Die Gelder der Enwicklungszusammenarbeit würden nie ausreichen, um die Armut im nördlichen Afrika zu beseitigen. Das sei nur möglich, wenn dort das Wirtschaftswachstum zunehme, so Robert van der Meulen, der Leiter der Abteilung Maghreb (Libyen, Tunesien, Marokko und Algerien) in der EU-Kommission. Die Europäische Union will aber dazu beitragen, indem sie zum Beispiel kleine und mittlere Firmen unterstützt, ihre Produktionsanlagen zu modernisieren.
Interview mit Robert van der Meulen
Die Fragen stellte JÜRGEN DUENBOSTEL
Vor fast fünf Jahren wollte die Barcelona-Konferenz erreichen, daß sich alle Länder der Europäischen Union und nicht nur die südlichen EU-Staaten mit dem Maghreb und den anderen Ländern südlich des Mittelmeers befassen. Glauben Sie, daß sich der Norden der EU heute genug um die Beziehungen zu den Staaten dieser Region kümmert?
Wir können uns natürlich nie genug um unsere Partner des südlichen Mittelmeers kümmern. Aber ich glaube, daß seit der Barcelona-Konferenz das Interesse der nördlichen Staaten an diesen Ländern gewachsen ist. Der Norden hat verstanden, daß er von den Beziehungen zu den Ländern des südlichen Mittelmeers genauso berührt ist wie die Staaten im Süden der EU. Der gemeinsame Markt, der freie Zugang zum gesamten europäischen Arbeitsmarkt von Berechtigten innerhalb der EU und das Interesse, in den Maghreb zu exportieren, betreffen alle gleichermaßen. Unbestreitbar haben die europäischen Mittelmeerländer seit langen Jahren traditionelle Bande mit den Maghreb-Ländern, aber die nördlichen Länder interessieren sich jetzt auch mehr und mehr für den Süden.
Sie betonen Vernunftgründe für engere Beziehungen zum Süden. Aber ist die Bevölkerung des Nordens auch mit ihrem Herzen beteiligt?
Auch mit dem Herzen. Schauen Sie Ihr Land an oder die Niederlande oder Großbritannien: Es leben mehr und mehr Menschen aus den Ländern des Mittelmeers unter uns. Die gehen in die Millionen. Mehr und mehr von der Kultur aus diesen Ländern fließt auch in unsere Kulturen ein, was früher eher für Italien, Frankreich oder Spanien galt. Die Probleme im Süden des Mittelmeers berühren uns auch - das Herz und den Verstand: Sind wir an Menschenrechtsfragen interessiert? Ja, das sind wir! An Demokratie in diesen Ländern? Ja, ebenfalls. Sind wir an strategischen Sicherheitsfragen in der Mittelmeerregion interessiert? Ja, ich meine, wir sind. Man muß nur an den Balkan erinnern. Diese Fragen sind uns genauso eine Herzensangelegenheit wie den Italienern oder Spaniern.
Sie haben das Stichwort Arbeitsmarkt genannt. Das Einkommen eines Spaniers ist im Durchschnitt rund zehnmal so hoch wie das eines Marokkaners; ein Italiener verdient im Durchschnitt das Zehnfache eines Tunesiers. Wird dadurch nicht die illegale Einwanderung zum beherrschenden politischen Thema und zur Belastung für die Beziehungen zu Nordafrika?
Lassen Sie mich noch einmal das Stichwort Herzensangelegenheit aufgreifen. Ich meine, daß wir es nicht zulassen sollten, in einer Welt zu leben, wo es Einkommensunterschiede von eins zu zehn und größer gibt - ganz abgesehen von dem möglichen Einwanderungsproblem infolge des Einkommensunterschieds. Wenn wir erhebliche finanzielle Mittel für die Zusammenarbeit mit den Maghreb-Ländern aufwenden, dann nicht nur, um den Einwandererstrom abzuwenden. Das wäre für mich eine engstirnige und nicht zu akzeptierende Denkweise. Wir gehen in diese Länder, weil wir etwas zur Beseitigung der Armut tun wollen, weil wir meinen, daß die Einkommensverteilung gerechter sein soll. Das sollte die Herzensangelegenheit bei Entwicklungshilfe überall in der Welt sein, nicht nur gegenüber den Mittelmeeranrainern.
Ist das nicht eine unlösbare Aufgabe angesichts der geringen Summen, die gegenwärtig für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stehen? Schließlich wird sich die Bevölkerung in Nordafrika in den nächsten 25 bis 35 Jahren verdoppeln, während weit weniger neue Arbeitsplätze entstehen.
Richtig. Was immer wir in der Entwicklungszusammenarbeit tun, es wird nie genug sein. Und da kommen wir zum Kern dessen, was der mit der Konferenz von Barcelona begonnene Prozeß zu schaffen versucht, und was wir auch mit den Assoziierungsabkommen mit den Mittelmeerländern versuchen. Wir sagen diesen Ländern sinngemäß: Was immer die Weltbank, die EU, der Internationale Währungsfonds oder die Amerikaner euch geben, wird nie genug sein, den Trend zu einer immer ungleicheren Einkommensverteilung umzukehren. Der einzige Weg, die Armut zu beseitigen, ist, daß ihr das Wirtschaftswachstum anregt. Dabei werden wir euch mit Programmen für den Privatsektor unterstützen; wir werden euch für den sozialen Fortschritt mit Programmen beispielsweise für die Berufsausbildung unterstützen. So werden wir helfen, die Rate des Wirtschaftswachstums in diesen Ländern zu erhöhen.
Die Assoziierungsabkommen sehen vor, daß bis zum Jahr 2010 eine Freihandelszone verwirklicht wird. Dann werden hochproduktive europäische Unternehmen zollfrei in den Maghreb exportieren können. Werden die dort bisher durch Zölle geschützten Kleinproduzenten dann noch konkurrenzfähig sein? Wird dann nicht die Arbeitslosigkeit noch steigen, weil viele von ihnen pleite gehen?
Das ist eine korrekte Analyse, aber nur bei einer statischen Betrachtungsweise. Aber lassen Sie mich zunächst auf folgendes hinweisen: Ja, es wird Exporte in diese Länder geben, aber nicht, weil sie von großer Bedeutung für die europäischen Firmen sind. Realistisch muß man sagen, daß die Ausfuhr von Europa in den Maghreb nicht gerade hoch ist. Was den Export betrifft, gibt es für Europa weit interessantere Regionen in der Welt, etwa Asien, das wirtschaftlich wieder gesundet, die USA oder Japan. Aber kommen wir zur Dynamik des Barcelona-Prozesses: Was wir den Ländern des südlichen Mittelmeers anzubieten versuchen, ist die schrittweise Abschaffung von Zöllen. Dazu ist eine extrem lange Zeit nötig. Zunächst zwei Jahre Ratifizierungszeit, in der sich die Länder vorbereiten können. Dann kommt eine Übergangsperiode von zwölf Jahren. Wir reden also über zwölf bis vierzehn Jahre, in denen anfangs die Zölle nur für Kapitalgüter, also für Maschinen, für Produktionsmittel sinken. Und erst am Ende sind die Märkte der kleinen und mittleren Firmen betroffen. Aber während der langen Phase, in der Produktionsmittel zollfrei oder für niedrige Zölle importiert werden können, werden wir diese kleinen und mittleren Firmen unterstützen, ihre Anlagen zu modernisieren und die Qualität ihrer Produkte zu verbessern. Erst nachdem dies für sechs bis acht Jahre stattgefunden hat, werden die Zölle für Waren gesenkt, die eine Konkurrenz für den Absatz dieser Betriebe bedeuten können. In der Tat setzen wir sie der Konkurrenz aus. Wir glauben nämlich, daß sie ein Qualitätsniveau erreichen müssen, das sie in die Lage versetzt, auch auf europäische Märkte zu exportieren.
Die landwirtschaftlichen Exporte zumindest von Marokko und Tunesien wären heute schon konkurrenzfähig. Aber sie werden nicht in den Freihandel einbezogen. Wäre es nicht fair, auch dafür Freihandel zuzulassen und den Maghreb-Staaten so die Chance zu geben, das Geld für die Modernisierung ihrer Industrie zu verdienen?
Ja, diese Argumentation stimmt völlig überein mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), die festgelegt hat, daß eine Freihandelszone die große Mehrheit der Handelsprodukte einschließen muß. Das ist die Definition; und wir halten uns an diese Definition. Eine Tatsache ist, daß die EU schon Zugeständnisse für die wichtigsten Produkte dieser Länder gemacht hat - Tunesiens Olivenöl und Marokkos Orangen -, aber ich glaube, wir sollten weiter gehen. In den Assoziierungsabkommen mit diesen Ländern ist festgeschrieben, daß wir darüber verhandeln wollen. Mit Tunesien, das sein Abkommen schon seit einiger Zeit ratifiziert hat, werden Anfang 2000 Verhandlungen über die Liberalisierung bei Agrarerzeugnissen beginnen. Wir stimmen also völlig über das Prinzip überein. Es gibt allerdings zweifellos eine Tendenz, europäische Agrarproduzenten zu schützen. Aber wie bei allen anderen Waren müssen wir auch bei Agrarerzeugnissen weiter Importhemmnisse abbauen; so steht es auch in den Assoziierungsabkommen. Und die Verhandlungen darüber werden im Jahr 2000 beginnen.
Kommen wir noch einmal auf das Thema Demokratisierung zurück. Die Abkommen eröffnen die Möglichkeit, dezentrale politische und kulturelle Dialoge direkt mit nichtstaatlichen Organisationen (NGO) und regionalen Gruppierungen zu führen, um Anstöße zur Demokratisierung zu geben. Werden nicht insbesondere die autoritären Regierungen im Maghreb solche Dialoge abblocken, die an ihnen vorbeigehen und die sie nicht kontrollieren können?
Das ist der wohl schwierigste Teil des Barcelona-Prozesses, aber keine unmögliche Aufgabe. An Barcelona wird manchmal kritisiert, daß wir auf der regionalen Ebene viel reden und viele Seminare abhalten und dort vielleicht zu viel reden und zu wenig tun. Ich meine, daß diese Seminare teilweise genau das verwirklichen, wovon Sie sprechen: Wir sind in der Lage, NGOs oder Oppositionsgruppen aus diesen Ländern einzuladen, die mit politischen Parteien oder NGOs aus Europa diskutieren können. Zum Beispiel bieten wir Fortbildung für Journalisten - nicht nur handwerkliche Fortbildung, sondern es geht auch darum, wie man Interviews führt, was für Fragen man stellt. Da werden die Teilnehmer also im Kontakt mit unseren Journalisten einem demokratischen Klima ausgesetzt, das sie hoffentlich anregt, in ihrer Arbeit mutiger und provozierender zu sein. Das ist ein sehr langer Prozeß. Wir haben glücklicherweise dafür Finanzmittel, die wir autonom, also direkt für die Fortbildung solcher NGOs einsetzen können, ohne daß die Partner-Regierungen im Süden da hereinreden können. Ist das ein einfacher Prozeß? Nein, natürlich ist es nicht einfach, den Weg der Demokratisierung zu gehen; das wissen wir aus unserer eigenen europäischen Geschichte. Aber das ist etwas, was uns gewiß sehr viel bedeutet.
aus: der überblick 04/1999, Seite 14