Die Exporte stehen im Zentrum der Wachstumsstrategie
Mexiko befindet sich in der Phase einer historisch bedeutsamen Transformation. Nach einer langjährigen Politik der wirtschaftlichen Abschottung und Ersetzung von Importen durch heimische Produktion erfolgte ein radikaler Kurswechsel zur Öffnung der Märkte und Schaffung von Arbeitsplätzen durch Exportförderung und ausländische Direktinvestitionen. Das geht einher mit einem Wandel zu mehr Demokratie und Pluralismus.
von Tamara Irene Kitain
Verfolgt Mexiko einen Sonderweg angesichts fortschreitender Globalisierung wirtschaftlicher Beziehungen in allen Teilen der Welt? Diese Frage wird in letzter Zeit häufig gestellt. Weitere Fragen drängen sich auf: Wie erfolgreich ist der neue wirtschaftspolitische Kurs, der verheißt, ein neues, besseres Mexiko zu schaffen? Profititieren davon alle Mexikaner? Schafft diese entschlossen betriebene wirtschaftliche Öffnung neue Arbeitsplätzen? Vollzieht Mexiko in diesen Jahren tatsächlich eine für die Geschichte des Landes bedeutsame Transformation, in dem die Demokratie, das Recht und die soziale Gerechtigkeit die Oberhand gewinnen? Werden wir den Anforderungen der Zukunft gewachsen sein?
Um solche Fragen auch nur annähernd beantworten zu können, sollte man sich zunächst verschiedene Fakten und Besonderheiten anschauen, die zum Verständnis des Landes unerlässlich sind. Vor allem kann Mexiko nicht anhand weniger globaler Indikatoren beurteilt werden. Das würde in die Irre führen. Vielmehr ist eine sehr differenzierte Betrachtungsweise nötig.
Das Territorium Mexikos ist sechs mal größer als die Bundesrepublik Deutschland und beherbergt eine Bevölkerung von annähernd 100 Millionen Menschen. Mexikos Geografie ist durch extreme Gegensätze gekennzeichnet: Moderne Großstädte stehen winzigen, über das Land verstreuten Dörfern gegenüber, die sich in dicht bewaldeten, tropisch-feuchten Gebirgsketten oder in dürren Landstrichen verlieren. Viele Menschen im gegenwärtigen Mexiko scheinen in verschiedenen Zeiten zu leben, wie der Nobelpreisträger für Literatur, Octavio Paz, einst bemerkte. Mexiko spiegelt das Phänomen der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in den unterschiedlichsten Lebensbereichen wider. Hinzu kommt, dass dieses Land in sehr unterschiedlichen Traditionen wurzelt: Mexiko ist eine Synthese aus großartigen Zivilisationen indianischen wie europäischen Ursprungs, in denen selbst so grundlegende Dinge wie die Zeit, das Leben oder der Tod ganz verschiedene Bedeutungen hatten.
Warum ist dies wichtig? Was hat dies mit dem heutigen Mexiko zu tun? Diese Komplexität fordert die Wirtschafts- und Sozialpolitik besonders, weil die üblicherweise verwendeten, nüchternen Zahlen und Statistiken solche vielschichtigen Zusammenhänge kaum wiedergeben können. Daher ist es leichtfertig, sich beispielsweise einfach anhand von ein paar Zahlen ein Bild über die Lage unserer marginalisierten Ortschaften machen zu wollen, zumal dann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass diese heute Schulen, Straßen oder Krankenstationen haben, die sie bis vor wenigen Jahren nicht besaßen.
Häufig wird ferner übersehen, dass Mexiko über einen langen Zeitraum hinweg ein sehr hohes Bevölkerungswachstum aufwies. Wenngleich diese Zuwachsrate in den letzten Jahren abflacht, so sorgt sie immer noch für gewisse Eigenarten der Bevölkerungszusammensetzung, die jedwede Regierung vor beträchtliche Probleme stellt: Die Hälfte der mexikanischen Einwohner ist unter 20 Jahre alt! Damit ist die Aufgabe, die schulische und berufliche Ausbildung zu gewährleisten und den auf den Arbeitsmarkt nachrückenden Generationen Beschäftigung zu geben, ungleich größer als in anderen Gesellschaften.
