Das einstige Modell ist ein ganz normales afrikanisches Land geworden
Tansania war für viele Deutsche ein Land der Träume. Schon in der Kolonialzeit suchten Abenteurer und zu kurz Gekommene dort das Paradies. Später, in den 1970er Jahren, bewunderten viele den tansanischen Sozialismus aus der Ferne, obwohl er Grundbedürfnisse der Bevölkerung nicht befriedigen konnte. Heute sind die Träume vom Sozialismus ausgeträumt, und Tansania ist ein Land wie viele in Afrika.
von Christoph Plate
Leicht kam man vor zwanzig Jahren nicht in das afrikanische Paradies. Das Misstrauen war groß gegenüber Reisenden; Angst vor Spionen und Konterrevolutionären trieb Polizisten und andere Beamte um. Das offizielle Tansania war kein sehr freundliches Land, sondern ein wenig wie die DDR, nur eben afrikanisch. War man weiß und schon einmal in Südafrika gewesen und wollte nun Tansania besuchen, dann war es ratsam, den Besuch im Apartheidstaat zu verheimlichen. Am besten besorgte man sich einen zweiten Pass.
Doch auch der schützte nicht vor Nachfragen, wenn er etwa von der deutschen Botschaft in Gaborone ausgestellt war und keinen Einreisestempel nach Botswana trug. Der Reisende erzählte daher dem freundlichen tansanischen Konsularbeamten von einem gestohlenen Pass in Botswana und einem Ersatzausweis, den er sodann bekommen habe. Wie sollten der Beamte an der sambisch-tansanischen Grenze und der wachsam neben ihm stehende Zöllner auch ahnen, dass dieser Reisende Tansania und den afrikanische Weg zum Sozialismus sehr interessant fand? Der Beamte konnte nicht ahnen, dass der Besucher Tansania bewunderte, weil es Tausende von Exilanten aus Südafrika aufgenommen hatte und weil in Dar es Salaam die Verfechter eines unabhängigen Afrika studiert und doziert hatten: Samora Machel, Yoweri Museveni oder John Garang.
Da die Leute an der Grenze all das nicht würden ahnen können, wurde in Sambia kurz vor dem Grenzübertritt von allen Medikamentenflaschen, Keksdosen und Heftpflasterschachteln, die für eine Afrikadurchquerung als unerlässlich galten, der Hinweis abgekratzt oder übermalt, wonach dies ein Produit van Suid-Afrika sei. Wahrscheinlich dürfte es den Beamten an der Grenze aber egal gewesen sein, woher die Medikamente kamen - sie wären froh gewesen, wenn sie nur selbst welche gehabt hätten.
Der Schock kam bald und traf tief: Im Tansania vor knapp 20 Jahren gab es nichts zu essen. Julius Nyerere, der Held ungezählter Dritte-Welt-Gruppen, linker Pfarrer und abgeklärter Professoren an deutschen Hochschulen, dieser Nyerere, ein großer Visionär und Staatsmann, hatte den Karren Tansania so vor die Wand gefahren, dass es buchstäblich nichts mehr zu fressen gab - außer Bananen natürlich. Es gab keinen Zucker, es gab zu wenig Diesel, um mit der Eisenbahn von Mbeya nach Dar es Salaam zu fahren, es gab kein Bier, es gab nicht genug Papier, um Zeitungen zu drucken. In der Herberge in Dar es Salaam gab es zum Frühstück wahlweise Brot oder Eier. Beides zusammen war nicht drin, selbst wenn man bereit gewesen wäre, dafür zu zahlen.
