Zur Entstehung von Kinderhaushalten in Malawi
Viele AIDS-Waisen in Malawi landen bei Pflegefamilien oder in Waisenhäusern. Manche von ihnen halten es dort nicht aus. Sie wollen wieder mit ihren Geschwistern zusammen leben. Deshalb gründen sie Kinderhaushalte und nehmen ihr Geschick so weit wie möglich selbst in die Hand.
von Angelika Wolf
Als ich sie im Mai 2001 das erste Mal traf, war Irene gerade 14 Jahre alt und lebte wieder in dem Dorf, aus dem ihre Mutter stammte, wo sie einen Kinderhaushalt führte. Das Dorf liegt im Süden von Malawi. Ihre Eltern starben, als sie etwa neun Jahre alt war, so genau weiß sie das aber nicht mehr. Mit ihr wurden auch ihre beiden jüngeren Schwestern zu Waisen: Madalitso, jetzt zehn Jahre alt und Chikondi, mittlerweile sieben Jahre. Sie lebten zunächst bei ihrem Onkel mütterlicherseits. Im letzten Jahr kam aber eine Frau Namacha (dieser und die folgenden Namen geändert) und holte die Kinder in ein benachbartes Dorf, wo sie für vier Monate blieben. Dann wurden sie vor die Tür gesetzt warum, weiß Irene nicht so genau und ins Dorf zurückgebracht. Nach zwei Wochen erschien Frau Namacha wieder und brachte die Kinder zum Distriktskommissar der Behörde für soziale Angelegenheiten. Er entschied, Madalitso, die mittlere Schwester, in eine Kleinstadt im Süden des Landes und Chikondi, die jüngste, in die Hauptstadt Lilongwe zu geben. Seitdem hatte Irene ihre Schwestern nicht mehr gesehen, und auch keine Nachricht von ihnen erhalten.
Sie selbst blieb in der Nähe der Distriktshauptstadt und wurde in den Haushalt von Herrn Kausiwa, einem Angestellten der Behörde für Erziehungswesen, aufgenommen. Sie ging zur Schule und konnte auch die Kirche ihrer Konfession besuchen. Allerdings musste sie vor und nach dem Schulunterricht das Geschirr spülen und die Wäsche der sechsköpfigen Familie waschen. Sie litt oft an Hunger, und wenn sie mit Freunden spielen wollte, wurden die Pflegeeltern ärgerlich: »Warum gehst du weg. Wir wollen, dass du zu Hause bleibst!« Eines Tages traf Irene bei der Schule Leute aus ihrem Dorf und bat diese, Grüße an ihre Verwandten auszurichten. Das wurde von einem Sohn ihrer Pflegeeltern beobachtet und diesen mitgeteilt. Die reagierten verärgert auf die eigenständige Kontaktaufnahme von Irene, und Herr Kausiwa wandte sich daraufhin wieder an den Distriktskommissar. Dieser riet der Familie, sie gehen zu lassen, ohne ihr jedoch das Geld für die Reise zu geben. Die erforderlichen 55 Kwacha für die Busfahrt bekam Irene dann von Leuten aus dem Dorf, die in der Nähe arbeiteten. So fand sie mit 13 Jahren ihren Weg allein zurück an den Ort ihrer Herkunft. Keiner der Verwandten weder der verantwortliche Bruder ihrer Mutter noch dessen Frau kommentierten ihre Rückkehr. Jetzt, sagt Irene, wohne sie bei ihrem jüngeren Onkel und versorge den Haushalt. Der andere Onkel arbeite und gebe seinem jüngeren Bruder Geld zum Einkaufen. Sie selbst koche dann.
In dem Haushalt, den Irene versorgt, leben Chimwemwe einer ihrer Onkel, der 16 Jahre alt ist sowie zwei weitere Jungen: Justin (acht Jahre) und Henry (vier Jahre alt). Die beiden sind die Kinder ihrer Tante mütterlicherseits, die längere Zeit allein erziehend war. Diese hatte nach einer erneuten Heirat das Dorf verlassen und die Verantwortung für die beiden Halbwaisen aus erster Ehe an Irene übertragen. Es ist in Malawi nicht üblich, Kinder in eine neue Ehe mitzunehmen, sie werden der Obhut von Verwandten überlassen. Gang und gäbe dagegen ist es, dass ältere Mädchen für die Belange von Geschwistern, Cousins oder Cousinen als zuständig gelten. Allerdings bewegen sie sich dabei üblicherweise in einem Kreis von geteilter Verantwortung unter der Aufsicht von Eltern, Großeltern, Tanten und Onkels einem Kreis, der nun durch die Auswirkungen der Epidemie immer kleiner wird.