Diesen gewaltigen Herausforderungen versucht Mexiko durch eine neue Wirtschaftspolitik zu begegnen, die im Gegensatz zu der vorherigen Ausrichtung als liberal zu bezeichnen ist. Allerdings handelt es sich – entgegen landläufigen Vorstellungen – um ein Wirtschaftsmodell mit starken sozialen Komponenten. Viele Mexikaner nämlich leben nicht oder nicht ausschließlich von der Marktwirtschaft und können auch nicht von ihr leben, sondern müssen vom Staat unterstützt werden. So leistet "Progresa" (Programa de Educación, Salud y Alimentación) – um nur eines der neuartigen und wegweisenden Sozialprogramme zu nennen – heute vier Millionen Familien Beistand, wobei systematisch versucht wird, verfestigte Strukturen der Armut zu durchbrechen, indem gleichzeitig eine bessere Ernährung, Gesundheitsvorsorge, Erziehung und Beschäftigung der Familien gewährleistet wird.
Mit der wirtschaftspolitischen Liberalisierung wurde die Rolle des Staates in den letzten Jahren neu definiert. Viele staatseigene Betriebe wurden privatisiert und überflüssige staatliche Reglementierungen der Privatwirtschaft abgebaut. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Regierung damit ihre richtungsweisende Funktion im Hinblick auf die wirtschaftliche oder gar soziale Entwicklung aufgeben hat. Vielmehr konzentriert sich der Staat jetzt mehr als zuvor auf seine sozialen Aufgaben. So werden heute etwa 60 Prozent der öffentlichen Haushalte für soziale Belange ausgegeben. Niemals zuvor wurden mehr Mittel für Erziehung, Gesundheit, Sonderprogramme zur regionalen Armutsbekämpfung und Ähnliches verwendet.
Das neue Wirtschaftsmodell hat zudem ein robusteres Wachstum erlaubt. In den letzten vier Jahren betrug die durchschnittliche Zuwachsrate fast 5 Prozent. Motor dieses Wachstums ist die Privatwirtschaft, die auf die verbesserten Rahmenbedingungen mit steigenden Investitionen reagiert, die mexikanische Konkurrenzfähigkeit vorantreibt und neue Arbeitsplätze schafft.
Gerade in den vergangenen Monaten wurde heftig darüber diskutiert, welche Ungerechtigkeiten und soziale Härten das liberale Wirtschaftsmodell hervorruft. Bei genauerer Betrachtung des speziellen Falls Mexiko wird man jedoch feststellen müssen, dass die Hauptursachen dieser Übel in den Fehlern der Vergangenheit liegen. Zu lange wurde in Mexiko – wie auch in anderen Staaten – eine unverantwortliche Wachstumsstrategie verfolgt, die eine hohe staatliche Verschuldung, große Leistungsbilanzdefizite, eine laxe Geldpolitik und in den Staatsbetrieben eine extreme Ineffizienz und ein beträchtliches Maß an Korruption tolerierte. Das Wohl und Wehe der mexikanischen Volkswirtschaft war abhängig von den Exporterlösen eines einzigen Produktes: des Erdöls. Dieses Wachstumsmodell neigte per se zur Instabilität und zeigte in den letzten 24 Jahren eine immer deutlichere Krisenanfälligkeit, was gerade in den politisch sensiblen Zeiten von Regierungswechseln offenkundig wurde. Gerade diese zunehmend tiefen Krisen führten immer wieder zu Wohlstandseinbrüchen, und deren Nachwirkungen sind bis heute zu spüren.