Um aus diesem afrikanischen Sozialismus in den afrikanischen Kapitalismus zu gelangen, aus Tansania nach Kenia, brauchte der Reisende viele Papiere mit vielen Stempeln, die ihm auf zahlreichen Behörden ausgestellt wurden. Das waren Sondergenehmigungen, um über die eigentlich geschlossene Grenze bei Namanga ins Sündenbabel, nach Nairobi, gelangen zu können. Gewiss, Kenias Hauptstadt war laut, die Menschen waren sehr selbstbewusst und die Stadt dreckig. Aber es gab etwas zu essen. Und es gab Klopapier. Wer als Ausländer vor zwanzig Jahren mit einer dieser Sondergenehmigungen, abgestempelt in Dar es Salaam und in Arusha, nach Kenia kam, stand für Stunden oder Tage unter Kulturschock - so wie der Ostdeutsche, der beim Westbesuch über die automatisch öffnenden Glastüren in den Kaufhäusern staunte.
Das tansanische Volk redete vom Mwalimu ("Lehrer") Nyerere mit Respekt. Der Hinweis, dass dieser sicher charismatische Herr von Wirtschaft und vom Wirtschaften keine Ahnung zu haben schien, wurde abgetan. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds wollten doch Tansania in die Knie zwingen, bekam der Reisende zu hören. Es fehlte an allem und es schlich sich schnell die Ahnung ein, dass sich über diesen afrikanischen Sozialismus, in dem Bauern eines Dorfes gemeinsam eine Scholle beackerten, besser aus der Ferne sprechen und dozieren ließ, als in ihm zu leben. Wären da nicht die Farben der Natur, die Weite der Savanne, das Schimmern der Fischschuppen in den Garküchen am Hafen von Dar es Salaam gewesen und die Tansanier, die dem Reisenden sagten, so sei das nun mal unter dem Mwalimu, aber es werde auch wieder bergauf gehen, dann wäre mancher Reisende sicher verzweifelt.
Deutsch-Ostafrika, Tanganyika und Tansania haben immer Deutsche angezogen. Zunächst die Kolonialisten, die mit Gründlichkeit eine Verwaltung aufbauten, die für die Ewigkeit gedacht war. Später kamen die gut meinenden Entwicklungshelfer und die noch besser meinenden evangelischen Missionare mit ihren großen Familien. Die DDR schickte Dozenten und Mechaniker. Nach Sansibar entsandte man aus Ostberlin Abhörexperten und Verhörspezialisten des Staatssicherheitsdienstes.
Zwanzig Jahre nach seiner ersten Fahrt ins entzauberte Paradies begann der Reisende in Tansania nach Deutschem zu suchen und nach Europäern, die damals schon in Tansania ausgeharrt hatten. Da hatte es den Onkel Fritz gegeben, den Sohn eines Schmiedemeisters in Schkeuditz bei Leipzig. Der hatte sich als Kolonialist nach Deutsch-Ostafrika begeben. Fritz galt als Haudegen, als Raufbold, der keine Zweifel und nur selten Skrupel hatte. Ostafrika sollte ihm die Chance bieten, die es in der Enge Sachsens nie geben würde: Weite, Abenteuer, tropisches Klima, Träume von einer großen Farm oder der Entdeckung wertvoller Bodenschätze. In Schkeuditz werden noch die Geschichten erzählt von den Fotos, die der Onkel geschickt hat: Fritz neben einem Löwen, Fritz mit Leopard und Elefant, Fritz mit Eingeborenen. Die Fotos sind verloren gegangen, auch all die Tierfelle, die der eifrige Abenteurer im Laufe seiner Jahre von dort geschickt hatte. Jedem seiner Geschwister, so hatte er geschworen, werde er die Trophäe eines erlegten Wildtieres nach Leipzig senden.
Doch fünfzehn Jahre nach seiner Ankunft in Deutsch-Ostafrika und kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in dem Briten und Deutschen erbittert am Fuße des Kilimandscharo fochten, verstarb Onkel Fritz. Die Familiensaga will, dass er - dämonisches und dunkles Afrika - vergiftet wurde. Von seiner Haushälterin, die, so erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, die Geliebte des Onkel Fritz gewesen sein soll.
Im Nyaraka za Taifa, dem Nationalarchiv in einer Seitenstraße in Dar es Salaamlagern Akten über Fritz und all die anderen Deutschen. Die Archivarin zieht sich den blauen Baumwollkittel über und prüft das Formular, auf dem die gewünschten Akten bestellt werden: 1912 G 21/479 sowie Landangelegenheiten Moshi 1903-1915 G 44/58-76. Die Eingangsstempel des Bezirksamtes Moshi von 1912 wirken fast frisch, trotz des stockigen Geruchs, der aus Schauenburgs Schnellhefter, "gesetzlich geschützt", emporsteigt. In allen Unterlagen wird über die Deutschen angegeben, sie seien "z. Zt. wohnhaft in Dar" oder "z. Zt. wohnhaft in Moshi". Ganz so, als habe man schon geahnt, dass dieser Kolonial-Aufenthalt in Ostafrika nicht für die Ewigkeit sein werde. In Moshi, einem Zentrum der deutschen Pflanzer, die Sisal und Kautschuk anbauten, notierte der junge deutsche Soldat Heinrich Hessel 1888, dass die deutsche Fahne gehisst worden sei. "Wir sollten dafür sorgen, dass diese Flagge hier auf Ewigkeit bleibt", träumte Hessel.
Wer in Europa keine Chancen sah, wer fasziniert war von den Erzählungen über die Weite der Landschaft am Kilimandscharo, wo das Ackerland so weit reicht, dass sich der Blick im Nirgendwo verliert, der hatte hier alle Chancen. Die Spurensuche nach Fritz im Nationalarchiv führt nach Bagamoyo, wo er vermutlich an Land gegangen ist. An einem der kleinen Hotels von Bagamoyo steht ein schwarzer Gedenkstein: "Hier hängten die deutschen Kolonialherren die revolutionären Afrikaner, die sich gegen ihre Unterdrücker-Herrschaft wehrten." Ihren eigenen Friedhof richteten die Deutschen nicht weit von dem Platz ein, an dem sie ihre Widersacher töteten. So möchte man begraben sein, direkt am Strandufer, mit dem Kopf nach vorn. Wenn Besuch ans Grab kommt, hat der einen Blick durch den Palmenhain hinaus auf den Indischen Ozean und irgendwo dort drüben ist dann Sansibar. Die Gräber gehen nach Osten, wo Sonne und Mond aufgehen.
Das Gebäude der Kolonialverwaltung, ein imposanter Bau aus Korallenstein und mit schweren eichenen Türen, verfällt. Vor einigen Jahren krachte der Balkon aus dem ersten Stock herunter ins Erdgeschoss. Die tansanischen Beamten, die dort ihre Büros hatten, erschraken fürchterlich und räumten den Bau. Im Erdgeschoss steht ein alter Kartenschrank aus Kolonialzeiten. Glasscherben liegen auf schlicht bemalten Fußbodenfliesen. Eine ocker-rote Fliese ist lose. Auf der Unterseite ist ein deutscher Stempel eingebrannt: "Villeroy & Boch, Mettlach Merzig". Jede einzelne dieser Fliesen wurde über den Äquator geschippert, um in einem Büro der deutschen Verwaltung verlegt zu werden. Was die Deutschen damals bauten, sollte für immer halten. Architektonisch bekriegen sich bis heute der Kolonialismus und das neue Afrika: Die gebrannten deutschen Dachziegel auf dem Verwaltungsgebäude sind solide und halten lange, das einheimische Wellblech nebenan ist billig und rostet.
Und heute? Tansania ist zum Musterschüler von Weltbank und Währungsfonds geworden, auch wenn die Beamten korrupt sind und die Politiker in die eigene Tasche wirtschaften. Manch einer, der in Nairobi wohnt, fährt heute zum Einkaufen nach Arusha. Das Fleisch ist besser und günstiger dort und auf irgendwelchen Wegen, nach denen man nicht fragt, gelingt es den indischen Händlern, den südafrikanischen Wein günstig zu bekommen - so ist der Wein billiger als in Nairobi. Ein Grenzübertritt von Kenia nach Tansania dauert eine halbe Stunde, und unterdessen gibt es auch in Tansania ausgebaute Straßen und an den Tankstellen wird Diesel verkauft.
Arusha ist aus seinem sozialistischen Dornröschenschlaf erwacht und boomt. Der Internationale Gerichtshof zu Ruanda hat viele UN-Mitarbeiter in die Stadt gebracht. Zehntausende Touristen kommen jedes Jahr durch den früheren deutschen Außenposten, um an den Lake Manyara, den Ngorogoro-Krater und in die Serengeti zu fahren. Südafrikanische Investoren kontrollieren den Biermarkt und versuchen im Handel mit Gold zu reüssieren.
Zwei Stunden südwestlich von Arusha gibt es an der Straße nach Dodoma den unscheinbaren staubigen Ort Mbuyu wa Mjerumani - der "Affenbrotbaum der Deutschen". Kaiserliche Soldaten versteckten sich hier vor neunzig Jahren vor den anrückenden britischen Siegern in einem großen hohlen Baum; so bekam das Dorf seinen Namen. Nicht weit von dort leben Schweizer Bauern auf der Darakuta-Ranch. Vor zwanzig Jahren kamen Rita und Raphael Bapst hierher, sie bauen Kaffee an und sie ziehen Bohnensaat. Der gelernte Drucker kam als Reisender vor einem Vierteljahrhundert mit seinem Motorroller durch Arusha, wurde Verwalter auf einer Kaffeefarm und blieb. Vor zwanzig Jahren bekam er Diesel nur im Tausch gegen Milch. Heute gibt es alles, aber es ist teuer, und die tansanischen Steuerbeamten versuchen die Bauern auszuquetschen. Nie würde Bauer Bapst das Leben auf der abgelegenen Ranch, am Rande eines Urwaldes voller Leoparden, mit dem Dasein in einer Etagenwohnung in Mitteleuropa tauschen wollen. Weiße Farmer aus Südafrika und Europa sind es, die hier Land pachten, die über Kapital verfügen, die Idealismus haben und dieses weite offene Land mögen.
Da ist vieles, was man nicht versteht, wie die Prozession der Menschen mit weißen und schwarzen Masken, die am Straßenrand entlanglaufen. Oder der Afrikaner, der seine Rinder nicht gegen Zecken und Krankheiten behandeln lässt, weil er geizig ist, und der sich dann wundert, dass seine Tiere sterben, während die Rinder des weißen Bauern so gesund und kräftig aussehen. Im Grunde seien sie die neuen Kolonialisten, meint Bapst und schmunzelt. Viele ehemalige Staatsfarmen in der Gegend stehen unterdessen völlig heruntergewirtschaftet zum Verkauf. Die Regierung braucht Geld, und sie braucht die Großbauern.
Fast neunzig Jahre nach dem deutschen Gastspiel, vierzig Jahre nach dem Erlangen der Unabhängigkeit und zehn Jahre nach dem Ende des afrikanischen Sozialismus ist Tansania ein ganz normales afrikanisches Land geworden. Wer heute in Tansania etwas werden will, muss Englisch beherrschen. Wer als Ausländer durch die Provinz fährt, muss Swahili verstehen. Tansanias Polizisten tragen weiße Uniformen und sind nicht ganz so korrupt wie Polizisten in Nigeria, aber mindestens so korrupt wie jene in Kenia. Was sonst noch? Kenya Airways fliegt sieben Mal die Woche von Nairobi nach Sansibar. Die Flüge sind meistens ausgebucht.
aus: der überblick 02/2002, Seite 6
AUTOR(EN):
Christoph Plate:
Christoph Plate war mehr als acht Jahre Afrika-Korrespondent für deutsche Zeitungen in Nairobi. Seit Anfang 2002 arbeitet er als Redakteur bei der "Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag".