Mittels Wahl an die Pfründe
Nach dem Sturz des Diktators Duvalier im Jahr 1986 und der Wahl des Priesters Jean-Bertrand Aristide zum Präsidenten im Jahr 1990 hoffte Haiti auf Demokratie und eine Politik für die Armen. Schon ein Jahr später beendete ein Militärputsch diesen Traum. Mit Hilfe der USA an die Macht zurückgekehrt, verfolgte Aristide nur noch eine Politik der Selbstbereicherung. Auch die Opposition schielt ausschließlich nach den Fleischtöpfen. Trübe Aussichten im 200. Jahr der Unabhängigkeit.
von Robert Fatton
Am 1. Januar 2004 feierte Haiti den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Diese war das Ergebnis der vielleicht radikalsten Revolution des 19. Jahrhunderts. Fest entschlossen, die weiße Vorherrschaft nicht länger zu ertragen, erhoben sich die schwarzen Sklaven und besiegten die Napoleonische Kolonialarmee. Die Revolution von 1804 symbolisierte das Verlangen der haitianischen Massen nach Freiheit und Solidarität, doch der repressive Despotismus des Kolonialismus und die Gewalt des Befreiungskampfes hinterließen ein stürmisches Erbe. Noch an den Wunden der Rassen- und Klassenfeindschaft leidend und mit der ungeminderten Feindseligkeit der Sklavenhalterstaaten konfrontiert, musste das Land in den Ruinen neu beginnen, die der blutige Kampf für die Emanzipation hinterlassen hatte. Diese Bedingungen formten die postkoloniale Ordnung und führten zur so genannten politique du ventre (Politik des Bauches).
Politik des Bauches bedeutet, dass die Macht, die Besetzung von Staatsposten, vor allem zur Aneignung von persönlichem Reichtum genutzt wird. In Haiti, wo Armut die Norm ist und es nur sehr wenige private Wege zu Wohlstand gibt, wird “Politik” zum unternehmerischen Beruf, zum nahezu einzigen Weg für den materiellen und sozialen Aufstieg für Menschen, die nicht bereits aufgrund ihrer Herkunft reich und privilegiert sind. Die Kontrolle des Staates wird zu einem Kampf um die Pfründe. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Haitis Geschichte durch lange Perioden autoritärer Herrschaft - unterbrochen von fehlgeschlagenen Demokratisierungsversuchen - geprägt ist. Der Zusammenbruch der Diktatur unter Duvalier im Jahre 1986 und der darauf folgende, nicht enden wollende Übergang zur Demokratie haben an diesen Gegebenheiten nichts geändert.
Die Tragödie des gesellschaftlichen Systems Haitis ist also, dass es buchstäblich den Anstand und die Menschlichkeit von ehrlichen Männern und Frauen verspeist und sie in grands mangeurs (große Esser) verwandelt, jene habgierige Spezies von Amtsinhabern, die die öffentlichen Ressourcen für ihre ausschließlich privaten Zwecke verschlingen. Statt die moralische Erneuerung zu fördern, hat die immense Armut des Landes ein generelles Muster von gleichgültiger Indifferenz und individualistischem “Rette sich, wer kann” hervorgebracht.
Zwar hat das Ende der Duvalier-Diktatur zunächst eine neue Periode der Wahlen ermöglicht und politische Räume geschaffen, die es erlaubten, für verantwortungsbewusstere demokratische Strukturen zu kämpfen. Schnell wurde aber auch das Terrain für gefälschte Urnengänge und für die betrügerische Kontrolle öffentlicher Ämter bereitet. Das Verlangen, den staatlichen Apparat zu monopolisieren, hat letztlich zu den starken Konflikten der letzten 15 Jahre geführt. Das öffentliche Amt ist die Eintrittskarte für individuellen Wohlstand und Patronage.
Diese Entwicklung hat auch um die Bewegung Lavalas (Creole für Flut) keinen Bogen gemacht, die 1990 in den ersten freien Wahlen Haitis Jean-Bertrand Aristide ins Präsidentenamt brachte. Blieb Lavalas angesichts des Sturzes Aristides durch einen Militärputsch im Jahre 1991 noch vereint, zerfiel sie schon bald nach seiner Rückkehr ins Amt mit Hilfe der US-Regierung im Jahr 1994 in verfeindete Fraktionen. Die Lage verschärfte sich durch die Kampagne, die Amtszeit Aristides um drei Jahre zu verlängern, die Zeit, die er im Exil verbracht hatte. Obwohl er unter internationalem und einheimischem Druck zustimmte abzutreten, tat er das nur zögernd. Deshalb wandten sich die Organisation Politique Lavalas (OLP) von Gérard Pierre-Charles und wichtige Strömungen der alten Lavalas-Allianz von ihm ab. Aristides Verlangen, an der Macht zu bleiben, alarmierte Freund und Feind, die in seinem Verhalten eine gefährliche Tendenz zum Totalitarismus sahen.
Durch die Rückkehr zu Haitis autoritärer Tradition glich Aristide mehr und mehr den opportunistischen Politikern, die den größten Teil der Geschichte des Landes geprägt haben. 1995 schuf er mit der Fanmi Lavalas (FL) seine eigene Partei, eine Maschine, die seinen Willen ausführt, seine Anhänger organisiert, seinen auserwählten gefügigen Nachfolger, René Préval, in der Wahl von 1995 ins Präsidentenamt hievte und seine eigene spätere Wiederwahl vorbereitete. Das alles verschärfte die Spaltungen Lavalas.
Drei Jahre später bugsierten die mörderischen Konflikte innerhalb der Lavalas die Bewegung komplett ins Abseits. Gérard Pierre-Charles, dessen OLP zu jener Zeit teilweise das Parlament kontrollierte, entschied sich, den Namen in Organisation du Peuple en Lutte (Volksorganisation im Kampf, OPL) zu ändern, um den Bruch mit der Lavalas und die grundsätzliche Gegnerschaft zu Aristide zu verdeutlichen. Auch viele andere progressive Kader und Intellektuelle, die Aristide einst unterstützt hatten, wandten sich von ihm ab. Von der Lavalas-Bewegung blieb wenig mehr als Aristide selbst.
Die verpfuschten Parlamentswahlen vom April 1997 verschärften die Krise. Der Urnengang - schlecht organisiert und mit weniger als 10 Prozent Wahlbeteiligung - wurde von Kandidaten “gewonnen”, die Aristide unterstützten. Frühere Lavalas-Parteien, besonders die OPL, brandmarkten die Wahl als gefälscht. Zwei der drei Mitglieder der Opposition verließen die Wahlkommission unter Protest, und ihr Vorsitzender, Léon Manus, zog es vor, ins Exil zu fliehen, anstatt gefälschte Wahlresultate zu legitimieren.
Fanmi Lavalas ist allerdings für die anhaltende und sich vertiefende Krise des Landes nicht allein verantwortlich. Auch die gesamte Opposition ist mit schuld an der gegenwärtigen schwierigen Lage des Landes. Sie verhielt sich in ihrem Streben nach Macht durchweg opportunistisch. Die verschiedenen Fraktionen wechselten alle ihre Verbündeten und Feinde, ohne auf Ideologie oder Prinzipien Rücksicht zu nehmen; sie waren vorwiegend an der simplen Eroberung öffentlicher Ämter als eigene Pfründe interessiert. Viele, die jetzt protestieren und Lavalas geißeln, profitierten in der Vergangenheit selbst von ähnlichem Wahlbetrug. Als die OPL zum Beispiel noch mit Préval und Aristide zusammenarbeitete, gewann sie die Parlamentswahlen von 1995 unter ebenfalls sehr dubiosen Umständen.
Auch bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000, die Aristide mit 91,8 Prozent gewann, dürften die Wahlmanipulationen - so ungeheuerlich sie auch waren - kaum größeren Einfluss auf das Endergebnis gehabt haben als bei vorangegangenen Wahlen - einschließlich der von 1995. Und trotzdem haben die internationale Gemeinschaft, insbesondere die US-amerikanische Regierung unter Clinton, die Wahl von 1995 als “frei und fair” eingestuft. Diese Entscheidung hat die Tür für fortgesetzten Betrug geöffnet und den Eindruck erzeugt, dass das, was wirklich zählt, regelmäßige Wahlrituale sind und nicht die öffentliche Beteiligung an ihnen oder die unerbittliche Aufrichtigkeit von Wahlen. Durch die Legitimation von Wahlprozessen entlang ihrer sich ständig wandelnden Interessen und Dispositionen gegenüber angeblichen “Gewinnern” und “Verlierern” untergruben sowohl die Opposition als auch die internationale Gemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit. Haitis Krise ist eine Folge des kollektiven Versagens der politischen Klasse, also sowohl der Amtsinhaber und der Anwärter für jene Posten als auch ihrer ausländischen Verbündeten.
So verfiel Lavalas der autoritären Versuchung, die die haitianische Geschichte durchzieht. Die Lehre jener Geschichte heißt: Macht, einmal errungen, darf nicht preisgegeben werden. Wer sie innehat, wird sie auf Dauer monopolisieren. Der frühere Präsident Préval hat das offen ausgesprochen: Nou pran pouvwa, nou pranôl net (“Wir sind an die Macht gekommen, und wir werden sie für immer behalten”). Jonas Petit, ein wichtiger Lavalas-Führer, erklärte in ähnlicher Manier kürzlich, dass seine Partei für wenigstens 200 Jahre im Amt bleiben wird.
Das Versprechen der Kader der Lavalas, die Armen bò tab la (an den Tisch) zu bringen, die immer en ba tab la (unter dem Tisch) gesessen haben, degenerierte schnell zu einer exklusiven Tafel für die Führer und Gefolgsleute der Lavalas. Sie gesellten sich zu dem kleinen Kreis der “großen Esser”, während ihre Anhänger weiter ums Überleben kämpfen mussten.
Ist die große Mehrheit der Haitianer also dazu verdammt, unausweichlich Opfer ihrer eigenen Geschichte zu sein? Trotz der Beschränkungen durch politische und wirtschaftliche Strukturen gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass es zur gegenwärtigen Krise keine Alternative gibt. Der Zusammenbruch der Diktatur unter Duvalier hat vorgeführt, dass die Haitianer in der Lage sind, rigide Grenzen zu übertreten und zu neuen Horizonten aufzubrechen.
Wer haitianische Politik verstehen will, sollte jedoch die Besonderheit der gesellschaftlichen Klassen beachten, also die Weise, wie Menschen sich organisieren und ihre gemeinsamen Interessen durchzusetzen versuchen. Die Klassenstruktur der Insel baut nämlich auf einem extrem schwachen, ja zerstörten ökonomischen Fundament auf. Haitis Demokratisierungsprozess verlief somit sowohl ohne eine klassische Bourgeoisie als auch ohne eine große Arbeiterklasse, deren Kämpfe und Kompromisse in anderen Gesellschaften die liberale Demokratie hervorgebracht haben.
Deshalb konnte das Land zu einer räuberischen Demokratie werden, in der Fraktionen des Kleinbürgertums um die politische Vorherrschaft kämpfen, gewählte Amtsinhaber auf den höchsten Ebenen durch undurchsichtige Privatmächte kontrolliert, Wahlen zwar regelmäßig abgehalten aber auch ebenso regelmäßig gefälscht werden und öffentliche Verwalter vorgeben, die Verfassung zu retten, indem sie permanent ihren Geist und ihre Gesetze verletzen.
Doch eine räuberische Demokratie ist kein völlig geschlossenes Machtsystem. Es bietet gewisse Möglichkeiten für politische Aktivitäten. Die Opposition und die Zivilgesellschaft werden nicht mundtot gemacht, und es gibt weiterhin eine unabhängige Presse.
Weil die Armee 1997 abgeschafft wurde, steht auch kein neuer Militärputsch ins Haus. Doch im gegenwärtigen System unter Jean-Bertrand Aristide und seiner Fanmi Lavalas regiert das Chaos. Die Auseinandersetzungen um die kontroversen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2000 eskalieren bereits in einen offenen, gewalttätigen Konflikt zwischen der Lavalas und der Opposition, die in einigen Städten die Polizeistationen besetzte. Falls es keinen Kompromiss gibt, könnte der Krieg der Worte in einen Bürgerkrieg übergehen.
Deshalb stellt sich die Frage, ob ein Kompromiss überhaupt noch möglich ist. Ein solches Übereinkommen könnte nämlich sowohl für die bekanntesten Oppositionskoalitionen Convergence Démocratique und die Groupe de 184 als auch für die Lavalas-Regierung gefährlich werden. Die Opposition könnte sich spalten, weil sich nicht alle ihrer grundverschiedenen Mitglieder durch Zugeständnisse Aristides zufriedenstellen lassen würden und dann ihre Unterschrift unter solch einen Pakt verweigern könnten. Außerdem bezweifeln Aristides Gegner, dass er einmal getroffene Kompromisse einhält. In ihren Augen ist er nicht vertrauenswürdig und leidet unter Größenwahn. Tatsächlich sieht sich Aristide in geradezu messianischer Mission. Seine Unterstützer und die Reklametafeln in der haitischen Hauptstadt Port-au-Prince verkünden: “Jesus, Haiti, Aristide - Das ist das Credo des Volkes Haitis.” Gegner der Lavalas haben also jede Menge Gründe, weiterhin den Rücktritt des Präsidenten zu fordern, statt den Kompromiss zu suchen.
Ähnlich wie bei der Opposition könnte eine Einigung zu einem Kompromiss aber auch innerhalb der Fanmi Lavalas schwere Konflikte auslösen, da einige der wichtigsten Stützen frustriert sein werden, wenn sie ihre Macht mit ihren Feinden teilen und sich mit nur einem Teil der Pfründe zufriedengeben müssten.
In den vergangenen Wochen hat die Opposition Auftrieb bekommen: Sie vermochte, eine Welle von Massenprotesten gegen das Lavalas-Regime anzuschieben. Von Euphorie erfasst, wurde sie immer unnachgiebiger und fordert jetzt den unverzüglichen Rücktritt Aristides und seiner Regierung. Ein neuer Präsident soll durch das Oberste Gericht nominiert werden, einem noch zu formenden Staatskomitee sollen neun “weise” Personen angehören. Diese Regierung soll zwei Jahre im Amt bleiben und in dieser Zeit die Voraussetzungen für neue Wahlen schaffen. Diese Maximalforderungen der Opposition zeigen deren Überzeugung, dass Aristides Tage an der Macht gezählt sind - zumal die Tatsache, dass er sich zur Unterdrückung von Widerspruch auf bewaffnete Gangsterbanden, die so genannten ChimPres, stützt, seine Legitimität endgültig untergraben hat.
Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Aristide vom Präsidentenamt abtritt. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die USA und die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) haben keinerlei Absicht gezeigt, ihn dazu zu zwingen. Angesichts der Instabilität im Irak und der bevorstehenden Präsidentschaftswahl in den USA wird die Regierung Bush kaum geneigt sein, einen neuerlichen Versuch zu unternehmen, aus Haiti eine geordnete Nation zu machen. Man fürchtet in Washington, dass ein Regierungswechsel in Port-au-Prince eher zu noch mehr Chaos und einer neuen Flüchtlingswelle führen könnte. Die USA werden also den Rücktritt des Präsidenten nicht erzwingen, es sei denn, die öffentliche Ordnung in Haiti kollabiert völlig.
Aristide selbst hat mehrmals versichert, dass er nicht zurücktreten werde. Trotz der nachlassenden Popularität und einer anwachsenden Oppositionsbewegung besitzt er klar die Mittel, sein Mandat von fünf Jahren auszuschöpfen. Nach wie vor kann er Unterstützer unter den Ärmsten der Armen mobilisieren und seine bewaffneten Banden gegen Gegner losschicken. Die jüngsten Konfrontationen in Port-au-Prince, GonaVves und Cap Haitian zeigen, dass die ChimPres immer noch in der Lage sind, Gruppen der Zivilgesellschaft und der Opposition daran zu hindern, gegen die Lavalas-Regierung zu demonstrieren.
Die Opposition konnte zwar ihre Basis über die städtischen Eliten von Convergence Démocratique und die Groupe de 184 hinaus deutlich ausbauen, doch ihr fehlen die Mittel, Aristide von der Macht zu verdrängen. Die Opposition ist allein durch ihre Abscheu gegenüber Aristide geeint, und es ist schwer zu glauben, dass ihre vielen Fraktionen, von den früheren Kommunisten bis zu den alten Duvalier-Anhängern, eine geeinte Wahlalternative zustande bringen würden. So kann die Opposition im Moment auch gar kein Interesse daran haben, Lavalas und ihre Führer in neuen Wahlen herauszufordern. Sie glaubt, dass die anhaltende Krise eher ihren Interessen dient. Die sich verschärfenden wirtschaftlichen Probleme, die wachsende Unregierbarkeit des Landes und die weitere Unterminierung von Aristides Legitimität könnte der Opposition eher den Weg freiräumen, die Macht zu übernehmen.
Aristide dagegen - geschwächt durch die Protestwellen - könnte durchaus nach einem Ausweg aus seiner derzeitigen Zwickmühle suchen. Das Patt der wechselseitigen Belagerung zwischen Regierung und Opposition hat für ihn kaum Vorteile. Will er sich international nicht völlig isolieren, jegliche Hilfe aus dem Ausland verlieren und Haiti endgültig in einen Paria-Staat verwandeln, gibt es für Aristide kaum eine Alternative zu einer Vereinbarung mit der Opposition. Bei solcher Annäherung dürften nicht nur die zugesagten, aber eingefrorenen 500 Millionen US-Dollar an internationaler Hilfe freigegeben werden, sondern sich auch die Beziehungen zu Washington und der Bush-Regierung verbessern.