Beachtung verdienen hier zudem einige Faktoren, die außerhalb des Ökonomischen liegen. Mexiko befindet sich in einem Demokratisierungsprozess, der ganz neue Perspektiven für ein Land eröffnet, das nicht gewohnt war, dass seine politischen Parteien den eingeschlagenen Entwicklungskurs öffentlich zur Debatte stellen. Heute gibt es nicht nur eine starke Opposition; sie besitzt sogar die Mehrheit im Parlament. Unser politisches Leben ist heute mehr denn je durch einen Pluralismus gekennzeichnet, der immer mehr Gruppen Raum bietet, mit großer Entschlossenheit an Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Wir besitzen eine der Grundvoraussetzungen einer modernen Gesellschaft: eine unabhängige Presse. Zugleich jedoch hielt und hält sich mancherorts immer noch die alte Cliquenwirtschaft. In einem von Armut und mangelnder Bildung geprägten Umfeld beschwört diese dann brisante Konflikte in und zwischen den Gemeinden herauf, die mehr durch Emotion als durch den Verstand gesteuert ausgetragen werden.
Was aber ist der spezifisch mexikanische Sonderweg in der neuen liberalen Wirtschaftspolitik? Angelpunkt dieser neuen Politik ist der Versuch, neue Märkte im Ausland zu erschließen, das Investitionsniveau zu steigern und dadurch Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen. Ähnlich wie Unternehmen, die sich zusammentun, um sich als Global Players auf den Weltmärkten behaupten zu können, ist Mexiko dabei eine Art Allianz mit anderen Nationen eingegangen. Diese Allianzen in Form von Freihandelsabkommen sind Teil einer Strategie, die internationale Position Mexikos zu stärken und optimalen Nutzen aus seiner besonderen geografischen Lage zu ziehen. Mit Hilfe solcher Allianzen lässt sich zudem leichter Auslandskapital anwerben, das zur Deckung des Kapitalbedarfs einen wichtigen Beitrag leistet, wodurch die eigenen Ressourcen einschließlich der effizienten mexikanischen Arbeitskräfte besser genutzt werden können. Im Gegensatz zu den früheren Strategien der sogenannten asiatischen Tigerstaaten beruht die mexikanische Variante der Exportorientierung auf einer kompromisslosen Marktöffnung und Liberalisierung. Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas, die in der jüngeren Vergangenheit ebenfalls einen Kurswechsel in Richtung liberale, exportorientierte Wachstumsstrategie vollzogen haben, besitzt Mexiko durch die geografische Nähe zu den USA eine Art Brückenkopffunktion, die dem Land besondere Möglichkeiten für einen Sonderweg bietet.
Der Beitritt Mexikos zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) im Jahre 1986, der eigentliche Beginn seiner handelspolitischen Öffnung, war Teil des fundamentalen Wechsels in der Wirtschaftspolitik des Landes. Die seit den fünfziger Jahren in weiten Teilen Lateinamerikas verfolgte Politik der importsubstituierenden Industrialisierung hatte ihre innere Schubkraft weitgehend verbraucht und dazu geführt, dass der wachsende Bedarf an Maschinen und Ausrüstungsgütern, die importiert werden mussten, sich nicht mehr finanzieren ließ. Deshalb wurde die Importsubstitution durch eine aggressive Politik der Exportförderung abgelöst. Dieser Zielsetzung standen zunächst viele Hindernisse entgegen. Dazu gehörten die Tendenz zur Überbewertung der Währung, hohe Einfuhrzölle, die es dem Exportsektor unmöglich machten, kostengünstige Komponenten aus dem Ausland in die Produktion einzubeziehen, sowie hohe Inflationsraten, die wiederum hohe Zinssätze nach sich zogen und damit die Rückzahlung von Krediten sehr erschwerten. Eine konsequente Exportorientierung konnte sich damit nicht auf eine isolierte Strategie der Ausfuhrförderung beschränken, sondern erforderte eine Anpassung aller wichtigen wirtschaftlichen Variablen, eine Anpassung, die sich genau betrachtet bereits seit 1983 vollzog.
1990 begann Mexiko, mit den Vereinigten Staaten über ein Abkommen zu verhandeln, das wohl das gewagteste Unterfangen der mexikanischen Wirtschaftsgeschichte darstellt: ein Freihandelsabkommen mit dem "Koloss des Nordens". Die Verhandlungen schlossen bald auch Kanada ein und führten zum Nordatlantischen Freihandelsabkommen (NAFTA), das am 1. Januar 1994 in Kraft trat. NAFTA läutete schon insofern eine neue Ära der nachbarlichen Beziehungen ein, als man nun daran ging, die geografische Nähe positiv zu nutzen statt wie bisher zu problematisieren. Der wichtigste Auslandsmarkt für Mexiko sind seit jeher die USA. Daher war es nur folgerichtig, den bilateralen Austausch durch Zollsenkungen zu stärken, Investitionen aus den USA durch klare gesetzliche Regeln zu fördern und Schlichtungsmechanismen zu verankern, die tatsächlich wirken, wenn Streitigkeiten auftauchen, die in solch gewaltigem Unterfangen geradezu unvermeidlich sind. Solch ein Vertrag wäre in den frühen achtziger Jahren schlicht undenkbar gewesen.
Die Auswirkungen des NAFTA-Vertrages auf Mexiko sind heute deutlich zu sehen: Der Wert des mexikanischen Außenhandels beträgt inzwischen fast das Zweieinhalbfache des Jahres 1993, dem letzten Jahr vor Abschluss des Vertrags. 1999 erreichten die mexikanischen Ausfuhren einen Jahreswert von rund 137 Milliarden US-Dollar. Das ist doppelt so hoch wie das Exportaufkommen Brasiliens. Damit ist Mexiko nach den Statistiken der Welthandelsorganisation (WTO) das achtgrößte Exportland der Welt. Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, als die Konkurrenz auf den Weltmärkten heute weitaus schärfer ist als in den Zeiten, in denen die asiatischen Tigerstaaten ihre aggressive Strategie der Exportförderung begannen und uns in Staunen versetzten. Der Außenhandelsumsatz Mexikos mit den Vereinigten Staaten ist heute 2,6 mal, der mit Kanada 1,5 mal so groß wie im Jahr 1993. Im Gegensatz zu früheren Zeiten geht dies seit 1995 mit einem konstanten Handelsüberschuss mit den USA einher, was die mexikanische Zahlungsbilanz kräftig entlastet. Während Kanada immer noch die wichtigste Quelle für US-amerikanische Einfuhren darstellt, nimmt Mexiko heute vor Japan den zweiten Platz ein. Damit wird deutlich, dass aus der einst einseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit Mexikos von den Vereinigten Staaten jetzt eher ein wechselseitiger Vorteil geworden ist.
Von den Handelserleichterungen infolge des NAFTA haben sehr unterschiedliche Sektoren profitieren können: Der Fahrzeugbau konnte seine Ausfuhren in die USA seit 1993 um 250 Prozent steigern. Heute erwirtschaftet dieser Sektor einen Handelsüberschuss von 10 Milliarden US-Dollar jährlich. Die Bekleidungsindustrie konnte ihre Ausfuhren in die USA seit 1993 auf mehr als fünf Milliarden Dollar im Jahr vervierfachen. Seit 1998 ist die mexikanische Bekleidungsindustrie (vor China!) der wichtigste Lieferant für den US-amerikanischen Markt. Bei landwirtschaftlichen Produkten ist Mexiko mit rund 13 Prozent Anteil an den US-amerikanischen Einfuhren heute nach Kanada die zweitwichtigste Bezugsquelle der USA. Für Möbelimporte der USA ist Mexiko heute das drittwichtigste Land. Den ersten Platz in der US-Importstatistik nimmt Mexiko bei 1.300 der insgesamt 17.345 zolltariflich klassifizierten Produkte ein. Viele solcher Produkte können, nachdem sie ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem nordamerikanischen Markt bewiesen haben, auch in anderen Regionen Markterfolge aufweisen. Somit dient NAFTA der mexikanischen Exportwirtschaft gewissermaßen als Sprungbrett für Auslandsmärkte in anderen Regionen.
Obgleich der nordamerikanische Raum für Mexiko naturgemäß an wichtigster Stelle steht, beschränkt sich die neue Exportstrategie keineswegs auf die Mitglieder des NAFTA. Gleichzeitig mit den NAFTA-Verhandlungen begann die mexikanische Regierung, Gespräche mit anderen Staaten Südamerikas über Freihandelsabkommen zu führen. Das erste wurde bereits 1993 – noch vor NAFTA – mit Chile abgeschlossen, dem von Mexiko am weitesten entfernten Land des Kontinents. Dieses Abkommen führte zu einer Verdoppelung der mexikanischen Exporte. Ähnliche gute Resultate zeitigten die Freihandelsabkommen mit Venezuela, Kolumbien, Bolivien, Costa Rica und Nicaragua. Mit El Salvador, Honduras und Guatemala, dem Tríangulo del Norte, wurde unlängst ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Zur Zeit werden Verhandlungen mit weiteren Ländern der Region geführt, unter anderem mit Argentinien, Uruguay und Brasilien (im Rahmen des Associação Latino-Americana de Integração – ALADI, der Vereinigung zur lateinamerikanischen Integration).
Die mexikanische Außenhandelsstrategie beschränkt sich keineswegs auf den amerikanischen Kontinent. Vor kurzem wurde ein Freihandelsabkommen mit Israel unterzeichnet und wenig später mit den 15 Staaten der Europäischen Union. Gerade Letzteres wird dazu dienen, ein gewisses Gegengewicht zu NAFTA zu bilden. Um nicht aus dem mexikanischen Markt verdrängt zu werden, meldete sogar Japan Interesse an einem solchen Abkommen an. Als offizieller Beginn der Verhandlungen mit Singapur wurde das Datum 1. Juli 2000 vereinbart. Wie kaum ein anderes Land bemüht sich Mexiko um den Abschluss von Freihandelsabkommen. Wenn bisher nicht mehr als die genannten unterzeichnet worden sind, so liegt das daran, dass sich andere Länder weitaus länger gegen eine konsequente Politik der Marktöffnung sperrten als Mexiko.
Die neue Strategie der Exportorientierung durch eine rigorose Politik der wirtschaftlichen Öffnung will nicht nur erreichen, dass die Ausfuhren stetig steigen. Ziel ist vielmehr, dass neue, gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden und sich so der Lebensstandard der mexikanischen Bevölkerung verbessert. Ein steigender Wohlstand nämlich wird es dem Land erlauben, seine nach wie vor bedrückenden sozialen Probleme zu überwinden. Dazu leisten NAFTA und andere Abkommen dieser Art auch insofern einen Beitrag, dass Mexiko dadurch für ausländische Investoren viel attraktiver wird. Nach 1993 hat sich der Zustrom ausländischer Direktinvestitionen auf rund 11 Milliarden Dollar im Jahr verdreifacht. Damit wurde Mexiko zu einem der weltweit bevorzugten Länder für ausländische Unternehmen, die Mexiko quasi als Sprungbrett zur Eroberung der amerikanischen Märkte nutzen. Ausländische Direktinvestitionen schaffen in der Regel neue, attraktive Arbeitsplätze. Heute geht einer von vier neu geschaffenen Arbeitsplätzen auf solche Direktinvestitionen zurück. Die Löhne in diesen Unternehmen liegen etwa 48 Prozent über dem landesweiten Durchschnitt.
Dass sich Mexiko in den letzten Jahren eines stabileren Wachstums erfreuen konnte, lag nicht zuletzt auch daran, dass die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft drei Grundlehren für das neue Jahrtausend begriffen haben: Erstens sind heute die einzelnen Staaten hochgradig vernetzt, sei es durch ihre Währungen, ihre Börsen oder ihren Außenhandel. Zweitens können Entscheidungen großer institutioneller Anleger aus dem Ausland zu einer gravierenden Destabilisierung einer Volkswirtschaft führen. Drittens beeinflusst das politische System mehr denn je die wirtschaftliche Entwicklung. Mexiko hat bereits gegen Ende des Jahres 1994 als erstes Land diese drei Lehren sehr deutlich zu spüren bekommen, als politische Instabilitäten und ein massiver Rückzug des Auslandskapitals das Land in einen Abwärtsstrudel stießen, der Abwertung, stark beschleunigte Inflation und einen drastischen Rückgang des Sozialproduktes kombinierte. Diese Krise, die man als die erste Krise des 21. Jahrhunderts bezeichnen könnte, konnte rasch – nicht zuletzt durch die Hilfestellung des NAFTA-Partners USA – überwunden werden, auch wenn der Lebensstandard erst 1999 wieder das Niveau des Jahres vor der Krise erreichte.
Daher ist sich die amtierende Regierung Zedillo umso mehr der Gefahren bewusst, die mit politischen Unwägbarkeiten einhergehen. Seit nunmehr 24 Jahren wird Mexiko jeweils im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen, also alle 6 Jahre, von einer wirtschaftlichen Krise heimgesucht, welche das Land immer wieder zurückwirft. Um diesen Zyklus zu durchbrechen, wurde anlässlich der bevorstehenden Wahlen ein neuartiges Sicherungssystem geschaffen: Ein "finanzielles Korsett" wird die mexikanische Volkswirtschaft vor spekulativen Angriffen schützen und zwar ganz gleich, wer die Wahlen gewinnt.
Wenngleich sich Mexiko noch nicht zu einer perfekten Demokratie entwickelt hat, so sind die Demokratisierungsanstrengungen doch ganz unbestritten. Damit wächst das Vertrauen der maßgeblichen Wirtschaftskräfte innerhalb und außerhalb des Landes. Mexiko ist, so meine ich, auf dem richtigen Weg. Diese Feststellung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es immer noch große Hürden zu überwinden gilt. Zu viele Mexikaner sind nach wie vor von den Früchten des Fortschritts ausgeschlossen. Der Drogenhandel und die Korruption konnten bisher nicht beseitigt werden, auch wenn diesbezüglich in jüngerer Zeit wesentliche Erfolge erzielt wurden. Eine wesentliche Hürde ist zudem, dass es sehr schwer ist, ein Wirtschaftssystem zu schaffen und zu bewahren, das auf Disziplin und Verantwortung aufbaut. Leider ist es sehr viel leichter, in die Verantwortungslosigkeit zurückzufallen.
Zusammenfassend lassen sich also kurze Antworten auf die anfangs gestellten Fragen geben: Ja, Mexiko verfolgt tatsächlich einen Sonderweg, der selbstverständlich nicht vollkommen und daher verbesserungsfähig ist. Nein, die Errungenschaften des "neuen Mexiko" haben nicht alle Mexikaner erreicht. Dieses Anliegen wird die wichtigste Aufgabe auch der zukünftigen Regierungen sein. Ja, der neue Kurs der wirtschaftlichen Öffnung schafft Arbeitsplätze, die zudem überdurchschnittlich entlohnt werden. Wer an diesen Erfolgen zweifelt, muss sich die Frage stellen, welche andere Ausrichtung die mexikanische Wirtschaftspolitik in der heutigen, globalisierten Welt annehmen könnte. Ja, in Mexiko vollzieht sich ganz eindeutig eine historisch bedeutende Transformation hin zu einer sehr viel komplexeren, da zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Die kommenden Wahlen werden zeigen, welchen Reifegrad wir bereits erreicht haben.
Ich denke, dass ein Land, dessen Volkswirtschaft wächst und das eine klar umrissene und kohärente Politik verfolgt, den Aufgaben der Zukunft gewachsen ist. Auf jeden Fall aber müssen die kommenden Regierungen alles daran setzen, den Teufelskreis zu durchbrechen, der von Armut und Rückständigkeit, von mangelnder Bildung und fehlenden Berufschancen gespeist wird.
aus: der überblick 02/2000, Seite 34
AUTOR(EN):
Tamara Irene Kitain:
Tamara Irene Kitain ist Volkswirtin und seit 1995 Generalkonsulin Mexikos in Hamburg.