Menschen mit Mission
Im Jahr 1991 startete TV-2 seine Programme in Tomsk in Ostsibirien. Nur einer der Gründungsteilnehmer unter ihnen die Autoren hatte Erfahrung im Fernsehbereich, aber alle glaubten fest daran, einen freien Fernsehsender ins Leben rufen zu können. Das war typisch für die Aufbruchstimmung, die Anfang der neunziger Jahre in Russland herrschte. Nach und nach hat sich TV-2 professionalisiert und im Jahr 2001 seine Besitzverhältnisse geändert. Wird es ein kommerzieller Sender wie jeder andere werden?
von Viktor und Yulia Muchnik
Während der Demokratisierungswelle in Russland, brach 1990 ein neues Gesetz das staatliche Rundfunkmonopol und legalisierte Privateigentum an den Medien. Und vielerorts in den Weiten des Landes fanden Journalistinnen und Journalisten, Unternehmerinnen und Unternehmer, Technikerinnen und Techniker, die in völliger Unkenntnis voneinander arbeiteten, Mittel und Wege, um winzige private Fernsehsender für ihre Ortsgemeinden zu gründen. Einer dieser frühen Pioniere war der unabhängige Sender TV-2 in Tomsk, einer Universitätsstadt in Ostsibirien mit 700.000 Einwohnern.
Wie die meisten Fernsehsender der frühen Jahre wurde TV-2 praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Er überlebte, weil die Nachfrage nach dem neuen Angebot groß war und TV-2 diese Nachfrage als erster bedient hatte. Allerdings unterschied sich TV-2 von manch anderer Fernsehanstalt jener Zeit durch seine Leidenschaft für journalistische Qualität, was erst sehr viel später deutlich wurde, als bei ersten Treffen von Vertretern lokaler Medien aus verschiedenen Landesteilen Erfahrungen ausgetauscht wurden. Diese Leidenschaft wurde schließlich anerkannt und mit nationalen Preisen ausgezeichnet. Heute gibt es in Russland gut 600 lokale private Fernsehsender, und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich drastisch verändert. Aber TV-2 ist trotz neuer Herausforderungen weiterhin auf Erfolgskurs.
Die Geschichte beginnt 1990. Damals kündigte Arkadii Maiofis, ein erfolgreicher junger Journalist des lokalen Staatsfernsehens in Tomsk, plötzlich seine Stelle und teilte Freunden mit, er werde eine neue Form von Fernsehen aufbauen, einen nichtstaatlichen, unabhängigen Sender. Um die Unerhörtheit dieses Anspruchs verstehen zu können, müssen wir uns die damaligen Zeiten ins Gedächtnis rufen. Perestroika und Glasnost gingen bereits ihrem Ende entgegen, die Behörden sprachen laut und immer lauter von der Notwendigkeit, Ordnung zu schaffen, die Menschen handelten übellaunig mit Lebensmittelmarken, und niemand erwartete von alledem viel Gutes. Maiofis Projekt schien wie ein utopischer Traum, umso mehr als außer Maiofis eigentlich keiner der an diesem Abenteuer Beteiligten praktische Fernseherfahrung hatte. Trotzdem war die Idee attraktiv. Wir konnten nicht umhin zu denken: "Ja natürlich, dieses Regime wird früher oder später stürzen. Am Ende können wir vielleicht unsere Meinung frei äußern."
Als wir mit unserem Unternehmen begannen, gab es praktisch keine Diskussionen um Geld oder Eigentum. Natürlich wussten wir, dass wir irgendeine Art von Ausrüstung kaufen mussten, und das taten wir auch auf Kredit. Der Bürge für unser Darlehen war damals der Vorsitzende des Stadtrats von Tomsk (Bürgermeister hatten wir zu der Zeit nicht), der Maiofis als Journalisten kannte. Beziehungen halfen uns zweifellos weiter. Das Darlehen selbst kam von einer Geschäftsbank (diese Banken waren in Tomsk gerade gegründet worden) mit dem Namen Finist (Phönix). Der Name sollte wohl auf die Fähigkeit der Bank hinweisen, ungeachtet aller Schwierigkeiten zu überleben, wie Phönix, der im Feuer verglüht und immer wieder aus der Asche aufsteigt. Die Bank ist heute nicht mehr im Geschäft. Sie ging in Flammen auf, aber im Gegensatz zu Phönix auf Dauer. Mit diesem ersten Darlehen von rund 15.000 US-Dollar kauften wir die erste Ausrüstung für unseren Fernsehsender: einen Videorecorder, einige Fernsehgeräte und eine Videokamera (natürlich keine Profigeräte, sondern nur für den Privatgebrauch bestimmte).
Maiofis hatte vor, das Darlehen über den Verkauf von Decodern zurückzuzahlen. Ein Decoder ist ein Gerät, mit dem man das von der neuen unabhängigen Fernsehanstalt gesendete Signal entschlüsseln können sollte. Er ging davon aus, dass Menschen, die die neuen Programme sehen wollten, Decoder von TV-2 kaufen würden. Maiofis, der technisch nicht allzu versiert war, glaubte offenbar allen Ernstes, das Signal mit Hilfe einer kleinen Black Box mit zwei Kabeln kodieren zu können, und die Stadt glaubte das auch. Menschen standen nach den Decodern Schlange, die im Nu ausverkauft waren. Um das zu verstehen, muss man die Kaufgewohnheiten jener Jahre kennen. In der sowjetischen Wirtschaft, in der Mangel die Norm war, hieß ein Schlüsselwort "es ist aufgetaucht". Alle gingen davon aus, der fragliche Artikel Speiseöl, Strumpfhosen, Wasserhähne oder was auch immer sei in begrenzten Mengen aufgetaucht und werde am nächsten Tag, in zwei Stunden oder in 15 Minuten bereits wieder vergriffen sein. 1991 waren sich alle sicher, dass kleine Warenmengen nun letztmalig in Geschäften verkauft würden und dass es bald überhaupt nichts mehr zu kaufen geben werde. Die Decoder wurden als solche Güter wahrgenommen. Die Menschen waren überzeugt, in ein oder zwei Tagen würden sie wie alles andere auch ausverkauft sein.
Vielleicht war nicht die gesamte Bevölkerung von Tomsk von der Idee der Unabhängigkeit so begeistert wie die Gründer der Fernsehanstalt, aber ab dem 15. Mai 1991, als TV-2 seine erste Sendung ausstrahlte, zeigte der Sender täglich neue amerikanische Filme, manchmal schon zwei Wochen nach ihrer Premiere in Hollywood. Es versteht sich von selbst, dass es sich um Raubkopien handelte. Zu jener Zeit machte sich niemand in Russland viele Gedanken um geistige Eigentumsrechte. So kaufte die Stadtbevölkerung Decoder, um im neuen Fernsehprogramm Raubkopien von Filmen zu sehen, und die Fernsehanstalt zahlte ihr Darlehen nach und nach zurück. Während dieser Zeit wurde allen versichert, die abschließenden Tests für die Signalkodierung seien im Gang, und sie bräuchten bald einen Decoder, um die Programme auch weiterhin sehen zu können. Das kurbelte die Nachfrage nach den Decodern an. Erst später zeigte sich, dass die Decoder, wie auch immer man sie an ein Fernsehgerät anschloss, nichts dekodieren konnten. Und TV-2 mit seinem begrenzten technischen Fachwissen war absolut nicht in der Lage, sein Signal zu verschlüsseln. Man hätte erwarten können, dass die Bevölkerung daraufhin etwas von ihrem Enthusiasmus für die Idee eines unabhängigen Fernsehens verliert. Aber dann kam der August 1991.