Der achtjährige Justin unterstützt Irene nun beim Waschen der Kleidung, und wenn die Nahrungsmittel allzu knapp werden, besucht er seine Mutter und bekommt dann Maismehl. Damit wird der polentaartige Brei zubereitet, das Grundnahrungsmittel in Malawi. Keines der Kinder geht mehr zur Schule. Im letzten Jahr schaffte es Chimwemwe noch, mit Gelegenheitsarbeit das Schulgeld für den Besuch der kostenpflichtigen ersten Stufe der Sekundarausbildung zu verdienen, aber die Schulgebühren steigen, seine Kleidung ist verschlissen, und er versucht, sich um den kleinen Garten zu kümmern und etwas Mais und Kasawa anzubauen. Wenn am Haus etwas kaputtgeht, kümmert sich sein großer Bruder um die Reparatur.
Für Irene ist das Vorgehen der Erwachsenenwelt nicht nachvollziehbar. Sie fühlte sich herumgestoßen, weil ihr kaum etwas erklärt wurde und Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen wurden auch die der Behörden, die sie als Waisenkind erfasst hatten und in eine Pflegefamilie vermitteln wollten. Die Arbeiten, welche die Pflegefamilie von ihr verlangte, der mangelnde Kontakt zur Außenwelt und die unzureichende Ernährung hinterließen bei ihr das Gefühl ausgebeutet zu werden. Zudem war mit der Einstufung als Pflegekind die Trennung von den Schwestern verbunden. Dem Tod der Eltern folgte so ein weiterer Verlust: die geschwisterlichen Bande gingen verloren. Der Situation eines Pflegekinds zieht Irene nun ein relativ selbständiges Leben unter der begrenzten Autorität der mütterlichen Verwandten vor, auch wenn dies wirtschaftliche Unsicherheit und Verpflichtung für andere, jüngere Kinder bedeutet. Da ihre Gemeinschaft aus Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren besteht, wird sie in ihrem Dorf als Kinderhaushalt bezeichnet.
Von den derzeit 34 Millionen Waisenkindern unter 14 Jahren in Afrika sind circa elf Millionen fast ein Drittel auf den Tod der Eltern durch AIDS zurückzuführen. Laut des gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen zu HIV/AIDS (UNAIDS) haben neun Prozent der Kinder in Malawi beide Eltern durch AIDS verloren. Es wird erwartet, dass sich ihre Zahl bis zum Jahr 2010 auf zwölf Prozent erhöht. Die gesundheitliche, materielle und emotionale Betreuung dieser Kinder ist nicht mehr gewährleistet, denn die verbliebenen Verwandten können einfach nicht mehr übernehmen. Vor allem durch den Tod vieler Erwachsener aus ein und derselben Elterngeneration sind die familiären Netzwerke an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangt. In den eher matrilinearen Gesellschaften des zentralen und südlichen Malawi obliegt es der Verantwortung des der Abstammungslinie vorstehenden Onkels mütterlicherseits, sich im Fall des Todes einer Schwester um die hinterbliebenen Kinder zu kümmern. Diese Erwartungen und Verpflichtungen können oft nicht mehr erfüllt werden. Kommt es zu einer Übernahme von Verantwortung durch die Verwandtschaft, tragen Frauen in der Regel die größere Last. Meist sind es Großmütter oder Tanten, die sich um die »verlassenen Kinder« kümmern und deren eigene wirtschaftliche Lage sich dann verschlechtert.
Die verschiedenen Kirchen des Landes bemühen sich um die Verbesserung der Situation, indem sie vor allem Waisenhäuser einrichten. Staatlicherseits wird allerdings der Betreuung innerhalb der erweiterten Familie der Vorzug gegenüber einer Unterbringung im Waisenhaus eingeräumt. Adoption war bislang in Malawi kaum üblich. Mittlerweile wurde ein Programm zur Heranbildung und Betreuung von Pflegefamilien aufgebaut, welches durch einen nationalen Arbeitsstab, der National Orphan Care Task Force, und durch örtliche Sozialarbeiter koordiniert wird. In vielen Gemeinden und Stadtteilen bilden sich Nachbarschaftsinitiativen, die in Zusammenarbeit mit externen Gebern Haushalte mit Waisen unterstützen. Sie bieten diesen Kindern beispielsweise eine warme Mahlzeit am Tag an, organisieren Kleidung oder Seife und unterstützen sie dabei, Schulunterricht und eine Ausbildung zu bekommen.
Viele Verwandte, welche Waisen in ein neues Zuhause aufnehmen, versuchen durchaus, gerecht zu sein und das Wenige, was zur Verfügung steht, fair aufzuteilen. Auch einige Kinder bewerten ihre Unterbringung in einer Pflegefamilie positiv. Aber die Umstrukturierung von Haushalten durch die Aufnahme weiterer Kinder kann schnell zu Zwietracht innerhalb der Familien führen. Viele Waisen beklagen eine ungerechte Behandlung, sie würden geschlagen, litten Hunger, bekämen keine medizinische Versorgung, es mangle an Kleidung und Decken und fast immer müssen sie mehr arbeiten als die anderen Kindern im Pflegehaushalt. Sehr häufig geben Waisen den Schulbesuch auf, zum einen, weil sie sich für ihre schlechte Kleidung schämen, zum anderen, weil ihre Arbeitskraft zu Hause benötigt wird. Deshalb entstehen von Waisen geführte Kinderhaushalte als Lebensalternative und Strategie zur Bewältigung der Krise infolge von HIV/AIDS.
Diese neueren Entwicklungen werden staatlicherseits und auch in vielen Schriften zu dem Thema mit Sorge betrachtet. Das Wohlergehen der Kinder scheint in Frage gestellt, die gesellschaftlichen Folgen sind nicht absehbar. Wenn die Waisen nicht gesundheitlich wie emotional betreut und materiell versorgt werden, könnten die Länder Afrikas ihre Straßen bald voll von »angry, intoxicated adolescents« (zornigen, unter Drogen stehenden Halbwüchsigen) finden, wie Emma Guest 2001 in einem der ersten Bücher zur Situation von AIDS-Waisen schreibt. Andere befürchten, dass viele der ins Abseits gedrängten Kinder und Jugendlichen durch frühen Geschlechtsverkehr, sexuelle Ausbeutung oder Prostitution selbst stark infektionsgefährdet sind. Durch ihre schwierige soziale Situation drohe außerdem die Gefahr eines Abgleitens in die Kriminalität.
Obwohl diese Befürchtungen und die Situation von Waisen in Afrika ernst genommen werden müssen, sind die meisten dieser Annahmen eher spekulativer Natur und beruhen auf westlichen Vorstellungen von einer angemessenen Kindheit und der generellen Schutzbedürftigkeit von Kindern. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Kinder sind jedoch abhängig vom jeweiligen Milieu oder der historischen Situation, wie Philippe Ariès in seinem Buch »Geschichte der Kindheit« anschaulich zeigt. Innerhalb der Gesellschaften Afrikas gibt es eine große Bandbreite an unterschiedlichen Formen des Aufwachsens und der Pflichten von Kindern. In den Sozialwissenschaften und auch in unserer Alltagswahrnehmung galt Kindheit lange als Zeit der Entwicklung und Sozialisation, als eine Vorstufe zum Erwachsensein. Demgegenüber fordern die Vertreter einer neuen Anthropology of Childhood Kinder als eigenständige soziale Akteure zu betrachten, die ihr Dasein aktiv gestalten und auf ihre Umwelt einwirken. Deshalb ist es wichtig, die Meinung und Sichtweise von Kindern selbst darzustellen.
Als ich ein Jahr später in das Dorf von Irene zurückkehrte, hatte sich einiges in ihrem Haushalt verändert. Ihre Schwester Madalitso war aus ihrem Waisenhaus in der nächsten Kleinstadt entflohen. Ihre Anwesenheit überraschte mich: Da sie teilweise gelähmt ist, kann sie nicht aufrecht gehen und muss, um sich fortzubewegen, den Boden mit den Händen berühren. Sie klagte über Misshandlungen im Waisenhaus und dass sie unbesehen ihrer Behinderung sämtliche Pflichten auch das Einsammeln von Feuerholz mit erledigen musste. Der entscheidende Anlass zur Rückkehr in das mütterliche Dorf war allerdings die Sehnsucht nach der Schwester. Im Waisenhaus fühlte sie sich verlassen und selbst auf die Gefahr, nicht genügend zu essen zu haben, riskierte sie die Rückkehr. Irene war glücklich, wieder mit Madalitso vereint zu sein. Beide vermissten Chikondo, die jüngste Schwester, von der sie seit ihrer Unterbringung in der Hauptstadt nichts mehr gehört hatten.
Daraus ergibt sich die Frage, welche Kinder in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen und ihr Zusammenbleiben durchzusetzen. Was führt dazu, dass einige Waisen besser auf schwierige Situationen vorbereitet zu sein scheinen als andere und mit diesen besser umgehen können als Altergenossen in derselben Situation?
Es sind besonders starke und widerstandsfähige Kinder, die in der Lage sind, einen eigenen Haushalt zu gründen, Kinder, die schon vor dem Tod der Eltern Verantwortung in der Familie übernehmen mussten. Da HIV auf sexuellem Wege übertragen wird, folgt dem Tod des einen Elternteils oft der Verlust des anderen. Manchen Kindern obliegt selbst die Pflege ihrer schwerkranken und sterbenden Eltern. In dieser Situation müssen sie nicht nur den Anforderungen des täglichen Lebens begegnen, sondern sich als verantwortliche Person beweisen. Andererseits müssen sie weiterhin Erwachsenen gehorchen, zum Beispiel beim Schulbesuch. Sie sind also einem beständigen Rollenwechsel zwischen »Erwachsenenpflichten« und erwartetem »Kinderverhalten« ausgesetzt, sie pendeln zwischen den Polen, insbesondere, wenn sie zu Hauptverdienern oder Pflegepersonen werden. Eine solche Lage zu meistern, verlangt die Herausbildung von Entscheidungskompetenz und Verantwortlichkeit, welche wiederum die Widerstandskräfte fördert.
Forschungen zur Trauerverarbeitung zeigen nicht nur die schützende Funktion von Widerstandskräften, sondern auch, dass das Erleben und Erfahren des Verlustes eines geliebten Menschen zwar schmerzlich, zumeist aber nicht allumfassend ist: Weinen und Lachen können sich vor allem bei Kindern abwechseln. Kinder, die Verantwortung in der Pflege ihrer erkrankten Eltern übernehmen, lernen in dieser Phase schrittweise mit den zunehmenden Belastungen des Alltags umzugehen, sie pendeln zwischen der 'Erwachsenen'- und der 'Kinderwelt'. Daher ist es ein Prozess, Waise zu werden. Dieser Prozess beginnt lange vor dem Tod der Eltern. Indem die älteren oder mental stärkeren Kinder sowohl die größer werdenden Verpflichtungen von Haushalt und Pflege übernehmen und sie sich dabei auch um die jüngeren Geschwister kümmern müssen, spielen sich bereits Konstellationen ein, die einen gewissen Zusammenhalt unter den Geschwistern fördern und welche nach dem Tod der Eltern eine Ausgangsbasis für das weitere gemeinsame Überleben schaffen. Bei den Waisenhaushalten sowohl im städtischen als auch ländlichen Umfeld von Malawi fällt eine fast allen Kindern und Jugendlichen gemeinsame Strategie auf: Sie bleiben über Jahre zusammen und sie unterstützen einander. Diese Waisen haben der Mischung aus Hilflosigkeit, Entsetzen und Ausbeutung durch die Erwachsenenwelt durchaus etwas entgegenzusetzen.
aus: der überblick 02/2005, Seite 16
AUTOR(EN):
Angelika Wolf
Angelika Wolf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth und freie Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin.