Die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko dienen als Brücken für die Einwanderung nach Europa
Sie verlassen sinkende Schiffe, kriechen durch Abwasserrohre und leben im Dunkeln. Nicht von Ratten ist die Rede, wir sprechen von Menschen. Sie versuchen, von Afrika aus über die spanische Grenze nach Europa zu gelangen. Sie stammen aus Nordafrika - vor allem aus Algerien und Marokko - und aus Westafrika, vorwiegend aus Gambia, Ghana, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Nigeria und Sierra Leone. Manche sind auch aus dem Nahen Osten geflohen. Der Weg über die zwei spanischen Enklaven an der marokkanischen Küste, Ceuta und Melilla, verheißt den leichtesten Eintritt in die Festung Europa.
von Sylvia Hottinger
Der spanischen Polizei zufolge gibt es bereits zwischen 200.000 und 300.000 illegale Einwanderer in Spanien. Die Büros des Roten Kreuzes in Ceuta und Melilla berichten, daß im Durchschnitt pro Woche vierzig Nordafrikaner und zehn aus Schwarzafrika oder Irak in diesen Enklaven eintreffen. Während des vergangenen Sommers jedoch sind die Durchschnittszahlen weiter angestiegen. Allein im August waren es 1123. Die Wohnheime und Lager, in denen die Einwanderungs-Anwärter untergebracht werden, bis sie ihre Papiere erhalten, sind überfüllt. Das Rote Kreuz in Melilla berichtet von 400 Einwanderern, zumeist Algeriern, die in einem Wohnheim für maximal 300 Menschen leben müssen.
Schnell hatte es sich herumgesprochen: Wenn du es erst einmal über die Grenze geschafft hast, versteckst du deine Papiere und gibst ein falsches Herkunftsland an. Du gehst direkt zur Polizeistation in Ceuta und erklärst, du seist ein "Wirtschaftsflüchtling". Du wirst Geld brauchen, weil du nicht arbeiten darfst. Sie geben dir zu essen und medizinische Versorgung, während du wartest. Nach fünf Monaten schicken sie dich aufs spanische Festland, mit Aufenthaltspapieren für ein Jahr. Die Einwanderungswilligen warteten also den traditionell langsamen Gang der spanischen Bürokratie ab - das aber konnte auch zwei Jahre dauern - und lebten solange in Hüttensiedlungen am Rand der Städte. 1990 begann diese neue Art von Einwanderung. Seither sieht sich die ratlose spanische Regierung außerstande, Menschen in ihre Heimat zurückzuschicken, wenn kein anderes Land sie als seine Staatsbürger anerkennt.
Angestauter Frust in den Enklaven explodierte 1995 in Aufruhr. Die Nationalpolizei zur Aufstandsbekämpfung richtete drohend ihre Gewehre auf die afrikanischen Demonstranten. Gleichzeitig griff die einheimische Bevölkerung die Afrikaner an. So mußte die Gemeindepolizei schließlich die Afrikaner gegen den Mob verteidigen. Am Ende waren alle Afrikaner verhaftet und ein Offizier der Nationalgarde hatte eine Schußwunde am Bein davongetragen. Nach diesen Ereignissen gab die Regierung strikte Order, eine zu große Ansammlung von Immigranten in den Enklaven zu verhindern. Seitdem werden die meisten schwarzafrikanischen Ankömmlinge, die auf illegalem Wege in die Enklaven kommen, mit einer einjährigen Arbeitserlaubnis, die nur für Spanien gilt, aufs Festland verschifft. Vor ihrer Abfahrt erhalten sie Adressen von Wohlfahrtsorganisationen, die ihnen Jobs im landwirtschaftlichen Sektor verschaffen, wo Arbeitskräfte fehlen. Die spanischen Autoritäten in Ceuta und Melilla geben 150 bis 250 Arbeitsgenehmigungen für Spanien pro Woche aus, um die Lager zu entlasten.
Für die Nordafrikaner, deren Herkunft leichter zu klären ist, gilt diese Verfahrensweise jedoch nicht. Die ständigen Versuche einer großen Anzahl von Marokkanern, illegal nach Spanien zu gelangen, haben ihre Ursache in den großen Einkommensunterschieden zwischen beiden Ländern. Ein Arzt verdient in Marokko 20.000 Peseten im Monat; arbeitet er aber in Spanien als Landarbeiter, bekommt er zwischen 80.000 und 100.000 Peseten (umgerechnet knapp 1.200 Mark). Die einzige Möglichkeit für einen Marokkaner, legal nach Spanien einzureisen, ist ein Touristenvisum. Obwohl der Visumsantrag schon 6500 Peseten kostet, muß man darüber hinaus ein Einkommen von mindestens 100.000 Peseten pro Monat nachweisen. Eine große Hürde vor der Erteilung des Visums ist die Willkür der Konsulatsangestellten. Sie entscheiden nach Augenschein, ob ein Antragsteller das Visum bekommt oder nicht. Im spanischen Konsulat in Rabat stellen durchschnittlich 70 bis 80 Menschen am Tag einen Visumsantrag. Sogar die Plätze in der Warteschlange werden auf dem Schwarzmarkt gehandelt: Der Preis für einen guten Platz in der Schlange bewegt sich zwischen 2500 und 5000 Peseten, zwischen 30 und 60 Mark.
Andere Nordafrikaner wie die Algerier, deren Land sich quasi im Bürgerkrieg befindet, beantragen Asyl, haben aber nur selten Erfolg damit. Spanien gewährt nur vier Prozent der Antragstellenden politisches Asyl. "Ich warte jetzt seit neun Monaten auf meine Papiere", erzählt Rahid, ein ehemaliger Reiseführer aus Algerien. "Ich lebe im Wald, weil im Wohnheim kein Platz mehr ist. Ich kann nicht in mein Land zurückgehen - sie sagen, ich wäre ein schlechter Moslem. Und es gibt auch keinen Tourismus mehr. Politik und Religion sind schlecht, sehr schlecht."
Im November 1998 und im Mai 1999 sind algerische Asylbewerber in Melilla in den Hungerstreik getreten, um die spanische Regierung zu zwingen, die Verwaltungsabläufe zu beschleunigen und ihre Politik zu ändern. Einer von ihnen, der später abgeschoben wurde, ist dann bei einem Massaker in Algerien getötet worden. Anfang August brannte das vom Roten Kreuz geführte Wohnheim La Granja ab. 300 Asylbewerber, vor allem Algerier, warteten dort auf ihre Abschiebung oder ihre Einreise nach Spanien. Sieben Algerier wurden verhaftet. Der Schaden beläuft sich auf schätzungsweise 20 Millionen Peseten. Die Behörden behaupten, das Feuer sei gelegt worden, nachdem einer der Sicherheitsmänner grob gegen einen Asylbewerber vorgegangen war. Ein Heimbewohner sieht einen tiefergehenden Anlaß: "Die Afrikaner müssen nur zwanzig Tage hierbleiben, bis sie ihre Papiere bekommen und aufs Festland gebracht werden. Wir Araber müssen mindestens drei Monate hier warten".
Seit Spanien die Arbeitserlaubnis für ein Jahr eingeführt hat, machen sich nicht einmal mehr frühere Soldaten aus dem Irak, die Asyl bekommen würden, die Mühe, einen Asylantrag zu stellen. "Was mit denen geschieht, die zurückgeschickt werden, ist nicht mehr unser Problem", sagt ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Melilla. Bei Einwanderern aus Zentral- und Westafrika macht dessen Pressesprecher in Ceuta feine Unterscheidungen: "Die Französischsprachigen sind zuvorkommender, höflicher... wie richtige Einwanderer eben! Die Nigerianer dagegen sind offensichtlich wohlhabend, ungeduldig und verfügen über die Mittel, um gut zu leben, während sie auf ihre Papiere warten." Der Presseattaché der Regierung, Roberto Franca, betont, daß es seit Anfang diesen Jahres große ökonomische und soziale Veränderungen unter der afrikanischen Bevölkerung in den Lagern gegeben habe: "Sie sind reicher. Sie kommen mit Samsonite-Koffern und Handys. Manche kommen mit 20.000 bis 30.000 US-Dollars ins Land." Der Drogenbesitz nehme ebenfalls zu. Er berichtet von 66 Kilo Haschisch, die 1998 im Lager Calamocarro beschlagnahmt wurden.
In den Enklaven gibt es drei verschiedene Polizeikräfte: die spanische Guardia Civil, einschließlich Grenz- und Küstenpolizei, die sich um Schmuggel und Grenzkontrollen kümmert; die Nationalpolizei mit ihren Aufstandsbekämpfungseinheiten und schließlich die lokale Polizei. Dazu kommt die Armee, deren Rolle von der reinen Aufsichtspflicht bis zum Ausliefern von Mahlzeiten an die Einwanderungswilligen reicht. "Morgens versuchst du, sie aus dem Land fernzuhalten, und mittags gibst du ihnen zu essen", äußert sich ein 23jähriger Soldat dazu. Falls jemand bei der illegalen Einreise nach Spanien erwischt wird, übergibt ihn die Guardia Civil den marokkanischen Grenzwächtern. "Sie stellen dich in Tetuan vor Gericht und werfen dich für ein paar Monate ins Gefängnis. Dann setzen sie dich an der algerischen Grenze aus, und du mußt von vorne anfangen", erklärt der 40jährige Lamin, ein Fischer aus Gambia.
Bis sie Spanien erreichen, benutzen fast alle Einwanderer die gleichen Methoden, um illegal ins Land zu kommen. Sie gehen nach Marokko, wo sie Kontakt mit sogenannten Führern aufnehmen können, die ihnen - so hat man ihnen gesagt - den Weg zeigen werden, wo man gut über die Grenze kommt. "Mein Führer ließ mich gestrandet in der Wildnis zurück", erzählt der Fischer weiter. "Er nahm unser Geld und unser Essen mit. Wir waren vier, und wir irrten zwei Tage in den Bergen umher. Dem Führer hatte unsere Gruppe schon 50.000 Dirham (gut 9.400 DM) bezahlt. Ich habe dann einen Freund gebeten, mir Geld aus Spanien nach Marokko zu schicken." Er war von Gambia nach Mali gekommen, dann drei Tage zu Fuß gegangen, bis er einen Zug erreicht hatte, der ihn nach Tetuan brachte. "Beim zweiten Mal waren wir neun, hatten einen anderen Führer und sind über die Grenze gekommen."
"Einige Frauen fragen nach Abtreibungsmöglichkeiten. Sie sagen, sie seien in Marokko vergewaltigt worden", berichtet Pilar, die beim Roten Kreuz für Gesundheit und Ernährung zuständig ist. "Vor kurzem hat mir einer von der spanischen Guardia Civil erzählt, wie schrecklich es war, von der anderen Seite des Zaunes die Schreie der vergewaltigten Frauen zu hören", wirft eine Rotkreuz-Freiwillige ein. "Die marokkanischen Wächter tun das", meint sie. "Nein, nicht die Wächter", korrigiert Lamin, der Fischer, "die Führer. Sie trennen von Beginn der Reise an die Frauen von den Männern." Zwangsläufig fragt man sich, was geschieht, wenn die am Zaun abgefangenen Frauen zu den Marokkanern zurückgeschickt werden. "Viele erzählen mir, ihre Menstruation wäre diesmal besonders stark. Dann haben sie aber auf der Krankenstation eine Abtreibung! Ich frage mich, was sie nehmen, vielleicht Kräuter...", denkt eine Rotkreuzschwester laut vor sich hin. Später korrigiert Lamin erneut: "Pillen - sie haben Pillen".
