GrenzeIn Bogota machen Frauen aus einem Slum ein Stadtviertel mit sozialen Diensten
María Victoria Robajo hält einen Plastikbecher mit tinto, dem süßen kolumbianischen Kaffee, in den Händen. Heute ist es kalt und regnerisch in der Hauptstadt Bogotá. Pfützen säumen die Schotterpiste vor dem Eingang zum Kiosk. Die Straße ist aufgeweicht und Lehm klebt an den Schuhen der Passanten. Hin und wieder macht jemand halt, um sich in dem kleinen Laden eine Stärkung zu genehmigen.
von Knut Henkel
Die meisten trinken agua panela, in heißem Wasser aufgelösten Rohrzucker. Das ist das billigste Getränk hier. Es treibt die Kälte aus den Gliedern und beruhigt den leeren Magen ein wenig. Eine mit Fleisch und Gemüse gefüllte Teigtasche, eine empanada, leisten sich nur wenige, sagt María Robajo, die am Tresen steht und das dampfende Zuckerwasser aus dem Heißwasseraufbereiter, einem silbernen Samowar, in Plastikbecher füllt.
Die Bewohner von Patio Bonito, dem "schönen Hinterhof", wie das im Westen Bogotás liegende Armenviertel hoffnungsvoll heißt, haben sehr wenig Geld. Die meisten sind auf der Suche nach Sicherheit und neuen Perspektiven in die kolumbianische Hauptstadt gekommen und haben sich dort angesiedelt, wo Platz war. Viertel wie Patio Bonito gibt es viele in Bogotá und beinahe täglich entstehen neue, denn der Zustrom von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsregionen des Landes hält an. Allein im letzten Jahr wurden mehr als 340.000 Kolumbianer durch den Bürgerkrieg vertrieben, so Codhes, eine Forschungseinrichtung, die die Situation der Flüchtlinge im Land beobachtet. Zwischen 2 und 3 Millionen Flüchtlinge haben sich in den letzten sieben Jahren am Rande der großen Städte des Landes angesiedelt. Barrios de invasión, Invasionsslums, werden die anfangs aus Holz, Blech und Plastikfolie zusammengezimmerten Ansammlungen von Hütten gemeinhin genannt. Patio Bonito ist schon einen Schritt weiter. Die Häuser bestehen fast ausnahmslos aus Ziegelsteinen, Strommasten säumen die breite Buckelpiste vor dem Gemeindezentrum, das den Kiosk beherbergt. Weiter nördlich sind Bagger und Planierraupen im Einsatz. "Dort wird endlich die Kanalisation gebaut, für die wir so lange gekämpft haben", erzählt María Robajo stolz.
Das "wir" steht für eine Frauenselbsthilfeorganisation, die Asociación de Mujeres del Río (Asrio), die sich seit 1994 für Verbesserungen in dem Viertel einsetzt und auch selbst mit anpackt. Das vierstöckige Gemeindehaus, das alle anderen Gebäude in Patio Bonito überragt, haben die rund 70 Frauen der Asociación eigenhändig in sechzehn Monaten Bauzeit hochgezogen. Mörtel haben sie angerührt und Stockwerk für Stockwerk hochgemauert, bis auch dem letzten Mann im Viertel das Lachen über die Frauen verging, die Männerarbeit verrichteten, erinnert sich die 43-jährige María. "Etwas Eigenes wollten wir uns schaffen und das ist uns gelungen". Für viele der Frauen war der Bau auch ein persönlicher Neuanfang in Bogotá, denn mehr als die Hälfte von ihnen sind desplazadas, so werden die Bürgerkriegsflüchtlinge in Kolumbien genannt. Zu ihnen gehört auch Rosa Elena Tice, die ihre Heimatstadt Simití im Departamento (Landesbezirk) Bolívar gemeinsam mit ihren beiden Kindern 1994 verlassen musste, weil die Kämpfe zwischen Guerilla, Paramilitärs und Armee in der Region immer heftiger wurden. "Arbeit hier in Bogotá zu finden, war schon damals ungeheuer schwer. Erst als ich die anderen Frauen kennen lernte, habe ich langsam eine neue Perspektive gesehen", erzählt die 43-Jährige. Seit der feierlichen Einweihung des Gemeindezentrums im April 1999 arbeitet sie dort gemeinsam mit 17 weiteren Frauen. Eine spanische Hilfsorganisation (Asociación Española de Solidaridad Colombia) stiftete die Baumaterialien. Fachleute von der Berufsschule für Handwerk und Bau berieten die Frauen bei Statik und Bauausführung.
Seitdem ging vom Zentrum so manche Initiative aus, um die Situation im Viertel zu verbessern. Die Kanalisation haben die engagierten Frauen mit Eingaben und Protestmärschen bei der örtlichen Verwaltung durchgesetzt. "Zwei oder drei Jahre hat das gedauert", sagt María. Viel zu lange aus der Perspektive der resoluten Frau, denn das verschmutzte Wasser wird bisher entweder in ausgehobene Abflussrinnen oder direkt vor die Tür gekippt. "Das Infektionsrisiko im Viertel ist vor allem für die Kinder wesentlich höher als in anderen Stadtbezirken Bogotás", klagt die Frau mit der schlichten Stahlbrille. Hepatitis, Keuchhusten, Haut-und Atemwegserkrankungen sind weit verbreitet und die medizinische Versorgung in Patio Bonito ist alles andere als zufriedenstellend. Eine staatliche Einrichtung zur medizinischen Versorgung gibt es genauso wenig wie Ärzte. Auch ein Grund, weshalb im Gemeindezentrum einmal pro Woche ein Zahnarzt und ein Allgemeinmediziner Sprechstunden abhalten. Zwei Behandlungsräume wurden bei der Konzeption des Hauses eingeplant. Den Kontakt zu den Ärzten, die in dem Viertel genau wie die Psychologin unentgeltliche Visiten machen, stellte Olga Luz Cifuentes von der Menschenrechtsorganisation Corporación Unidades Democráticas para el Desarrollo (Ceudes) her. Die 47-Jährige hat die Frauen vom Patio Bonito Mitte der neunziger Jahre auf einer Demonstration kennen gelernt und sie ermuntert, sich zu organisieren. "Damals hatten sie begonnen, Altkleider in anderen Stadtvierteln zu sammeln und hier günstig zu verkaufen", erinnert sich Olga, die längst Mitglied der Frauenorganisation ist. Mit Hilfe von Ceudes brachte sie die Frauen in Kontakt mit spanischen Hilfsorganisationen, und mit den staatlichen Stellen verhandelt sie öfter über Zuschüsse.
Medikamente sind zum Beispiel immer wieder knapp. "Im letzten Jahr fehlte es an Kombinationsimpfstoffen für die Kinder im Viertel", berichtet Adiela, die sich um den Kindergarten und die Koordination in der medizinischen Versorgung kümmert.
Mittlerweile hat sich die Situation etwas entspannt. Die wichtigsten Impfstoffe sind wieder vorhanden, und am 27. April, dem Impftag, bilden sich lange Schlangen vor dem Gemeindezentrum. Von morgens um acht bis in den späten Nachmittag haben Adiela und der Doktor alle Hände voll zu tun. Adiela ist dafür zuständig, die Kinder zu beruhigen. Viele von ihnen kennt die 36-jährige Kindergärtnerin bestens. 150 Kinder werden derzeit im Gemeindezentrum betreut und alle zwei Wochen von der aus Medellín stammenden Frau gewogen. Liegt das Gewicht der Kinder unter dem Durchschnitt der Gleichaltrigen, werden sie vom Arzt untersucht. Adiela spricht dann mit den Eltern über die Ernährung der Kleinen.
Die lässt manchmal zu wünschen übrig, denn viele Eltern leben von der Hand in den Mund. Manche sind kaum in der Lage, die 6 US-Dollar Monatsbeitrag für den Kindergarten zu bezahlen. In der professionell ausgestatteten geräumigen Küche des Gemeindezentrums wird ein reichhaltiges Mittagessen gekocht. Nahrungsmittel kaufen die Mitarbeiterinnen auf dem nahe gelegenen Großmarkt Bogotás.
Manchmal bringen auch die Eltern etwas mit, doch das ist selten, denn viele der Bewohner verdienen sich ihren Lebensunterhalt als Straßenhändler oder Wertstoffsammler. Mit dem Pferdewagen fahren sie in die reichen Viertel im Osten der kolumbianischen Hauptstadt, um dort den Müll nach Verwertbarem zu durchstöbern. Papier, Pappe, Kunststoffe, Glas und Metall werden zur Wiederverwertung gesammelt. Die säuberlich sortierten Wertstoffe bringen die Sammler dann zu den Betreibern der großen Lagerhallen, der bodegas, die sie zu festen Preisen kaufen. "Von diesem Geld leben ganze Familien", erklärt Olga. Sie hatte den recicladoras, den Müllsammlerinnen, geraten, eine Genossenschaft zu gründen, um bessere Preise zu erzielen. Das funktioniert seit zwei Jahren. Die 160 beteiligten Frauen haben jetzt eine eigene Lagerhalle zum Sortieren und Lagern der Wertstoffe angemietet. "Nun können sie wesentlich besser kalkulieren, was sie verdienen, und die Kinder fahren auch nicht mehr mit zum Sammeln", erzählt Olga mit leuchtenden Augen.
Früher wussten die Frauen nicht, wo sie die Kindern lassen sollten, wenn sie zum Müllsortieren fuhren. Meistens mussten die Kinder mitkommen und begannen folglich schon mit vier oder fünf Jahren zu arbeiten. Heute gehen die meisten in den Kindergarten. Da die Kapazitäten im Gemeindezentrum längst erschöpft sind, regten die Frauen von Asrio die Gründung von drei neuen Kindergärten an. Die sind in Privathäusern untergebracht. Ceudes hat für die Grundausstattung gesorgt. Rund 15 Kinder betreut Marina täglich. Sie ist Mitglied der Unicor, der Genossenschaft der Wertstoffsammlerinnen, und lebt seit zwei Jahren in Patio Bonito. "Ohne die Hilfe von Asrio hätte ich mich nicht so schnell zurechtgefunden", sagt sie dankbar.
Längst ist das Gemeindezentrum Anlaufpunkt für Neuankömmlinge. Dort erfahren sie, wo sie Hilfsleistungen beziehen können. Mitarbeiter des Zentrums organisieren beispielsweise Fahrten ins nächstgelegene Krankenhaus oder Lese-und Schreibkurse. Jeden Samstag kommen zudem zwei Psychologen, die mit Kindern und Eltern versuchen, die Erlebnisse der Flucht vor dem Bürgerkrieg zu verarbeiten. Marina nimmt mit ihren beiden Töchtern daran teil. Die magere Frau lebt in einer von Blumenkübeln eingefassten Baracke. Zwei Pferdekarren stehen vor dem Haus, denn auch die Nachbarn sind, wie zuvor Marina, recicladores. Kinderstühle und -tische, Bücher und Spielsachen kennzeichnen den größeren Raum des aus zwei Zimmern bestehenden Hauses. Dort steht auch der Herd, an dem Marina aus dem, was die Eltern den Kleinen mitgeben, eine Mahlzeit kocht. "Immer öfter werden die Kinder jedoch nur mit einem Stück Brot zu mir geschickt", klagt die 39-Jährige.
Adiela, die heute gekommen ist, um die Kinder zu wiegen, zuckt hilflos mit den Schultern. Lebensmittel sind auch im Gemeindezentrum knapp, weil die staatlichen Behörden ihre Zusagen nicht einhalten. "Das Familienministerium hält immer wieder Geld zurück, das uns zusteht, sodass wir improvisieren müssen, um unsere Arbeit aufrechtzuerhalten", sagt die Frau und zieht die Augenbrauen hoch. Angesichts der Wirtschaftskrise sind die staatlichen Stellen zum Sparen angehalten. Schul-und Kindergartenplätze, die auf dem Papier garantiert sind, fehlen. So wird das Geld, das im kleinen Kiosk von Asrio erwirtschaftet wird und eigentlich für Reparaturen und Neuanschaffungen vorgesehen ist, immer häufiger in den Kindergarten gesteckt. Selbst ihren kargen Lohn von 100.000 Peso, umgerechnet weniger als 40 US-Dollar, haben die Frauen schon gespendet, um Medikamente für die Kinder zu kaufen.
Für die Kinder opfern sich die Frauen auf. "Wir wollen den Kreislauf der Gewalt aufbrechen, der unser Land beherrscht, und deshalb müssen wir den Kindern etwas Positives vorleben", sagt Adiela. Enttäuschungen hat es immer wieder gegeben. So zum Beispiel dürfen die Kinder, die von Adiela, María und den anderen betreut werden, nicht in das nahe gelegene Schwimmbad. Das lokale Familieninstitut hat dies so verfügt. "So werden zwei Klassen von Kindern geschaffen", empört sich Olga, die mit dem Institut einen frustrierenden Rechtsstreit führt. "Wir werden von den öffentlichen Stellen immer wieder wie Almosenempfänger behandelt, obwohl wir letztlich deren Arbeit machen", ergänzt María.
Nach Misserfolgen rufen sich die Frauen immer wieder in Erinnerung, was sie bereits erreicht haben. Allein ein Blick vom Dachgeschoss zeigt schon die Erfolge, denn von dort oben kann man die Schule sehen, die vor zwei Jahren gebaut wurde, und den Park. Dort sollte ursprünglich ein Einkaufszentrum entstehen, doch die Bewohner von Patio Bonito besetzten das Areal. "Wir wollten einen Park mit Sportmöglichkeiten", erzählt María. Also wurde der Platz mühevoll eingeebnet. Monatelang organisierten die Frauen gemeinsam mit Jugendlichen Sportturniere. Niemand wagte deshalb, mit dem Bau des Einkaufszentrums zu beginnen. Schließlich gab der Investor entnervt auf. Patio Bonito hatte gewonnen, der Park mit einem Fußballplatz, Basketballfeldern und einem Spielplatz entstand. "Aus Patio Bonito wird langsam ein normales Stadtviertel, das ist unser eigentlicher Erfolg", freut sich María. Der Erfolg einer Fraueninitiative, deren Beispiel in anderen Stadtvierteln Schule machen könnte.
aus: der überblick 03/2002, Seite 92
AUTOR(EN):
Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.