgläubiger Mitstreiter zu konstatieren.
Allerdings gibt es Situationen und Umstände, bei denen Christen Widerstand und Betroffenheit artikulieren müssen, und zwar Situationen, in denen nur Christen das können und es dann auch müssen. Aber damit, mit dem sogenannten "status confessionis", ist sehr vorsichtig und behutsam umzugehen, er ist immer die Ausnahme, die nicht zum Bestandteil eines systematisierten Programms gemacht werden kann. Ein allgemeines Privileg für die Erkenntnis richtiger gesellschaftlicher, politischer oder wissenschaftlicher Ziele und Methoden für Kirche und Theologie gibt es jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Der Kampf für Frieden, Gerechtigkeit, Schutz der Umwelt und Einhaltung der Menschenrechte, - das sind keine Ziele, die einen religiös verklärenden Überbau nötig haben, sie wurden und werden vielmehr leidenschaftlich auch von vielen nicht religiös orientierten Mitmenschen verfolgt.
Je deutlicher auch die Kirchen den Primat der Vernunft in diesen Bereichen betonen, desto klarer werden sie daher ihr eigentliches Thema, nämlich Freiheit und Trost für das geängstete Gewissen, artikulieren können und damit dabei helfen, immer wieder Menschen zu befähigen, phantasievoll und mutig Neues zu wagen. Kirchliche Gremien und Kirchenleute aber, die sich immer wieder sofort zu allem und jedem äußern, was gut und erstrebenswert zu sein scheint, begeben sich in fatale Nachbarschaft zu den wenig originellen und intelligenten Wahlkämpfern, deren visionäre Phantasie sich in der Erklärung erschöpft, daß man alles so machen wolle wie die anderen, - nur etwas besser.
Wie kann es weitergehen mit dem kirchlichen Entwicklungsdienst? Das Entscheidende wurde bereits angesprochen: Die theologische Mitte muß wieder deutlicher erkennbar werden. Die Entwicklungsdenkschrift der EKD aus dem Jahre 1973 hat dazu sehr eindringlich und ausführlich Stellung bezogen. Z.B. heißt es in Ziffer 9 u.a.: "Der aus der Liebe fließende Weltdienst wird nicht das Paradies auf Erden schaffen. Aber er ist ein Zeichen, welches bezeugt, daß Gott die Welt liebt und zu ihrer Bestimmung bringen will". Im Blick auf die von den Kirchen wahrgenommene Entwicklungsverantwortung gefragt: Kann dieses Zeichen von der Liebe Gottes so verwirklicht werden, daß eine internationale Solidarität signalisierende ökumenische Deutung und Bedeutung gefunden wird für das einstweilen primär ökonomisch definierte Konzept Globalisierung? Im Kontext unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Befindlichkeit muß erwartet werden, daß die im europäischen Einigungsprozeß ihren Ort verständlich neu artikulierenden Kirchen vorrangig auch nachdenken und Handlungsentwürfe vorlegen dazu, was "Entwicklung als internationale soziale Frage" als Herausforderung für Europa bedeutet. Eine neue, den Lebensraum Europa stärker reflektierende ökumenische Standortbestimmung muß schließlich auch dazu führen, den Begriff "Entwicklung" selbst auf seine anhaltende Brauchbarkeit zu überprüfen, denn: Unterentwicklung gibt es auch in Europa und überbordenden Reichtum auch in vielen Ländern der Dritten Welt.
Noch konkreter gefragt: Kann der inzwischen eingeleitete Übergang von der offensichtlich nicht mehr für angemessen und zu teuer gehaltenen Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst (AG KED) zum Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) auch als eine Art Paradigmenwechsel betrachtet werden, durch den die EKD in europäischer Partnerschaft globale Neuorientierung in einem sich wandelnden Umfeld anstrebt? Die für den Wechsel Verantwortlichen werden sehr bald erklären müssen, welche Schwerpunkte und Ziele sie künftig verfolgen wollen.
Zusammengefaßt: Für Pessimismus ist die Lage zu ernst. Irgendwann werden es die Spatzen auch von den Kirchtürmen pfeifen, daß nicht fehlendes Geld den entscheidenden Mangel der nach wie vor reichen Kirchen in unserem Lande ausmacht. 1799, also vor zweihundert Jahren, schrieb Jean Paul beim Vor-denken über die Prioritäten der EKD und des KED: "Nur das Gewissen ist ernsthaft, alle andern Kräfte spielen". Wenn Spielwiesen und Erbhöfe umgepflügt und neu bepflanzt werden, muß also niemand Angst haben, solange die grundsätzliche Orientierung im Gewissen erhalten bleibt.
aus: der überblick 04/1999, Seite 92