Viele Emigranten leiden unter Schuldgefühlen, weil sie ihr Heimatland im Stich gelassen haben
Die Inder in New York leben in einem multikulturellen Schmelztiegel, und doch finden hindu-chauvinistische Gruppen unter ihnen Anhänger. Auch andere Diaspora-Gruppen haben eine paradoxe Vorliebe für extremistische Gruppen in ihrer Heimat an den Tag gelegt. Dies hängt mit der besonderen Lebenswelt des Exils zusammen: Der Emigrant hat Schuldgefühle, weil er seiner Heimat den Rücken gekehrt hat, und wird zugleich oft an seinem neuen Wohnort nicht als vollgültiger Bürger akzeptiert.
von Shashi Tharoor
Am 6. August 1993 versammelten sich etwa 15.000 Emigranten, überwiegend Inder, im Hilton und im Omni Shoreham Hotel in Washington zu einer »Weltkonferenz«, die den großartigen Titel trug »Weltvision 2000«. Ein Werbeprospekt in Hochglanzausführung beschrieb die Konferenz als »ein groß angelegtes Bemühen, Jugendliche aus allen Teilen der USA und der ganzen Welt zusammenzubringen«, um »über eine ganzheitliche Vision für die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten nachzudenken«. Unter der zugkräftigen Schlagzeile: »Kommmen (!) Sie und und sehen, wer bei der Weltkonferenz dabei ist« konnte man fett gedruckt die Namen von Präsident Clinton und dem Dalai Lama finden, in etwas kleinerer Schrift die von Bill Moyers und Carl Sagan. Bei genauerer Prüfung jedoch stellte sich heraus, dass diese Koryphäen auf die Einladung in Wirklichkeit gar nicht zugesagt hatten – was nicht weiter verwundert. Weiter zeigte sich, dass unter den »Würdenträgern und geistlichen Führern«, die die »Weltkonferenz leiten« sollten, welche Überraschung, fast die ganze Führer- und Heldenriege des extremistischen indischen Hindu-Flügels vertreten war.
Denn diese ganze scheinbar so harmlose Veranstaltung war nicht einfach eines jener idealistischen, gedanklich verschwommenen Festivals nach dem Muster »Lasst uns den jungen Leuten beibringen, ihren Kopf von Sex und Drogen freizuhalten«. Man konnte sich allerdings täuschen lassen vom Ersatz-Glanz des Prospektes, auf dem der Obelisk für George Washington in Washington und das US-Kapitol, der Sitz des Kongresses, sich das Deckblatt teilten mit einer Darstellung des Kosmos in Sagan-Manier. Vervollständigt wurde das von ausführlichen Anleitungen für die Anmeldung mit verlockenden Fotos von dem »Inneren eines Zimmers im Fünf-Sterne-Hotel Omni Shoreham« (komplett mit post-koitalem weisshäutigem Paar im Morgenrock).
Die »Weltkonferenz« war auf das Datum gelegt, an dem das Auftreten des brillanten Hindu-Humanisten Swami Vivekananda vor dem Chicagoer Weltparlament der Religionen sich zum hundertsten Mal jährte. Ihre atemberaubende Anpreisung war ein Versuch, sich etwas von Vivekanandas Glanz anzueignen. Doch die Organisatoren konnten keinen Anspruch auf die allumfassende Toleranz und Weisheit des verstorbenen Weisen erheben. Sie gehörten zur Vishwa Hindu Parishad (VHP), einer weltweiten Hindu-Organisation, deren Vision bis dahin vor allem damit berühmt geworden war, dass sie zur Zerstörung der Babri-Moschee von Ayodhya in Nordindien im Dezember 1992 aufgerufen hatten. Diese entfachte damals Gewalt und Aufruhr in einem seit der Unabhängigkeit Indiens noch nicht dagewesenen Umfang.
Die VHP genoss die seltene Auszeichnung, als noch extremistischer zu gelten als die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die Partei des Mörders von Mahatma Gandhi. Sie hat die Anstachelung zum Hass zu ihrer Spezialität gemacht. Mit ihrem wohlwollenden Beistand wurden während der Pogrome in Bombay im Januar 1993 Muslime misshandelt, überfallen, aus ihren Wohnungen vertrieben, ihres Lebensunterhaltes beraubt und auf den Straßen niedergemetzelt. Freimütigere Sympathisanten der VHP haben Bewunderung für Hitlers Umgang mit unbequemen Minderheiten bekundet. Das war also die glückliche Mannschaft von moralischen und geistlichen Führern, denen 15.000 junge indische Emigranten – einige zweifellos von der Aussicht verleitet, den Dalai Lama und den US-Präsidenten zu hören – sich für ihr Wochenende in Washington anvertrauten. Wenn der Prospekt »eine Vielfalt von erstklassigen Programmen« anbietet, »die das Bewusstsein der Menschen von der Richtung ihres zukünftigen Weges schärfen sollen«, dann weicht die natürliche Neigung zu gähnen einem sanften, kalten Schaudern.
Washington war sicher ein ungewöhnlicher Ort für die Feier des Hindu-Fanatismus. Und doch war es kein so erstaunlicher Treffpunkt. Denn etwas an der Emigration scheint den Extremismus zu fördern. Das Mosaik der ethnischen Gruppen in den USA ist voller importierter Bigotterie – von den muslimischen Fundamentalisten, die mit erfreulichem Dilettantismus versucht haben, New York in die Luft zu sprengen, bis hin zu Miamis zahlreichen Verkörperungen von Attila, dem Kuba-Hunnen.
Amerikaner indischer Herkunft haben ihr Bestes getan, um mit diesen Fidelios aus ausländischen Randgruppen mitzuhalten. Ein Haufen begüterter Hindu-Fachkräfte aus Südkalifornien überschwemmte die Zeitungen in Indien nach der Zerstörung der Moschee in Ayodhya mit einer Werbekampagne, um dem herzzerreißenden »Pseudo-Säkularismus« entsetzter Liberaler entgegenzutreten; diese, zu denen auch ich gehöre, hatten öffentlich die Zerstörung der Moschee und ihre Folgen angeprangert. Die Anzeigen – eine Mischung von ahistorischen Halbwahrheiten, mit denen die Inder in Indien aufgerufen wurden »aufzuwachen«, weil sonst »Indien und die Hindus dem Untergang geweiht seien« – waren nur ein weiterer Beweis dafür, dass das Exil politischen Extremismus nährt. Die »Weltkonferenz« hat darum nur alte Tradition fortgeführt.
Der schrille Chauvinismus dieser amerikanischen Hindus ist schließlich nur ein weiterer Fall von Eiferern, die im Ausland für Radikale in der Heimat eintreten. Wir haben schon emigrierte Sikhs erlebt, die Geld, Waffen und Organisationskenntnisse in die Sache eines »reinen« Khalistan, eines eigenen Sikh-Staates ohne Tabak und Barbiere, gepumpt haben. Irischstämmige Amerikaner haben gewollt oder ungewollt den IRA-Terrorismus in Nordirland unterstützt; Jaffna-Tamilen in England haben den mörderischen Kampf für »Eelam«, einen eigenen Tamilenstaat, in Sri Lanka finanziert. Und Lobbyisten unter den amerikanischen Juden haben Positionen zur Frage Palästina befürwortet, die sehr viel weniger entgegenkommend waren als die der israelischen Regierung selbst (zumindest unter Rabin, Peres und Barak).
Das Paradox, dass aus entfernten Elfenbeintürmen der bürgerlichen Mäßigung politischer Extremismus propagiert wird, ist nur der offenkundigste unter den mit diesem Phänomen verbundenen Widersprüchen. Die Khalistanis Nordamerikas, die öffentlich auftreten, mögen ihre Bärte wieder gepflegt und ihre Zigaretten weggeworfen haben, wie die heiligen Schriften der Sikhs es vorschreiben. Doch sie beziehen ihre finanzielle Unterstützung fast ausschließlich von glattrasierten emigrierten Religionsgenossen, die kaum vertraut sind mit den Verboten und Geboten ihres eigenen Glaubens. Und die Hindu-Chauvinisten Südkaliforniens leben und gedeihen in einem pluralistischen Schmelztiegel, dessen tägliche Erfahrungen in direktem Widerspruch zu dem Sektierertum stehen, das sie im Anzeigenteil der Zeitungen in Indien herausposaunen.
Die Erklärung für dieses offenkundige Paradox mag im Wesen der Emigration liegen. Die meisten Emigranten sind heutzutage Menschen, die ihre Heimat auf der Suche nach materieller Verbesserung verlassen haben. Sie halten Ausschau nach finanzieller Sicherheit und beruflichen Chancen, die sie aus diesem oder jenem Grund in ihrem eigenen Land nicht finden konnten. Viele haben ihr Land mit der Absicht verlassen, wieder heimzukehren. Ein paar Jahre im Ausland, ein paar Dollar mehr auf der Bank, so sagten sie sich, dann kehren sie an ihren eigenen Herd zurück als Sieger über das Missgeschick, das sie veranlasst hatte, ihre Heimat zu verlassen.
Doch die Jahre zogen sich dahin, und die Dollars reichten nie ganz aus, oder die Bedürfnisse der Emigranten stiegen mit ihrem Besitz, und sie knüpften neue Bande (Karriere, Ehefrau, Kinder, Schule) zu ihrem neuen Land. Dann schlich sich nach und nach die Erkenntnis ein, dass sie nie zurückkehren würden. Und mit dieser Erkenntnis, die oft nur halb eingestanden war, kam ein Aufruhr von Gefühlen: das Gefühl der Schuld, ihr Vaterland verlassen zu haben, vermischt mit Zorn darüber, dass das Vaterland sie mit seinen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Versäumnissen irgendwie zu dieser Preisgabe gezwungen hatte. Die Einstellung des Emigranten zu seinem eigenen Heimatland ist die eines treulosen Liebhabers, der der Frau, die er verschmäht hat, nun vorwirft, dass sie seine Treue gar nicht hinreichend verdient habe.
Darum ist die Unterstützung für den Extremismus im Vaterland in doppelter Weise befriedigend: Sie besänftigt das Schuldgefühl des Emigranten, sich nicht im Heimatland zu engagieren, und sie rechtfertigt seine Entscheidung, es verlassen zu haben. (Wenn das Land, das er verlassen hat, nicht die Fehler hätte, die er verabscheut – so sagt er sich -, dann hätte er es nicht verlassen müssen.)
Doch das ist nicht alles. Der Emigrant ist dringend darauf angewiesen, seinen Standort in seiner neuen Gesellschaft zu finden. Er wird von einem Blick in den Spiegel, wenn nicht von den Staatsbürgern seines neuen Landes, daran erinnert, dass er nicht ganz so ist wie diese. Inmitten von Rassismus und Entfremdung, von Staatsbürgerschaft zweiter Klasse und Selbsthass, braucht er eine Identität – ein Etikett, auf das er stolz sein kann, das jedoch seine Entscheidung für das Exil nicht untergräbt. Er hat die Realität in seiner Heimat verworfen, doch nicht – so erklärt er voll Eifer – die grundlegenden Werte, die er aus seinen eigenen Wurzeln hergeleitet hat. Je mehr seine Kinder »amerikanisch« oder »britisch« aufwachsen und die Annahmen, Vorurteile und Ängste seiner eigenen Kindheit ablegen, desto fester steht er zu diesen Werten. Doch seine Nostalgie beruht auf einem selektiven Gedächtnis. Sie ist eine vereinfachte, idealisierte Erinnerung an seine Wurzeln, die oft auf das Elementarste reduziert werden: Familie, Kaste, Region, Religion. Im Exil unter Ausländern hält er fest an einer Vision davon, was er wirklich ist, die keine Fremdheit zulässt.
Doch die Tragödie liegt darin, dass die Kultur, deren er sich sowohl mit Nostalgie als auch mit Ablehnung erinnert, sich auf ihrem eigenen Boden weiterentwickelt hat – im Austausch mit anderen Kulturen. Davon weiß der Emigrant nichts, weil seine Perspektive vom Exil verzerrt ist. Seine Sicht dessen, was einmal seine Heimat war, ist losgelöst von der Erfahrung dieser Heimat. Der Emigrant ist nicht mehr ein organischer Bestandteil der Kultur, sondern ein abgetrennter Finger, der sich in seiner Sehnsucht nach der Hand nur zu einer geballten Faust verkrümmen kann.
In den acht Jahren seit der eingangs erwähnten »Weltkonferenz« hat sich in der hindu-chauvinistischen Gemeinde Amerikas eine merkwürdige Veränderung vollzogen: Der Aufstieg einer Koalition unter Führung der Bharatiya Janata Party (BJP), die der Hindu- Ideologie nahe steht, zur Regierung Indiens hat aus Extremisten Vertreter des Establishments gemacht. Zugegeben, die BJP führt eine Koalition aus 23 Parteien, von denen die meisten nicht religiös ausgerichtet und nicht von der Hindu-Ideologie geleitet sind. Dennoch stehen die Hindu-Extremisten nun nicht mehr außen vor und schreien nach der Chance zu regieren. Ihre Anhänger im Ausland haben damit zu neuer Achtbarkeit gefunden: Sie stellen ihre Nähe zu den gegenwärtigen Machthabern zur Schau, indem sie zum Beispiel im vergangenen Herbst in New York als Gastgeber eines Willkommensempfangs für Atal Behari Vajpayee, den Ministerpräsidenten Indiens von der BJP, aufgetreten sind. Minister und Regierungschefs aus indischen Bundesstaaten, wo die BJP regiert, werden in Amerika regelmäßig von Organisationen willkommen geheißen, welche vormals die Trennung von Staat und Religion in Indien abgelehnt haben.
Doch Macht bringt Verantwortung mit sich. Denen, die mit Ministerpräsidenten verkehren, steht es nicht wohl an, Minderheiten in ihrer Heimat hysterisch anzugreifen. Der Extremismus ist daher zur Zeit unter indischen Exilanten etwas gedämpft.
Doch sollten die Hindu-Parteien in Indien die Macht verlieren und Konflikte zwischen kommunalen Gruppen erneut in den Vordergrund treten, dann werden die Auslands-Extremisten wieder zu sich selbst finden. Die VHP sammelt bereits Geld für den Bau eines Tempels auf dem Gelände der zerstörten Babri-Moschee. Der indische Premierminister hat sie gebeten zu warten, bis der Streit um die frühere Moschee entweder gerichtlich oder durch eine Vereinbarung zwischen Hindus und Muslimen beigelegt ist. Die VHP treibt dessen ungeachtet ihr Vorhaben voran und hat bereits ein großartiges architektonisches Modell des Tempels vorgestellt. Wenn sie mit dem Bau beginnt – und das hat sie für März 2002 angekündigt –, wird das sicher zu Gewalt führen. Und es ist wohl kein Zufall, dass das meiste Geld, das die VHP für den Bau gesammelt hat, in US-Dollars eingezahlt worden ist.
aus: der überblick 02/2001, Seite 14
AUTOR(EN):
Shashi Tharoor:
Shashi Tharoor ist indischer Schriftsteller und unter anderem Autor von "Indien: Mythos und Moderne" sowie "Der Große Roman Indiens". Er ist hoher Mitarbeiter der Vereinten Nationen in New York und leitet zur Zeit deren Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Demnächst erscheint sein Roman "Riot" auf Deutsch.