Außerdem hat Aristide interne Gründe, aus der derzeitigen Sackgasse herauszukommen. Er braucht neue Verbündete, um seine Unruhe stiftenden und gewalttätigen ChimPres zu zähmen. Diese sind nämlich nicht mehr nur ein williges Instrument aus Aristides Waffenkammer. Sie haben zunehmend unabhängige Interessen und Anführer. Sie entziehen sich mehr und mehr der Kontrolle Aristides, und er weiß das. Einige ChimPres haben sich bereits gegen ihn selbst gewendet und ihn beschuldigt, sie zu benutzen und zu betrügen.
Auf die kürzliche Ermordung eines ihrer big men, Amiot Metayer, Anführer der Cannibal Army, folgten gewalttätige Anti-Lavalas-Proteste in GonaVves. Davon überzeugt, dass Aristide persönlich die Ermordung Metayers angeordnet hat, schwor sich die Cannibal Army auf den Krieg gegen den Präsidenten bis zu seinem Sturz ein. Im Folgenden wurde die Situation in GonaVves unkontrollierbar und die Stadt ein blutiges Schlachtfeld zwischen Gegnern und Unterstützern der Lavalas. Auf ähnliche Weise hat die Ermordung von Rodson Lemaire alias Colibri, einer anderen wichtigen ChimPres-Figur, in den Slums von Cité Soleil blutige Anti-Aristide-Demonstrationen ausgelöst - in einer Zone, die bisher die Lavalas uneingeschränkt unterstützte.
Aristide muss also diese bewaffneten Gruppen unter Kontrolle bringen, wenn er seine Autorität bewahren und Unterstützung aus Washington erhalten will. Das Mittel dafür ist ein Pakt mit der Opposition, der akzeptable Wahlen sicherstellen und Haitis politischen Prozess legitimieren würde. Er hat bereits widerwillig zugestimmt, neue Wahlen zum Parlament und auf lokaler Ebene unter der Aufsicht eines unabhängigen Wahlrates und internationaler Beobachter abzuhalten. Er hat ferner, wenn auch zögernd, seine Bereitschaft angedeutet, einen Kompromissvorschlag zu akzeptieren, der von der Bischofskonferenz unterbreitet wurde.
Dieser Vorschlag fordert die Schaffung eines Rates aus “weisen Persönlichkeiten”, die alle Teile der Bevölkerung repräsentieren und zeitweise das Parlament ersetzen sollen. Dieses Gremium würde auch den Präsidenten beraten und grundlegende Reformen innerhalb der Polizei und der Bürokratie in Gang bringen. Zusätzlich würde es die Voraussetzungen für die einvernehmliche Bildung eines Wahlkomitees, des Consensus Electoral Council, schaffen, das letztlich neue Wahlen organisieren und beaufsichtigen würde. Aristide hofft, dass die OAS und die USA die Opposition zur Annahme dieses Kompromissvorschlages drängen werden. Bisher lehnten allerdings sowohl Convergence Démocratique als auch Groupe de 184 ein Zugehen auf den Präsidenten ab, da sie glauben, über die Unterstützung der Massen zu verfügen und ihn stürzen zu können.
Das Land kann also tatsächlich auseinander brechen, falls nicht die Furcht vor der gegenseitigen Zerstörung in einem Bürgerkrieg die Hauptakteure doch noch dazu bewegt, den historischen Kompromiss zu suchen. Die meisten Haitianer jedoch verhalten sich gegenüber den Manövern der diskreditierten politischen Klasse mehr und mehr indifferent. So bettelarm wie eh und je, sind sie vor allem mit dem täglichen Kampf ums Überleben beschäftigt. So verspricht Haitis 200. Jahr der Unabhängigkeit weder triumphierende noch glückliche Zeiten, sondern eher die Aussichten auf eine andauernde Krise.
aus: der überblick 01/2004, Seite 79
AUTOR(EN):
Robert Fatton:
Robert Fatton Jr. ist "Julia A. Cooper Professor" und Vorsitzender des "Woodrow Wilson Department of Politics" an der "University of Virginia", USA. Er ist Autor des Buches "Haiti's Predatory Republic: The Unending Transition to Democracy", Lynne Rienner Publishers, Boulder.