Meditation über 1. Korinther 1, 26-31
"Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem
Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was
töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache;
und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was
stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts
ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme.
Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur
Gerechtigkeit und zur Heilung und zur Erlösung, damit, wie geschrieben steht (Jeremia
9,22-23): ,Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!'"
(Der erste Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth 1, 26-31)
von Klaus Rieth
Bilder um acht Uhr abends in der Tagesschau: Eine nur leicht bekleidete Schöne aus Europa neigt sich über einen wie tot daliegenden afrikanischen Flüchtling, der am Strand von Teneriffa zusammen mit 80 anderen in einem kleinen Boot angespült wurde. Jeden Tag kommen solche Flüchtlinge, und jeden Tag wird die Urlaubsidylle am Strand von Santa Cruz gestört. Viele von ihnen sind zum Teil so entkräftet, dass sie nicht mehr stehen können. Sie haben Tage, ja Wochen ohne Nahrung oder Wasser hinter sich. Und jetzt: Haben sie das Ziel erreicht? Sind sie dort gelandet, wo sie hinwollten. Ist Teneriffa und damit Spanien das gelobte Land, in das sie ausziehen wollten? Und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist.
Die Bilder im Fernsehen verfolgen mich. Was ist es, das mich noch einmal hinblicken lässt? Was unterscheidet diese Bilder von den zahllosen anderen mit erbarmungswürdigen Flüchtlingen in elender Notlage? Vielleicht ist es der Kontrast. Die Bikini-Schöne, die dem Gestrandeten eine warme Decke unterschiebt und ihn zudeckt. Vielleicht ist es das Zusammentreffen von Schönheit und Elend. Von Ästhetik und deren Gegenteil. Vielleicht ist es der Umstand, dass da zwei zusammentreffen, denen beiden das Land nicht gehört, auf dem sie sich befinden. Die beide fremd sind auf der Ferieninsel. Beide suchen sie dort etwas. Die eine Erholung und Spaß, der andere Hilfe und Zukunft. Obszön könnte man die Situation bezeichnen. Henning Mankell hat dieses Ankommen der Flüchtlinge in seinem Buch Tea-Bag so treffend beschrieben, dass die Betroffenheit nicht weichen will.
"Er hat sich bemüht", steht im Zeugnis des Sachbearbeiters eines mittelständischen Unternehmens. Er sei ein einfacher Mensch, heißt es von ihm, nicht besonders klug, schon gar nicht überdurchschnittlich gebildet. "Sie wissen ja, dass wir Sie in der Firma mitschleppen", hat sein Chef einmal zu ihm gesagt, "in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten wäre das nicht mehr möglich." Diese Zeiten sind nun angebrochen, er hat seinen Arbeitsplatz verloren. Seine Frau hat ihn mit den Worten abgefertigt, er sei doch ein Versager. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache.
Die Putzfrau im Hotel von Mombasa sieht viel. All inclusive heißt für viele Hotelgäste aus dem Norden nicht nur, dass man den ganzen Tag essen und trinken kann, soviel man will, sondern auch ungeniert die Angestellte schikanieren kann. Sie demütigen. Ihr zeigen, wer der Herr im Hotelzimmer ist. Meist bleibt es dann auch nicht beim Klaps auf ihren Po, sondern unter all inclusive glaubt so mancher Hotelgast auch, dass alles im Pauschalpreis schon bezahlt ist. An unzweideutigen Angeboten mangelt es jedenfalls nicht. Und in den Ferien und bei genügend hohem Alkoholpegel ist eh alles easy, so die Meinung vieler Pauschalreisender, denen sie begegnet. Und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist.
Sind das solche Menschen, denen dieser Bibeltext die Erwählung zuspricht? Denn vergleichbare Menschen gab es damals viele in Korinth. In der Hafenstadt am Schnittpunkt zwischen Ost und West, wo der leibverachtende Gnostiker neben dem lebenslustigen Hafenwirt lebte, wo der reiche Reeder neben der arbeitslosen Tagelöhnerin residierte. Korinth, das war das pralle Leben.
Aber Paulus sinniert immer wieder in seinen Briefen, warum mehrheitlich nur die Tagelöhner, die Arbeitslosen, die Sklaven zur christlichen Gemeinde gehörten. Paulus rätselt, warum so wenig "Mächtige", so wenig "Angesehene" in der Gemeinde auszumachen sind. Und die Antwort findet er in der Botschaft des Evangeliums selbst, im "Wort vom Kreuz", wie er es nennt. Gott erscheint nicht so, wie der religiöse Mensch ihn erwartet. In Pomp und Gloria. In edlem Tuch und großem Gefolge.
Wie lange habe ich gebraucht, bis ich verstanden habe, dass auch heute noch religiöse Führer etwas darstellen müssen. Dass man den Bischöfen im Süden teure Autos zur Verfügung stellen muss, damit sie gegenüber den Repräsentanten der anderen Religionen angemessen auftreten können. Dass auch unsere Bischöfe in Deutschland Nobelmarken fahren müssen, damit sie Gesprächspartnern in Wirtschaft und Politik "auf Augenhöhe" begegnen können. Was würde passieren, wenn wir diese Augenhöhe nicht mehr hätten? Wenn die Begegnungen nicht mehr im zwölften Stock des Verwaltungshochhauses klimatisiert und auf weichen Teppichen stattfinden würden, sondern in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung des Hartz IV-Empfängers an der lauten und schmutzigen Ausfallstrasse?
Von "Augenhöhe" hat Paulus nichts gehalten. Dieses Denken war ihm fremd. Er hat lediglich eine andere Augenhöhe akzeptiert: Die Ohnmacht des Gekreuzigten, die der Ohnmacht der Geringen und Verachteten aus Korinth sehr Ähnlich war. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heilung und zur Erlösung.
Was Paulus uns mit diesem Text zumutet, ist eine Zumutung. Denn wer die Umwertung aller Werte fordert, der macht sich nicht beliebt. Auf jeden Fall nicht bei den Mächtigen. Wie oft wird Kirche heute in Verbindung gebracht mit der Institution, die für Werte zuständig ist. Wenn nicht die Kirche, wer sonst sollte für die Erhaltung der Werte eintreten. Werte, das klingt dann oft so, als ob die Kirche eine Schublade hätte, in der die Werte verborgen sind und man sich je nach Bedarf aus dieser Schublade bedient. Aber wenn man einmal genauer hinhört, welche Werte denn gemeint sind, die man nur bei der Kirche sucht, die nur von der Kirche bewahrt werden können, dann ist man schnell bei der Solidarität, bei der diakonischen Hinwendung zum Nächsten, bei der Einhaltung der Zehn Gebote. Doch das alles wäre auch ohne die Kirche erhältlich. Dass die Einhaltung und Beachtung dieser Werte gut und sinnvoll für unsere Gesellschaft ist, weiß "man" eigentlich schon lange. Deshalb gilt es, genau hinzuschauen, wer, wann und in welchem Zusammenhang fordert, dass die Kirche zuständig für die Werte ist. Denn wenn wir diese Sätze des Paulus genau lesen, dann ist Kirche noch für etwas ganz anderes zuständig: Für ein radikales Umdenken.
Der Schöpfer dieser Welt macht unseren weltlichen Bewertungskategorien einen Strich durch die Rechnung. Er rechnet anders. Wenn Gott sich schwach gemacht hat, angreifbar, verletzbar, dann können auch wir schwach, angreifbar und verletzbar sein. Und wenn Gott sich öffentlich schwach gemacht hat, dann müssen auch wir unsere Schwächen nicht mehr verstecken. Wenn Gott sich gering gemacht hat, dann brauchen auch wir unsere Minderwertigkeitsgefühle nicht mehr durch Geld, Wissen, Konsum oder Arbeit verdrängen. Wenn Jesus Christus gerade die Armen, Schwachen und Verlorenen angenommen hat, warum müssen wir dann unser Heil darin suchen, der Welt unsere Stärke vorzugaukeln? Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!
Das alles mag wie eine gewaltige Provokation klingen, und ist in der Tat ja auch eine. So viele Menschen und Ereignisse haben in unserem Leben verlangt, hart zu werden, die Tränen zurückzuhalten, das Pokergesicht aufzusetzen, belastbar zu sein. Aber ist es auf die Dauer nicht zu anstrengend so zu leben? Wer seine Schwächen zugeben kann, wer mit seiner Unvollkommenheit zu leben lernt, der findet sich in der Nähe derer, die von Jesus Christus besonders angesprochen werden.
Bei den Jugend-Unruhen in Frankreich in den vergangenen Monaten haben manche Jugendliche aus den ehemaligen französischen Kolonien ein neues Selbstbewusstsein zur Schau getragen. Wir sind Afrikaner. Wir sind stolz darauf von diesem Kontinent zu stammen. Wir sind keine Menschen zweiter Klasse, auch wenn wir arm sind, keine Bildung haben und aus den Vorstädten stammen. Aber irgendwann werden auch wir gebildet sein, irgendwann werden auch wir in Frieden leben können und irgendwann werden wir nicht mehr wegen unserer Hautfarbe als minderwertige Menschen angesehen.
Und bei einem Völkerkundler lese ich, dass mittlerweile erwiesen ist, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand. Dass wir alle von dort abstammen und in Afrika die früheste Bevölkerung durch Menschen nachgewiesen werden kann. Manch einer muss da umdenken. Neu denken. Und genau dazu ruft uns der Abschnitt aus dem Korintherbrief auf.
Mich selbst hat ein 15-jähriger Junge aus Mosambik zu einem solchen Umdenken gebracht. Auf Projekt-Reise in dieses bitterarme Land waren wir auch in den Norden nach Tete gekommen. Vor dem Abendessen war noch Zeit und so ging ich zu der riesigen Brücke, die den Fluss Sambesi überspannt. Es war viel Verkehr in diesen Abendstunden und auf dem schmalen Gehsteig für die Fußgänger waren viele unterwegs, heim von der Arbeit in ihre Häuser auf der anderen Seite des Flusses. Ich ging bis zur Mitte der Brücke und schaute hinunter in die Tiefe. Jemand hatte erzählt, es gäbe Krokodile auf den Sandbänken. Ich beugte mich weit über das Geländer, um genau sehen zu können. Plötzlich zupft mich ein Junge mit abgetragener und zerlumpter Kleidung am Arm. Er vermutete, dass ich von der hohen Brücke in die Tiefe springen wollte, um meinem Leben ein Ende zu setzen. Er erklärte mir in seinem bescheidenen englischen Wortschatz, dass ich das nicht tun sollte. Und obwohl ich ihm wortreich darlegte, dass das nicht meine Absicht sei und ich nur nach Krokodilen Ausschau hielte, traute er mir nicht, nahm mich an der Hand und ging den ganzen Weg zurück mit mir bis zum Ende der Brücke. Erst als er mich in Sicherheit wusste, lief er davon, nicht ohne sich mehrmals nach mir umzudrehen. Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt.
Vielleicht ruft uns dieser paulinische Text dazu auf, neu zu denken. Unsere Augen offen zu halten. Unsere Welt und die Menschen um uns herum neu wahrzunehmen. Vielleicht hilft uns dieser Text aber auch, aus unserer Deckung zu kommen. Ganz am Anfang, als ich meine journalistische Laufbahn eingeschlagen und mich bei einem Kollegen darüber beklagt hatte, wie schlecht ich nach einem offenen und angreifbaren Rundfunk-Kommentar behandelt wurde, gab der Kollege den Rat: "Sag nicht immer, was du denkst! Du musst Dich bedeckt halten!" Der Kollege hat es weit gebracht. Er hält sich immer noch ein bisschen bedeckt.
Aber vielleicht ermutigt uns dieser Text an die korinthische Kirchengemeinde auch, wenigstens ein Stück unserer Rüstung abzulegen. Die eigene Schwäche etwas mehr zuzugeben und so etwas mehr in die Nähe des Jesus Christus zu geraten, dessen Kraft gerade in den Schwachen mächtig ist.
aus: der überblick 03/2006, Seite 114
AUTOR(EN):
Klaus Rieth
Klaus Rieth ist Pressesprecher und Leiter des Amtes für Information der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Stuttgart.