Wer sich keinen Führer leisten kann, muß es auf eigene Faust versuchen. Der Weg geht über die Berge, wo die Einwanderungswilligen versuchen, den doppelten Zaun zu überwinden, der Spanien von Marokko trennt. Die Grenze von 1862 bildet ein Streifen mit einer Fläche von zehn Quadratkilometern. Zwischen den beiden Zäunen befindet sich eine seit einigen Monaten von Flutlicht erleuchtete Straße. Wachposten patrouillieren an der Außen- und der Innenseite des Zauns. Der Zaun ist zweieinhalb Meter hoch und schlängelt sich an den Bergen entlang. Die Flüchtlinge versuchen oft, den Nebel am Nachmittag zu nutzen, um den Zaun zu überwinden. Viele schaffen das binnen sieben Sekunden. "Dies ist die Grenze des Hungers, und Hunger ist ein sehr schlechter Reisegenosse", sagt Captain Rebollo von der Guardia Civil, der jede Nacht durchschnittlich 17 Einwanderer aufgreift.
Zwei Afrikaner sitzen am Zaun auf dem Boden. Die Spanier von der Guardia Civil stehen um ihr Auto herum. Einer spricht ins Funkgerät. "Diese beiden sind gerade geschnappt worden. Wir warten auf die marokkanischen Grenzposten, um sie ihnen zu übergeben", erklärt Captain Rebollo und ergänzt: "Die Kameras arbeiten noch nicht." Ein neuer Zaun wird gerade gebaut. Er sieht aus wie der alte - nur daß er auf der marokkanischen Seite von oben bis unten Stacheldrahtschleifen hat. "Dieser Draht ist kein richtiger Stacheldraht. Wenn Sie genauer hinsehen, ist es mehr wie kleine Messer. Wir installieren auch Sensoren auf dem Zaun." Die Krankenstation des Roten Kreuzes berichtet, daß in der ersten Oktoberwoche von 391 Patienten 158 Wunden an den Füßen hatten, 35 an den Händen und 21 an den Beinen. Sie hatten sich vermutlich beim Überklettern des Zauns verletzt. Das Rote Kreuz verarztete unter anderen 82 Menschen aus Mali, 53 aus Guinea-Bissau und 68 Nigerianer. Diese Zahlen zeigen, wieviel Glück die beiden Mädchen hatten, die im August und September über den Zaun geworfen wurden und unverletzt blieben. Die erste wurde am Fuß der spanischen Zaunseite gefunden. Jemand hatte sie hinübergeworfen, mit einem Zettel in der Tasche, auf dem die Telefonnummer ihres Vaters in Spanien stand. Sie war vier Jahre alt und kam aus dem Kongo. Einige Wochen später wurde noch ein kleines Mädchen hinübergeworfen. Die Kinder wurden versorgt und schließlich zu ihren Verwandten gebracht.
"Wir sind nachts in einem Tunnel unter der Grenze hindurchgekrochen", erzählt Lamin. Er muß wohl die Abwasserrohre meinen, die die Enklave mit Marokko verbinden. Sie werden oft als Tunnel benutzt und deshalb ständig mit Stahlgittern verbarrikadiert. "Zwecklos", seufzt Captain Rebollo. "Die schneiden sie immer wieder durch." Vor allem marokkanische Kinder kommen auf diesem Weg. Für diese wurde das Gesetz geändert. Nach lauten Protesten von Hilfsorganisationen schiebt die spanische Polizei nun keine marokkanischen Kinder mehr über die Grenze ab. Statt dessen werden sie in Wohnheimen der Wohlfahrtsverbände untergebracht, wo man ihnen hilft, sich einzugewöhnen, Papiere zu bekommen und einen Job zu finden. Trotzdem berichten die Gewerkschaften diesen Monat, daß in den Straßen von Madrid über 500 marokkanische Kinder als Prostituierte arbeiten.
Die Hilfsorganisationen schätzen, daß seit 1990 über 3000 Menschen umgekommen sind, als sie versuchten, auf dem Seeweg über die Straße von Gibraltar nach Spanien zu gelangen. Sie fahren üblicherweise mit kleinen Kähnen, mit Fischerbooten, Gummibooten und Flößen. Die Überfahrt kann 45 Minuten, aber auch zwei Stunden dauern. Immer mehr behelfsmäßig zusammengeflickte Boote - pateras genannt - werden eingesetzt. Mittlerweile haben sie sogar eine geradezu standardisierte Form und Farbe: Sie sind rechteckig aus dünnem Holz gezimmert und graublau angemalt, so daß sie von weitem wie Felsen aussehen, wenn sie an den Stränden in der Sonne trocknen. Auf See passen sie sich dem Hintergrund an. Viele spanische und marokkanische Rauschgiftschmuggler sind inzwischen in das Schleuser-Geschäft eingestiegen, das auf den gleichen Routen abläuft, aber weniger gefährlich ist. Die meisten gefaßten Drogenkuriere geben an, daß sie kleine Mengen Haschisch als "Geldanlage" mitbrächten, um es in Spanien einzutauschen. Eine andere Neuerung ist, daß Marokkaner etwas Haschisch mitbringen, damit sie nicht sofort nach Marokko abgeschoben werden, falls sie erwischt werden. Sie wissen mittlerweile, daß die Justiz so langsam arbeitet, daß sie einige Monate in Spanien bleiben können, bis sie verurteilt werden.
Die wirklichen Gefahren einer solchen Reise sind allerdings die tückische Strömung und größere Schiffe, die unabsichtlich die kleinen Boote zum Kentern bringen. So ein Unfall hat im August den Tod von 38 Einwanderern verursacht. Die ertrunkenen Menschen wurden an den Küsten von Spanien und Marokko angeschwemmt. Pateras sind so leicht und zerbrechlich, daß sie besonders bei stürmischem Wetter höchst unsicher sind. Im September hatten die Insassen eines patera, das 28 Marokkaner beförderte, die spanische Polizei per Handy um Hilfe gebeten. Ihr Motor war ausgefallen und sie fürchteten, in einem Sturm unterzugehen. Dank der Instruktionen, die sie der Polizei in gebrochenem Spanisch geben konnten, wurden sie gerettet. Nach einer Behandlung wegen Unterkühlung schickte man sie dann zurück nach Marokko. "Wir werden es wieder versuchen", war ihr Kommentar gegenüber der Presse.
Daran besteht kein Zweifel, aber es wird viel Geld kosten und der Anfang einer langen Reise in die Illegalität sein. Die Transportkosten werden immer teurer, weil die spanische Polizei die pateras beschlagnahmt und verbrennt. Ein patera wird von einem Schlepper für eineinhalb Millionen Peseten verliehen, gewöhnlich an einen anderen Schlepper. Eine halbe Million Pfand wird bei Rückgabe des Bootes erstattet. Diejenigen, die die pateras mieten, verlangen 250.000 bis 300.000 Peseten (2.900 bis 3.500 DM) pro Person für die Überfahrt. Die Anzahl der Passagiere liegt zwischen acht und 30.
Nafred, ein kräftiger marokkanischer Seemann im Alter von 35 Jahren, rühmt sich: "Ich bin ein Profi. Ich setze die Leute wirklich an der spanischen Küste ab, nicht wie die anderen, die im Kreis fahren und ihnen erzählen, sie seien in Algeciras, wo sie doch in Wirklichkeit immer noch in Marokko sind. Ich fahre nicht gerne im Sommer, da wird zuviel kontrolliert. Im Winter ist es leichter. Jede Überfahrt handele ich mit dem marokkanischen Militär aus. Ich spreche mit einem Sergeanten und der verteilt das Geld unter seinen Soldaten. Wir geben ihnen gewöhnlich 30.000 Dirhams (knapp 5.700 DM), damit sie wegschauen. Manchmal müssen wir sogar einen Verwandten eines Soldaten mitnehmen. Die spanische Küstenwache müssen wir auch bezahlen, und das ist teuer", fügt er hinzu, "zwischen 15.000 und 40.000 Peseten (180 bis 470 DM) pro Passagier." Er macht im Mittel fünf solcher Reisen pro Jahr und behauptet, niemals Drogen zu schmuggeln. "Es ist zu gefährlich", sagt er. Nafred gibt an, daß jeden Monat mindestens 10 Flüchtlingsboote von der Küste bei Tanger ablegen, jedes mit etwa 30 Menschen beladen. Das bedeutet jeden Monat 300 Menschen, die ihr Leben riskieren, um nach Spanien zu kommen.
