Die Westsahara ist eines der letzten Gebiete, deren Entkolonialisierung noch
nicht abgeschlossen ist. Nach dem UN-Friedensplan, den die Besatzungsmacht
Marokko und die Befreiungsfront POLISARIO 1988 akzeptiert haben, sollen die
Sahraui in einem Referendum entscheiden, ob das Gebiet
ein eigener Staat werden soll. Aber Marokko hat das Referendum, das die
Vereinten Nationen durchführen sollen, immer wieder hinausgezögert.
Jamal Zakari, der Vertreter der POLISARIO in Deutschland, erläutert, ob er
unter dem neuen König bessere Chancen für die Abstimmung sieht und
was nach Ansicht der POLISARIO danach geschehen muß.
Interview mit Polisario-Vertreter Jamal Zakari
Die Fragen stellte Bernd Ludermann
Das Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara ist jetzt für Juli 2000 angesetzt, doch Verzögerungen sind schon absehbar. Glauben Sie, daß es im kommenden Jahr tatsächlich stattfindet?
Wir hoffen es sehr. Aber ich muß leider sagen, die marokkanische Seite tut alles, um das zu behindern. Ursprünglich, 1991, sollte der ganze Prozeß sechs Monate dauern. Nun warten wir seit neun Jahren auf das Referendum und stehen immer noch am Anfang. Ohne harten Druck von seiten der internationalen Gemeinschaft wird Marokko weiter alles tun, um den Prozeß zu verzögern.
Sie erwarten nicht, daß sich die Haltung des Landes unter dem neuen König ändert?
Unsere Hoffnung beruht natürlich auf der Entwicklung in Marokko. Aber leider haben wir unter dem neuen König bisher vor allem Repression in den von Marokko besetzten Gebieten der Westsahara erlebt, und die hält an. Auch die Verzögerungsmanöver auf der internationalen Ebene gehen weiter. Gerade Ende Oktober hat der UN-Generalsekretär Kofi Annan seinen neuen Bericht über die Westsahara vorgelegt, wonach fast 80.000 Einsprüche gegen die Arbeit der Identifizierungskommission der UN eingelegt worden sind, die prüft, wer Sahraui und beim Referendum stimmberechtigt ist. Man kann immer versuchen, die Dinge so kompliziert wie möglich zu machen, wenn der politische Wille zu einer Lösung fehlt.
Ist die Entlassung des marokkanischen Innenministers Driss Basri im November nicht ein Zeichen, daß sich auch in der Frage der Westsahara etwas bewegt?
Gerade Basri hatte ja kurz vorher verlangt, das Referendum erneut um zwei bis drei Jahre zu verschieben.
Die Entlassung des Innenministers ist natürlich eine gute Nachricht und eine Entscheidung des Königs, die wir begrüßen. Driss Basri hat fast 25 Jahre lang die Repression symbolisiert - sowohl in Marokko als auch in der Westsahara. Für uns kommt es aber darauf an, daß nicht nur Personen ausgewechselt werden, sondern die Politik geändert wird.
Sehen Sie dafür keine Anzeichen? Der König hat zum Beispiel Anfang November angekündigt, Marokko werde besondere Schritte gegen die Arbeitslosigkeit und die Armut in der Westsahara unternehmen und ein Beratungsgremium für das Gebiet wählen lassen - auch von Sahraui. Was halten Sie davon?
Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die sozialen Probleme sind natürlich das Ergebnis der Besatzung durch Marokko. Die marokkanische Propaganda hat übrigens immer behauptet, daß die besetzten Gebiete in der Westsahara ein Paradies wären. Jetzt, nach dem Vorschlag des Königs, kann man die Wahrheit erkennen. Aber meiner Meinung nach sind das Versuche, die internationale Gemeinschaft abzulenken. Die Hauptfrage lautet: Hat die marokkanische Regierung endlich den politischen Willen zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes? Bis jetzt haben wir da noch keine konkreten Schritte gesehen.
Ein teilweise von Sahraui gewählter Rat wäre kein Fortschritt?
Nein. Denn das hat überhaupt nichts zu tun mit dem UN-Friedensplan, der vorsieht, daß das gesamte sahrauische Volk über seine Unabhängigkeit entscheiden soll. Das ist die Frage, um die es geht. Entscheidend ist, ob der König jetzt genug Mut hat, das Referendum endlich zuzulassen.
Sind Sie sicher, daß ein Referendum zugunsten der Unabhängigkeit ausgehen würde?
Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Und das wissen auch die Marokkaner. Wenn sie glauben würden, daß sie eine Chance haben, die Abstimmung zu gewinnen, dann würden sie nicht solche Schwierigkeiten machen. Wir verlangen lediglich, daß die Sahraui und nur die Sahraui über ihre Zukunft frei entscheiden. Wenn sie für den Verbleib bei Marokko sind, akzeptieren wir das. Aber die marokkanische Regierung hat bis heute nicht eindeutig erklärt, daß sie ihrerseits eine Niederlage bei dem Referendum akzeptieren würde. Die Marokkaner versuchen, ihre Bürger auf die Listen der Abstimmungsberechtigten setzen zu lassen und so eine Mehrheit für sich zu schaffen. Nur wenn das gelingt, wollen sie das Referendum zulassen.
Fürchten Sie nicht, daß die POLISARIO infolge einer Annäherung zwischen Algerien und Marokko die Unterstützung Algeriens verliert?
Es war nie unser Ziel, daß Algerien und Marokko keine guten Beziehungen unterhalten. Gute Beziehungen zwischen allen Staaten des Maghreb können nur von Vorteil sein. Sie können jedoch nicht aufgebaut werden, solange noch ein Konflikt in der Region ungelöst ist und einem stabilen und starken Maghreb entgegensteht. Die Unterstützung des legitimen Rechts des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit durch Algerien ist nie in Frage gestellt worden. Algerien unterstützt den UN-Friedensplan und tut alles, damit er umgesetzt wird - ebenso wie Mauretanien, unser anderer Nachbar.
Worin werden die dringendsten Aufgaben bestehen, wenn die Westsahara tatsächlich unabhängig wird?
Die vordringlichste Aufgabe ist natürlich der Wiederaufbau der Westsahara. Ein Aufbau ist stets noch schwieriger als ein Befreiungskampf. Voraussetzung dafür ist Stabilität, sind gute Beziehungen zu allen Nachbarn in der Region - darunter auch Marokko. Aus diesem Grund versuchen wir bereits Gespräche mit Marokko über die Zeit nach dem Referendum zu führen und eine Basis zu schaffen, damit das Referendum wirklich von beiden Seiten getragen wird.
Haben Sie Ansprechpartner in der Gesellschaft Marokkos, zum Beispiel unter unabhängigen Organisationen wie Menschenrechtsgruppen?
Wir waren immer offen für Kontakte zu marokkanischen Organisationen, zur Zivilgesellschaft in Marokko, auch um die Menschen in Marokko über den Konflikt und seinen Ursprung zu informieren. Aber die marokkanische Führung hat ihn immer nur als Konflikt zwischen Marokko und Algerien dargestellt, und der Informationsgrad in der marokkanische Bevölkerung ist sehr gering.
Wer genau sind denn solche Partner in Marokko?
Wir haben uns zum Beispiel auf internationalen Kongressen häufig bemüht, Gespräche mit marokkanischen Delegationen zu führen, gleich welcher politischen Ausrichtung. Einige Parteien in Marokko haben jedoch versucht, mit dem Westsaharakonflikt innenpolitische Ziele zu erreichen, sie haben ihn instrumentalisiert. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Auf der anderen Seite haben die meisten Marokkaner Angst, mit uns überhaupt in Kontakt zu treten, weil die Frage der Westsahara in Marokko ein Tabu ist. So hat Ibrahim Serfaty, ein jüdischer marokkanischer Oppositioneller, mehr als 17 Jahre im Gefängnis verbracht und wurde dann ausgewiesen, nur weil er sich öffentlich dafür ausgesprochen hatte, das Recht der Sahraui auf Selbstbestimmung zu respektieren.
Wie hoffen Sie im Falle der Unabhängigkeit das Land aufzubauen?
Das wird natürlich viel schwieriger werden als alles, was wir zur Zeit machen. Wir müssen fast von Null anfangen. Allerdings haben wir einen Staat...
... vor allem in den Flüchtlingslagern, also eine Art Staat im Exil?
Ja, dort haben wir vor allem im Gesundheits- und Erziehungsbereich schon etwas aufgebaut, trotz aller Schwierigkeiten. Aber auch in den befreiten Gebieten in der Westsahara, die ungefähr ein Viertel des Landes ausmachen, besitzen wir eine Art Verwaltung. Aber natürlich werden sich die Anforderungen in Zukunft ändern.
Wie viele Sahraui leben in den befreiten Gebieten?
Das kann ich nicht genau sagen, aber nicht sehr viele wegen der früheren Angriffe der marokkanischen Luftwaffe. Diejenigen, die heute dort leben, stammen überwiegend nicht aus dieser Region, sondern sind auch Flüchtlinge. Der überwiegende Teil der Sahraui außerhalb der besetzten Gebiete lebt heute in den Flüchtlingslagern in Algerien nahe der Grenze zur Westsahara.
