Das zweigeteilte Wissen
In den islamischen Ländern entstanden neben den traditionellen religiösen Lehrstätten auch Hochschulen nach modernem westlichen Vorbild. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die beiden Hochschultypen immer weiter auseinander, so dass es heute eine regelrechte Zweiteilung des Wissens gibt. So unterschiedlich, wie die Profile der beiden Zweige sind, sind auch die Probleme, mit denen sie heute zu kämpfen haben.
von Arnold Hottinger
Die Universitäten der islamischen Welt teilen sich heute in zwei Zweige: Es gibt solche traditioneller Art, die auf die mittelalterlichen Hochschulen des Islams zurückgehen, wenn sie sich auch seither reformiert und verändert haben. Und es gibt "moderne" Hochschulen, die stets auf ein europäisches oder amerikanisches Modell zurückgreifen, obwohl sie in manchen Fällen schon seit einem Jahrhundert in Ländern muslimischer Kultur arbeiten. Der Unterschied ist immer noch evident, vergleichbar den Menschen, die in europäischer Kleidung herumlaufen und solchen, welche die traditionelle muslimische Kleidung bevorzugen.
Die Hochschulen des Islams im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert hinein waren, wie unsere mittelalterlichen Hohen Schulen, theozentrische Institutionen. Sie lehrten in erster Linie die theologischen Wissenschaften, die mit der Ausübung der Religion zusammenhingen und für sie wesentlich waren. Im Islam umfasst dies alles Wissen, das mit dem Koran zusammenhängt, dem Gottesrecht der Scharia, der Überlieferung vom Propheten und seinen Gefährten.
Was heute weltliche Wissenschaften sind, wie die Naturwissenschaften, die Mathematik, Astronomie, Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft, Philologie und Logik, wurde auch geübt, galt aber zunächst als Hilfswissenschaft für die Theologie. Astronomie konnte dazu dienen, die Gebetszeiten und die Festtage des religiösen Kalenders genau zu bestimmen. Die Grammatik und Philologie wurde entwickelt, um ein genaueres Verständnis des Korans zu ermöglichen. Algebra wurde damals erfunden, um die komplexen Erbteilungen durchführen zu können, die der Islam vorschreibt, und die Philosophie wurde zunächst, wie im Europa der gleichen Zeit, als "Magd der Theologie", ancilla theologiae, aufgefasst.
Für die europäische Wissenschaftsentwicklung war wichtig, dass das Recht, zum Beispiel als Römisches Recht, sich schon früh von der Theologie trennte und zu einer eigenen Wissenschaft wurde. Dies fand im Islam nicht statt: Weil das Gottesgesetz so sehr im Zentrum des religiösen und weltlichen Lebens stand, blieb es als Fiqh ein Bestandteil des theologischen Bildungsganges, und wurde sogar der wichtigste Teil der Schulung mit den meisten Studenten in den theozentrischen islamischen Lehranstalten.
Die Medizin freilich stand immer etwas am Rande der theozentrischen Hochschulen. Sie wurde empirisch in Hospitälern gelehrt und entwickelte sich zu einem weltlichen Wissenszweig, wenngleich immer Brücken zur Religion fortbestanden. Es ist bezeichnend, dass die Philosophie und die Medizin, oft auch zusammen mit der Mathematik, Musik und Astronomie, häufig von den gleichen Gelehrten betrieben wurde. Illustre Beispiele sind ar-Razi, der von 850 bis 925 oder 935 lebte, Ibn Sina (980 bis 1037) und Ibn Rushd (1126 bis 1198), in Europa bekannt als Rhazes, Avicenna und Averroes. Sie alle wirkten am Rande der orthodoxen Lehranstalten und fanden oft an den Höfen der Herrscher, nicht bei den Theologen der Hochschulen, Schutz und Ermunterung.
Das Wesen der theozentrischen Hochschulen spiegelt sich bis heute in der Sprache.́Ilm bedeutet im arabischen "Wissen", besonders theologischer Art. ́Alem , wörtlich "der Wissende", bezeichnet normalerweise den "Gottesgelehrten". Es bezieht sich so sehr auf theologische Inhalte, dass man die Professoren einer modernen Hochschule nicht Ulema (Plural von ́Alem) nennen kann. Für sie gebraucht man andere Bezeichnungen wie Ustadh, eigentlich "Meister", oder bi-l-Jamia, was so viel wie "an der Universität" bedeutet.
Die Kleidung der beiden Berufsstände ist unterschiedlich, jene der Theologen traditionell "orientalisch", die der Professoren dagegen modern "westlich". Die Umgangsformen, physischer und geistiger Habitus, unterscheiden sich dementsprechend.
Auch die ursprünglich aus dem Westen importierten Lehranstalten haben bereits ihre Geschichte innerhalb der islamischen Welt. Sie begannen fremdsprachig, und sind es manchmal noch immer, besonders die Eliteuniversitäten für reiche Oberschichten wie etwa die American University of Beirut und St. Joseph University in Beirut, das MIT in Istanbul oder Aligarh in Indien. Alle Universitäten wurden ursprünglich mit Hörsälen, Programmen und Professoren direkt aus Europa oder Amerika in die Hauptstädte der Islamischen Länder "verpflanzt". Inzwischen sind die meisten von ihnen staatliche Universitäten geworden und gehören gleichzeitig der "modernen" Wissenschaftswelt an. Die Verbindung mit den Zentren heutiger Wissenschaft in Europa und Amerika wird vor allem durch Auslandsstudien von Stipendiaten, angehenden Dozenten und jungen Forschern aufrecht erhalten.
Die Hauptschwierigkeiten dieser Universitäten sind heute die typischen Probleme der Dritten Welt: Überfüllung, administrative Schwerfälligkeit und Verantwortungsscheu neben den überall üblichen Intrigen um Pfründe und Rivalitätsringen. Der Devisenmangel geht oft soweit, dass die Beschaffung der wissenschaflichen Literatur aus dem Ausland und ihre Weiterleitung an die Studierenden schwierig wird, von Laborausrüstungen und Forschungsgeräten gar nicht zu reden. Eine Verbindung zu den Lehrtraditionen der Vergangenheit besteht in der Tendenz des Auswendiglernens von Texten und Formeln für die Examina, die auf Kosten des selbstständigen Denkens, Verstehens und kreativen Anwendens gehen kann. Das wird bestärkt durch die völlige Überfüllung der Lehrstätten, die kaum mehr erlaubt als ein Lernen auf Grund von kopierten Vorlesungstexten sowie Examina, die diese abfragen.
Die Problematik der theozentrischen Schulen und Hochschulen, der als Madares bezeichneten Lehrstätten, ist schon viel älter. Bereits der große Theologe al-Ghazali war Professor an der berühmten Hochschule von Bagdad, der Nizamiya. Eines Tages im Dezember des Jahres 1095 konnte er nicht mehr fortlehren, weil ihm die Gegenstände seines Unterrichts steril vorkamen. Plötzlich konnte er nicht mehr sprechen. Er suchte dann Wege zu Gott, die näher zum Ziele führten als das "Wissen" der Gottesgelehrten. Er wurde Mystiker (Sufi).
Die Hauptrichtung der theologischen Hochschulen, von einigen Ausnahmen abgesehen, lief seit ihrer Gründung im 11. Jahrhundert zunehmend auf einen gewissen Fundamentalismus hinaus, um den modernen Begriff zu gebrauchen. Die Gelehrten suchten die Fundamente des Islams möglichst genau zu identifizieren. Sie wurden auf den vermeintlichen Ur-Islam des Propheten zurückgeführt. Zu ihm galt es zurückzukehren, zu diesem Zweck die Praxis des Propheten möglichst detailliert zu identifizieren und auf ihrer Grundlage das Gottesrecht immer feiner auszuarbeiten. Die Hilfswissenschaften, in denen die Ursprünge unserer heutigen Natur- und Geisteswissenschaften liegen, wurden zunehmend an den Rand gedrängt und sogar als religionsgefährdend abgelehnt. Dasselbe geschah zum Teil auch in Europa in der Zeit vor der Aufklärung. Galilei ist ein berühmtes Beispiel dafür.
Die Madares standen unter staatlichem Einfluss und staatlicher Kontrolle. Den Machthabern lag wenig an innovativer Wissenschaft, sie bevorzugten das reproduzierte Wissen, das voraussehbar und kontrollierbar war. Damit einher ging die Methode des Auswendiglernens. Die islamischen, theozentrischen Hochschulen gerieten auf diesem Weg langsam in einen Zustand der inneren Lähmung. Was früher an Hilfswissenschaften betrieben worden war, und was als Einfluss für die Entwicklung der europäischen Wissenschaften im Hochmittealter grundlegend wurde, fiel schrittweise weg. Es galt zunehmend als unorthodox und unnötig.
Dieser Prozess war gegen Mitte des 19. Jahrhunderts soweit gediehen, dass das Bedürfnis entstand, neben den traditionellen theozentrischen Hochschulen "moderne" Hochschulen nach europäischem Vorbild einzuführen. Doch das Prestige der theozentrischen Lehrstätten war immer noch so bedeutend, dass Anstalten wie die große al-Azhar-Hochschule von Kairo, die Zeituna in Tunis oder die Qarawiyin in Fes fortgeführt wurden. Sie wurden dann jedoch mehr als zuvor Zentren der rein theologischen Ausbildung, besonders für die Scharia, das traditionelle Gottesrecht. Eine gewisse Modernisierung haben auch sie durchgemacht. So gibt es heute Hörsäle und Klassenzimmer, nicht mehr Zuhörerkreise an einer Säule rund um den vortragenden Gelehrten auf dem Boden einer Moschee. Sie sind zu den führenden Zentren der theologischen Ausbildung geworden. Da der Islam keine Religionshierarchie kennt, stellen ihre Gelehrten auch meist die normativen Kräfte, die darüber befinden, was "islamisch" und "unislamisch" ist.
Die heute vorherrschende Richtung des Islamverständnisses wird als Reformislam bezeichnet (Islah bedeutet Reform). Dies meint einen Islam, der auf "abergläubische" Zusätze und Abweichungen verzichten will, wie sie sich im Lauf der späteren Jahrhunderte abgelagert haben. Heiligen- und Gräberkult sowie Wundertaten lehnt er ab. Er sucht auf den reinen, ursprünglichen Islam zurückzugehen, so wie er nach der Sicht seiner Ausleger unter Muhammed bestand und ihm offenbart wurde. Wobei allerdings die Auslegung der religiösen Texte aus dem 9. und 10. Jahrhundert als die einzig Gültige angesehen wird, von welcher die Orthodoxie nicht abweichen soll. Darin liegt ein gewisser Fundamentalismus, der in der jüngsten Zeit von den radikalen Fundamentalisten simplifiziert, politisiert und brutalisiert worden ist, sich aber im vorherrschenden Islamverständnis der heutigen Hohen Schulen durchaus nachweisen lässt.
Dies ist ein anderer Geist als jener der wissenschaftlichen Forschung, welcher im Idealfall einer heutigen weltlichen Universität, auch im islamischen Raum, zugrunde liegen sollte. Das Spannungsfeld zwischen den islamischen und den modernen Universitäten ist bezeichnend für das gesamte Leben in der islamischen Gegenwart. Immer bestehen zwei Welten nebeneinander und gegeneinander. Die eine ist umschrieben durch die immer mehr an Boden verlierende eigene Tradition und Kultur. Die andere ist bestimmt durch die immer stärker werdenden kulturellen und finanziellen Fremdeinflüsse und Einwirkungen aus Europa und aus Amerika, die man heute oft als "Globalisierung" bezeichnet.
aus: der überblick 01/2003, Seite 6
AUTOR(EN):
Arnold Hottinger:
Arnold Hottinger war langjähriger Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" für die arabische Welt. Er ist Autor mehrerer Bücher und Reisebegleiter für den Orient. Heute lebt er in Madrid.