Wenn Marokkaner in eine der Enklaven-Städte geschmuggelt werden, müssen sie auch für Unterkunft und Essen bezahlen. Viele Schlepper ziehen deshalb den Aufenthalt der Einwanderungswilligen unnötig in die Länge. Bis sie das ersehnte patera besteigen können, sind sie zu zwanzig bis dreißig Leuten in schäbigen Zimmern untergebracht und bezahlen dafür bis zu 500 Peseten (knapp 6 DM) am Tag. Wenn sie sich entscheiden, in Spanien zu bleiben, haben die meisten zunächst nur die Möglichkeit, als illegale Landarbeiter in stickiger Luft unter Plastikplanen zu schuften. Solch ein illegaler Arbeiter verdient 600 Peseten (7,50 DM) pro Stunde. Man verlangt von ihnen Wucherpreise für miserable Unterkünfte in Barackensiedlungen: 40.000 Peseten (470 DM) im Monat, ohne Wasser, Strom oder Telefon. Sie werden versuchen, Papiere zu kaufen, die ihnen einen legalen Aufenthalt ermöglichen. Falsche Papiere oder Scheinehen kosten zwischen 200.000 und 500.000 Peseten (2.350 bis 5.880 DM).
Die Einreisemöglichkeit mit dem geringsten Risiko ist anscheinend, sich in einem Lastwagen oder einem anderen Fahrzeug zu verstecken. Seit die Spanier jedoch die Fahrer wegen Verletzung der Arbeitsgesetzgebung bestrafen, sind diese zurückhaltend geworden, jemanden über die Grenze zu schmuggeln. Dem Einwanderer wird ein Lastwagen gezeigt, in dem er sich zu verstecken hat. Die versiegelte Plane wird sogar - im Austausch gegen 80.000 Peseten (940 DM) - für ihn und seine Gefährten an einer unauffälligen Stelle aufgeschnitten und hinterher wieder zugenäht.
Die meisten Schwarzafrikaner erzählen, daß sie als der älteste Sohn eine große Familie ernähren müssen. "Es gibt in Nigeria keine Infrastruktur, die das Überleben sichert", erklärt Togola (40), ein Labortechniker. "Ich bin seit einem Monat hier, weil ich meine Frau und meine Kinder ernähren muß. In meinem Land kann man keinen Wohlstand erwerben. Ich muß für meine Kinder sorgen, und nicht einmal Angestellte im öffentlichen Dienst erhalten Pensionen oder verdienen genug Geld zum Leben." Lamin berichtet: "Als meine Eltern starben, mußte ich das Studium aufgeben, in dem ich erfolgreich war. Dann arbeitete ich für eine spanische Fischereigesellschaft. Ich bin bis nach Panama gekommen. Aber als die Firma geschlossen wurde, hatte ich keine Arbeit mehr, konnte meinen Kindern nichts mehr zu essen geben. In Spanien habe ich Freunde, die mir Arbeit in Bilbao versprochen haben." Hamid, ein 23jähriger Liberianer, fragt halb scherzhaft zurück: "Warum ich hierher gekommen bin? Weil ich essen will. Weil meine Kinder essen wollen. Sie sollen Arzneimittel haben, wenn sie krank sind. Wie jeder andere. So wie ihr." Keiner von ihnen erwähnt den Bürgerkrieg in seinem Land.
Inzwischen hat die EU mehr als 426 Millionen Peseten für den Bau eines Übergangswohnheims bereitgestellt, das das Calamocarro-Lager in Ceuta ersetzen soll. Es wird ein Sportzentrum und einen Freizeitbereich haben, aber nur 448 Einwanderungswillige aufnehmen können. Zur Zeit warten über 2000 Menschen auf ihre Ein-Jahres-Arbeitserlaubnis. "Wir wußten alle: jetzt oder nie. Wenn sie das Lager erst einmal schließen, wird niemand mehr reinkommen", sagt Lamin.
aus: der überblick 04/1999, Seite 21
AUTOR(EN):
Sylvia Hottinger:
Sylvia Hottinger ist Linguistin. Ihre Spezialgebiete als Autorin sind Spanien und soziale Fragen. Zur Zeit arbeitet sie als Doktorantin in Geschichte an der Universität Carlos III in Madrid.