Wollen alle diese Flüchtlinge zurück in die Westsahara?
Ja, natürlich wollen die Menschen, wenn es ihnen möglich ist, wieder in ihre Heimat zurückkehren. Im Rahmen der Rückführung der Flüchtlinge führt das UNHCR zur Zeit eine Befragung in den Flüchtlingslagern durch, um festzustellen, in welche Orte die Menschen zurück wollen. Denn das Referendum soll in der Westsahara durchgeführt werden, nachdem die Flüchtlinge dorthin zurückgekehrt sind; in den Lagern wird man nicht abstimmen können. Früher wollten alle an den Ort zurück, aus dem sie kamen. Aber jetzt haben sie am Beispiel Ost-Timor gesehen, daß die UN keine wirkliche Macht hat, ihre Sicherheit zu garantieren, und sie haben Angst. Sie erklären sich jetzt bereit zu einer Rückkehr in die Westsahara, aber nur in die befreiten Gebiete, und nicht in die von Marokko besetzten.
Die Ereignisse in Ost-Timor haben das Vertrauen der Sahraui in die UN untergraben?
Allerdings. Die Sahraui sagen, die UN kommen nicht, um die Leute zu schützen, sondern um die Toten zu beerdigen. Ein französischer Journalist hat aus der Westsahara berichtet, daß marokkanische Siedler mit Zustimmung der Polizei im September eine Demonstration von Sahraui mit Messern und Steinen angegriffen haben, und dies in einem Gebiet, das normalerweise unter der Oberhoheit der UN steht.
Immerhin sollen mehrere dieser Marokkaner vor kurzem zu hohen Haftstrafen verurteilt worden sein.
Das habe ich auch gehört. Das ist ein erfreulicher Schritt. Aber man darf nicht vergessen, daß die marokkanischen Behörden den Vorfall zunächst geleugnet haben. Wir haben Zweifel an den Gründen des Urteils und daran, daß wirklich die Verantwortlichen verurteilt worden sind. Deshalb verlangen wir, daß eine internationale Kommission die Vorgänge untersucht.
Muß Marokko, wenn die Westsahara unabhängig wird, diese besetzten Gebiete räumen?
Natürlich muß Marokko sich nach der Unabhängigkeit aus der Westsahara zurückziehen. Das Problem stellt sich jedoch schon vor und während des Referendums. Gemäß dem UN-Friedensplan können die Marokkaner während des Referendums bis zu 65.000 Soldaten dort stationiert haben, das entspricht in etwa der Zahl der Abstimmungsberechtigten. Dazu kommen Verwaltungsmitarbeiter, Polizisten und so weiter. Die UN-Mission dagegen soll einschließlich des zivilen Personals weniger als 3000 Mann umfassen. Was können diese in einem Territorium, das so groß ist wie Westdeutschland, gegen die Marokkaner unternehmen? Deshalb hoffen wir auf viele unabhängige Beobachter, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Referendums zu garantieren.
Und nach dem Referendum? Müßten im Falle der Unabhängigkeit die Marokkaner, die jetzt in der Westsahara leben, zurück nach Marokko, oder sollen sie bleiben dürfen?
Es gibt dort Platz für viele, und wir sind sehr pragmatisch. Natürlich müssen die marokkanische Verwaltung und ihre Angehörigen das Land verlassen. Auf der anderen Seite sind wir bereit, mit der marokkanischen Führung über eine bilaterale Lösung für jene marokkanischen Bürger zu verhandeln, die bereits seit Jahren im Land leben und integriert sind.
Wäre ein unabhängiger Staat Westsahara wirtschaftlich lebensfähig?
Natürlich. Der Grund unserer Probleme ist unser Reichtum. Wenn der nicht wäre, hätte Marokko nicht seine Armee geschickt und seit mehr als 25 Jahren versucht, das Land zu besetzen.
Sie spielen auf die Bodenschätze an. Insbesondere die Phosphatvorkommen wären die bei weitem wichtigste Einnahmequelle einer unabhängigen Westsahara. Welchen Kompromiß mit Marokko können Sie sich da vorstellen?
Wir können hier nicht von einem Kompromiß reden, sondern wir streben gute wirtschaftliche Beziehungen mit Marokko als einem unserer Nachbarn an. Zum Beispiel können wir uns eine Zusammenarbeit im Bereich der Phosphatförderung vorstellen.
Das heißt, marokkanische Firmen sollen Lizenzen zum Abbau der Rohstoffe bekommen?
Warum nicht? Das ist gute Nachbarschaft. Wenn man an die Zukunft denkt, können die Marokkaner im Frieden viel mehr gewinnen als im Krieg. Deshalb halten wir trotz aller Schwierigkeiten am Friedensplan fest. Das einzige, über das man auf keinen Fall diskutieren kann, ist unsere Souveränität, unsere Freiheit.
Aber gegenwärtig sind die Sahraui weitgehend von humanitärer Hilfe abhängig?
Es stimmt, wir haben keine eigene wirtschaftliche Grundlage in den Flüchtlingslagern. Wir haben jedoch schon seit langem daran gearbeitet, es nicht bei dieser Abhängigkeit zu belassen, sondern alles zu tun, um uns wieder auf die eigenen Füße stellen zu können. Deshalb bilden wir schon jetzt auch Menschen in Berufen aus, die wir erst brauchen, wenn die Westsahara unabhängig ist.
Kommen denn alle, die im Ausland eine qualifizierte Ausbildung erhalten haben, auch zurück, oder bleiben viele im Ausland?
Zum Glück kommen praktisch alle zurück. Viele von ihnen können zwar jetzt nicht ihren erlernten Beruf ausüben, unterrichten jedoch zum Beispiel in den Lagern oder arbeiten in verwandten Bereichen, bis die Unabhängigkeit erreicht ist.
Aber wenn die Verzögerungstaktik der Marokkaner weiter aufgeht, besteht dann nicht die Gefahr, daß die Sahraui in den Lagern die Hoffnung auf einen unabhängigen Staat aufgeben und andere Auswege suchen?
Ganz im Gegenteil. Wenn es den Marokkanern gelingt, den Prozeß weiter zu blockieren und die Sahraui das Vertrauen zur internationalen Gemeinschaft verlieren, dann werden sie wieder zu den Waffen greifen. Und das wäre die schlimmste mögliche Entwicklung. Schon jetzt ist es sehr schwierig geworden, den sahrauischen Kämpfern noch zu vermitteln, daß der diplomatische Weg der richtige ist.
Wieviele Kämpfer hat die POLISARIO?
Ungefähr 12.000 bis 13.000 in den befreiten Gebieten der Westsahara. Sie stehen dort den Marokkanern gegenüber, an der Mauer, die Marokko um die besetzten Gebiete gebaut hat. Als wir vor neun Jahren den Waffenstillstand akzeptierten, dachten wir, in einigen Monaten sei der Friedensprozeß beendet. Leider ist dieses Ziel immer noch nicht erreicht. Aus diesem Grund ist die Bereitschaft der Kämpfer, wieder zu den Waffen zu greifen, immer mehr gestiegen. Krieg wird aber keine Lösung bringen. Wir wollten damit ursprünglich nur Marokko an den Verhandlungstisch zwingen. Warum sollen noch einmal Tausende sterben, nur damit am Ende wieder verhandelt wird?
Bisher scheint es, daß den meisten Staaten die Westsahara nicht wichtig genug ist, um dafür einen Konflikt mit Marokko zu riskieren. Die Aussichten für die Unabhängigkeit wären dann nicht gut. Ist trotzdem für die POLISARIO eine Zwischenlösung unterhalb der Unabhängigkeit, etwa eine Konföderation, ausgeschlossen?
Ja. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum wir auf unser Selbstbestimmungsrecht verzichten sollen, nur weil wir ein kleines Volk sind oder weil wir arm sind. Eine Konföderation oder eine Autonomie wird für uns nie in Frage kommen. Und ich denke, das gilt auch für die Marokkaner. Zumindest offiziell sagen sie: Entweder - oder, schwarz oder weiß.
Befürchtet die POLISARIO, daß sie ihren Kämpfern eine Zwischenlösung nicht vermitteln könnte?
Das ist nicht das Problem. Nicht nur die Kämpfer sind gegen solche Zwischenlösungen, sondern die überwältigende Mehrheit der Sahraui. Sie sagen: Wir haben die Waffen nicht niedergelegt, weil wir militärisch besiegt waren, sondern im Gegenteil weil uns mit dem Friedensplan garantiert wurde, daß unser politisches Ziel erreicht war. Die Marokkaner dagegen waren militärisch in Bedrängnis und an dem Waffenstillstand als solchem interessiert. Sobald sie dieses Ziel erreicht hatten, haben sie den Prozeß blockiert. Wenn die UN nun uns gegenüber nicht Wort halten, greifen wir wieder zu den Waffen. Auch wenn der Krieg keine Lösung ist. Aber wenn man uns keine andere Wahl läßt, können wir einen Guerillakrieg führen, auch in Marokko selbst, und damit den Marokkanern große Probleme bereiten.
aus: der überblick 04/1999, Seite 67