In Moskau fand ein Putsch statt, Panzer waren auf den Straßen, das staatliche Fernsehen zeigte nur "Schwanensee", und die Provinzen hatten keine Information, was passierte. In Tomsk bot vom ersten Tag des Putsches an nur TV-2 den Menschen eine Möglichkeit, sich über die Geschehnisse in Moskau zu informieren. Seit seiner ersten Sendung und noch vor dem Putsch war der Sender Hort eines leidenschaftlichen Antikommunismus. Die erste eigene Sendung auf TV-2, die am 15. Mai 1991 ausgestrahlt wurde, war der Auftakt einer Reihe mit dem Titel "Große Schurken der Geschichte". Die Sendung drehte sich um den ersten chinesischen Kaiser Tsin Shi Huandi und hob hervor, dass letztlich alle Imperien unter dem eigenen Gewicht zusammenbrächen und dass ihre Zerstörung eine gute Sache sei. Kurz gesagt: TV-2 "positionierte" sich (auch wenn keiner von uns diesen pseudowissenschaftlichen Ausdruck damals kannte) als oppositioneller Fernsehsender. Als Maskottchen für TV-2 wählten wir Rudyard Kiplings schwarze Katze aus den "Genau-so-Geschichten", das wildeste und unabhängigste Tier, das seinen Weg allein geht. Im August 1991 kletterte die Katze natürlich mit den Demokraten auf die Barrikaden und paradierte stolz unter der neuen russischen Flagge.
Während des Putsches im August drehte ein Team von TV-2 in Moskau und schickte die Bänder mit den täglichen Flügen der Aeroflot nach Tomsk. Es war eine aufregende Zeit, fast unwirklich, wenn wir heute zurückblicken. Aber wir meinten es ehrlich, wenn wir so etwas sagten wie: "Sie werden sich nicht durchsetzen, der Sieg wird unser sein." In Tomsk schien in jenen drei Tagen jeder TV-2 zu sehen. Afghanische Kriegsveteranen kamen zum Sender und boten an, die Räumlichkeiten gegen etwaige Einmischungsversuche in unser Programm zu schützen. Damals war der Sender in einigen wenigen angemieteten Räumen notdürftig untergebracht. Menschen, die ausländische Radioprogramme hörten, teilten TV-2 telefonisch Informationen mit, die dann sofort live gesendet wurden. Und am rührendsten war, dass Menschen uns Essen und, wenn wir uns recht erinnern, Bier brachten, als Zeichen der Solidarität. Es gab eine bewegende Verbundenheit zwischen Journalisten und Bürgern. Der Putsch scheiterte, wie wir alle wissen, die Stadt indes gewann Vertrauen zu den Journalisten von TV-2.
In all dieser Zeit blieben die Vorstellungen, wie man richtiges Fernsehen macht und wie man damit Geld verdient, recht vage. Es gab einfach niemanden, der uns das hätte beibringen können. In jenen Jahren waren sowohl die Journalismusfakultät der Universität Tomsk als auch das Staatsfernsehen von Tomsk rein sowjetische Unternehmen und für uns negative Beispiele. "Wir wollen anderes Fernsehen machen", sagten alle bei TV-2, aber was bedeutete anders? In den ersten Jahren produzierte TV-2 Dutzende von Programmen. Es gab Programme für Kinder und für Gartenfreunde, für Autoliebhaber und für Hundezüchter, für Anhänger des alternativen Kinos und für Heavy-Metal-Fans. Mit einem Wort: der Inhalt war vielfältig und teilweise kurios. Unser erstes Filmschnittstudio war ein Raum für furchtloses Experimentieren, in dem wir die Regeln des Filmschnitts intuitiv erlernten.
Wir hatten kein Geld, weder für technische Entwicklung noch für Gehälter. Und dabei schmiedeten wir einen Plan nach dem anderen, und einer war grandioser als der andere. In einem Zeitungsinterview verkündete Maiofis, TV-2 habe bereits ein Büro in Deutschland eröffnet und werde bald Büros in Moskau, in den USA und auch in anderen sibirischen Städten unterhalten. Mit diesen hochfliegenden Plänen und dem fehlenden Finanzmanagement war eine Finanzkrise eigentlich unausweichlich. Erst zwei oder drei Jahre später tauchte der erste Finanzmanager bei TV-2 auf. Selbst dann noch ergab ein Vergleich zwischen den Einnahmen, die wir mittlerweile hatten, und den Ausgaben wie er nicht müde wurde, dem Management mitzuteilen , dass das Unternehmen nach allen Gesetzen der Ökonomie nicht existenzfähig und sein wirtschaftlicher Zusammenbruch innerhalb weniger Monate unausweichlich sei. Weil er diese ökonomische Absurdität nicht ertragen konnte, kündigte er und verpasste so die Chance, bessere Zahlen zu sehen.
Hätten die Menschen, die TV-2 auf den Weg brachten, mehr Ahnung davon gehabt, was Fernsehen wirklich bedeutet, dann hätte die Geschichte von TV-2 wohl nie begonnen. Die völlige Unkenntnis der Regeln, nach denen professionelles kommerzielles Fernsehen funktionieren sollte, oder auch der marktwirtschaftlichen Grundregeln bei Mitarbeitenden, Werbenden und Publikum befreite den Sender von der Notwendigkeit, sie zu befolgen. Der Sender baute sich couragiert sein eigenes Know-how auf, verschuldete sich wiederholt, zahlte die Darlehen nach und nach zurück, konnte eines nicht zurückzahlen, bevor der Darlehensgeber selbst bankrott ging und uns vergaß. Damals wussten wir nicht, dass ein Unternehmen eine "Mission" braucht. Wir hatten das Wort noch nie gehört, aber die Wahrheit ist: Wenn es eines gab, was TV-2 in jenen Jahren hatte, dann war das eine Mission; die Menschen verband eine Idee. Da wir kaum einschränkende Regeln kannten, schienen uns die Möglichkeiten enorm.
Im Lauf der Zeit lernten wir dann doch nach und nach einige Regeln des Fernsehgeschäfts. TV-2 hatte Werbekunden. Anfänglich waren das winzige Geschäfte, kleine Kioske, die damals wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden sprossen. Zeitweise zählten wir sogar eine Begleitservice-Agentur zu unseren Werbekunden (diese Branche verzeichnete in jener Zeit ein explosives Wachstum). Wir hatten auch viele Privatkunden, die ihre Angebote und Gesuche im Fernsehen veröffentlichten. Die Menschen verkauften Nähmaschinen, kauften Badfliesen, tauschten Wohnungen. Unser erster Werbekunde war ein usbekischer Herr aus dem Ferganatal, der einige Säcke Walnüsse nach Tomsk gebracht hatte und sie schnell verkaufen wollte. Seine kleine Verkaufsmeldung für Walnüsse war unser erster Werbespot.
Dank Internews, einer internationalen Hilfsorganisation zur Förderung unabhängiger Medien, die seit Anfang der neunziger Jahre in Russland tätig ist, kamen US-amerikanische Berater nach Tomsk. Robert Campbell half TV-2 bei der Entwicklung der Nachrichtensendung "Chas Pik" (Stoßzeit). Meg Gaydosik erklärte uns die Grundprinzipien der Werbeakquisition. Wir sind beiden dankbar. Unsere Berater hatten aber wahrscheinlich einige Probleme mit uns, die sie taktvoll verschwiegen. Der Wissensunterschied zwischen uns und diesen Fachleuten war riesig, aber die berüchtigten "kulturellen Unterschiede" schien es nie zu geben. Auch unsere Berater hatten eine Mission: Sie bauten gerne unabhängiges Fernsehen aus dem Nichts auf. Ebenso wie wir.
Damals kam in Tomsk das hartnäckige Gerücht auf, TV-2 lebe von amerikanischem Geld. In der Realität entbehrte das jeder Grundlage. Wir lebten von Werbeeinnahmen, und das sehr bescheiden, nicht von US-Dollars, sondern von russischen Rubeln. Das Gerücht erwies sich aber als hilfreich. Man dachte, wir seien stark und es sei womöglich besser, sich nicht in unsere Aktivitäten einzumischen. Sonst könnte man weiß ja nie die sechste US-Flotte über den Uschaika-Fluss auffahren.
Im Lauf der Jahre lernten wir viele nützliche Dinge, zum Beispiel wie man Stegreif- Reportagen macht und natürliche Geräusche für Berichte nutzt. Wir lernten, beim Filmen mit der Kamera die Handlungslinie nicht zu überschreiten und beim Filmschnitt nicht eine Halbnah-Einstellung neben die andere zu setzen. Wie lernten, wie man an Informationen kommt, eine Nachrichtensendung strukturiert, ein Budget plant, mit Werbekunden spricht, was eine "Marke" ist und wie man sie aufbaut. Wir lernten auch, Distanz zu allen staatlichen Stellen und politischen Parteien zu wahren. Alles in allem lernten wir wohl, wie man mehr oder weniger professionell Fernsehen macht. Wir stellten zahlreiche unrentable Programme ein und konzentrierten uns auf Projekte, die gute Quoten erzielten und Geld einbrachten. Wir errichteten ein eigenes Gebäude, eröffneten zwei Hörfunksender, gründeten eine Werbeagentur und schalten uns nun in das Internet ein. Seit Ende der neunziger Jahre haben TV-2-Programme und einzelne Journalisten, die für TV-2 arbeiten, mehrfach Preise bei renommierten nationalen Fernsehwettbewerben ("Nachrichten Lokal Zeit", "Gesamtrussischer Fernsehpreis", "Lazurnaya Stern") gewonnen. Im Jahr 2000 gewann das Nachrichtenprogramm von TV-2 den von der russischen Fernsehakademie verliehenen nationalen Fernsehpreis TEFI, das Pendant zum amerikanischen Emmy. Insgesamt keine schlechte Bilanz.
In all den Jahren haben wir an einigen unserer Ideen festgehalten. Erstens sollte lokales Fernsehen ein eigenes Gesicht haben. Fernsehen in Tomsk sollte nicht wie Fernsehen in Moskau sein und noch nicht einmal wie Fernsehen in Ekaterinburg, einer vergleichbaren Stadt im Ural. Nur wir können unserer Ortsbevölkerung sagen, was zu Hause und um die nächste Ecke passiert. Und wir können es ihr in einer Sprache sagen, die sie versteht, ohne Agitation oder Melancholie, aber mit ein wenig Ironie, denn ein leicht ironischer Ton ist hilfreich, um in Zeiten umwälzender Veränderungen über die facettenreiche russische Realität zu sprechen.
Zweitens haben wir gelernt, angemessene Distanz zu Politikern zu wahren, dabei aber unser Engagement für ein freies Fernsehen, das von niemandem abhängig ist, nie verheimlicht. Auftragsjournalismus (im Dienst politischer Interessen), der in Russland gang und gäbe geworden ist, hat bei TV-2 dankenswerterweise nie Fuß fassen können. Wir müssen zugeben, dass wir nicht von Anfang an gegenüber der Politik Distanz zu wahren wussten. Wie alle freien Medien in Russland zu Beginn der neunziger Jahre waren wir gegen die Kommunisten und für die "Demokraten". Wir engagierten uns politisch, und wir brauchten einige Zeit, um zu lernen, dass ideelles Engagement eine Sache ist, die Bildung politischer Allianzen mit bestimmten Personen aber eine ganz andere.
Drittens fühlten wir uns in wirtschaftlicher Hinsicht immer alle der Juche-Idee verpflichtet (einer Philosophie der Selbständigkeit aus der Demokratischen Volksrepublik Korea): Wenn du handelst, musst du dich allein auf deine eigene Kraft verlassen. Wir lernten, nur das auszugeben, was wir auf dem lokalen Werbemarkt einnahmen, und unsere Hoffnungen nicht auf starke Finanzspritzen von außen zu setzen. Im Mai 2001 feierten wir den zehnten Geburtstag von TV-2. Für Tomsker Verhältnisse feierten wir extravagant. Mittlerweile konnten wir uns das leisten.
Im Jahr 2001, nicht lange nach diesen Feierlichkeiten, wurde jedoch eine Mehrheitsbeteiligung an TV-2 an den Moskauer Oligarchen Michail Chodorkowskij, den reichsten Mann Russlands und Eigner der Ölgesellschaft Yukos, verkauft. Yukos hatte damals bereits seit mehreren Jahren in Tomsk Öl gefördert und bestritt nahezu die Hälfte des städtischen Haushalts. Im Vorlauf zu diesem Verkauf gab es in der Gruppe Gleichgesinnter, die TV-2 gegründet hatten, heftige Auseinandersetzungen. Die Initiatoren des Verkaufs vertraten den Standpunkt, Fernsehen sei ein Geschäft und der Verkauf von Anteilen ein ganz ausgezeichnetes Geschäft. Sie argumentierten, dass wir mit dem zu erwartenden Investitionspaket die Chance erhielten, einen großen technologischen Sprung zu machen, und dass niemand uns jemals wieder so viel Geld bieten würde wie Chodorkowskij. Zeitgleich waren wir Zeugen der aufsehenerregenden Schließung des Fernsehsenders NTV, der in Opposition zur Regierung Putin gestanden hatte. Das NTV-Dilemma warf generell die Frage auf, ob es in Russland überhaupt unabhängiges Fernsehen ohne politisches "Dach", das heißt ohne Gönner, geben kann.
Die Gegner des Verkaufs sagten, TV-2 würde damit zu einem politischen Instrument, der Verkauf widerspreche allen Grundüberzeugungen, auf denen der Sender fußte. Aber sie hatten genug gesunden Menschenverstand, um nicht bis zum äußersten zu gehen und die Grenze, die eine Spaltung von TV-2 bedeutet hätte, nicht zu überschreiten. Eine wichtige Lehre aus der Geschichte von NTV war für den Sender in Tomsk die traurige und dauerhafte Zerschlagung eines vormals vereinten und talentierten Kollegenteams. Wir wollten das vermeiden. Als klar wurde, dass das Geschäft mit Yukos unvermeidlich war, beschloss TV-2 Redaktionsstatuten, die eine direkte Einmischung der Eigentümer in die Redaktionspolitik erschwerten, und wählte einen Chefredakteur, wie dies das russische Mediengesetz vorsieht. Chodorkowskij selbst setzte sich mit den Mitarbeitern von TV-2 zusammen und versuchte sie zu überzeugen, dass er sich in keiner Weise in die Redaktionspolitik einmischen wolle und dass er sich liberalen Werten ebenso verpflichtet fühle wie die Journalisten des Senders. So wurde das Geschäft schließlich zum Abschluss gebracht. Chodorkowskij investierte auch gleich in eine Werbekampagne für den Sender. So trat der Sender in eine neue Phase seiner Geschichte ein. Wie diese verlaufen wird, ist allerdings wieder völlig offen, seit Chordorkowskij am 25. Oktober 2003 in einer fragwürdigen Aktion unter dem Vorwurf des Betrugs und der Steuerhinterziehung verhaftet wurde.
aus: der überblick 04/2003, Seite 73
AUTOR(EN):
Viktor und Yulia Muchnik:
Viktor Muchnik ist Chefredakteur von TV-2 in Tomsk, Russland.
Yulia Muchnik arbeitet als Journalistin in dem Sender. Dies ist die aktualisierte Version eines Artikels, der 2002 in "Development Studies" des "Weltbank Instituts" erschienen ist. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.