"Die Kinder sollen eine Wahl haben"
Eine argentinische Lehrerin kämpft dafür, dass auch Kinder aus den Bergen eine Berufsperspektive bekommen
von Marta Platía
Ohne zu klagen, fast beiläufig, verweist die 57-jährige Lehrerin Esmeralda de Merlo auf die nationale Not: "Wir leiden sehr unter der Krise". Und sie fügt gleich hinzu: "Wir hier oben sind allerdings daran gewöhnt. Weil wir immer arm waren." Esmeralda spricht mit der Natürlichkeit eines Menschen, der gelernt hat, von wenig zu leben. Sie ist Direktorin einer Schule namens Ceferino Namuncurá. Die Schule liegt in den Bergen der argentinischen Provinz Córdoba.
Seit 35 Jahren ist sie la Señorita, "das Fräulein", oder kurz la Seño. So nennen sie die Ziegen-und Schafhirten, die auf den Altas Cumbres leben, einer Bergkette in 2300 Meter Höhe in der Provinz Córdoba, wo auch ihre Schule steht. Rund tausend Menschen leben in den trockenen Höhen, die von einem eisigen Wind gepeitscht werden. Esmeralda ist die am meisten geachtete Person in der Umgebung. Der Grund für diese Wertschätzung: Sie ist die Lehrerin der Hirtenkinder. Zuvor war sie die Lehrerin der Hirten selbst, bei manchen sogar schon von deren Eltern.
Im Unterschied zu den Städten, wo der Respekt vor den Lehrkräften infolge der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, dem Zerfall vieler Familien sowie der Lockerung der Sitten weitgehend verloren gegangen ist, werden Lehrer in den Bergen noch geachtet. Dort - wie auch in anderen Dorfschulen in den am meisten benachteiligten und ödesten Gebieten des Landes - stellt niemand das Prestige von Lehrern infrage.
Esmeralda de Merlo ist eine Verkörperung dieser immer rarer werdenden Spezies. Ihre Augen strahlen, wenn sie sich daran erinnert, wie sie 1965 an der Seite ihres Ehemannes Abel Merlo "die Berge hochstieg, viel schlanker als heute und mit gerade mal 20 Jahren". So wie ihre jetzigen Schüler, war Abel Merlo als Kind ein Hirte, dessen Schicksal "dank der Schulbildung" eine glückliche Wende nahm. Später wurde er selbst Lehrer.
"Wir beide wollten unterrichten. Der Vater meines Mannes, Don José Vicente, bemühte sich, hier oben eine Schule zu bauen, mitten in der Pampa de Achala." Der Traum von Don José wurde 1967 wahr, Stein auf Stein. Mit der Hilfe seiner Frau Ignacia, der Unterstützung von Esmeralda und Abel, baute er den ersten Schulraum. Hier hielt das Ehepaar Schulstunden für die ersten Hirten ab, die verwundert vorbeischauten, um zu erkunden, worum es bei diesem ganzen Aufruhr ging.
"Mein Mann wollte, dass die Campesinos, die Bauern, Lesen und Schreiben lernen. Und ich war begeistert von dieser Idee. Damals habe ich mit dem Unterrichten angefangen und konnte nicht mehr aufhören", erklärt die eigensinnige und starke Lehrerin mit ihrer rauen Stimme. Noch immer spürt man ihre Leidenschaft für den Beruf als Vollzeitlehrerin der Ceferino Namuncurá, einem Internat, in dem die Kinder nicht nur lernen, sondern auch essen und schlafen.
Weil die meisten Hirten in Hütten leben, die weit voneinander entfernt stehen, und die Kinder für den Weg zur Schule eine mühsame Reise von bis zu vier Stunden zu Pferd, auf dem Maulesel oder zu Fuß auf sich nehmen müssten, vertrauen die Hirten Esmeralda und den ihr helfenden Lehrern ihre Kinder auch über Nacht an. Das entlastet die Eltern auch in der Verpflichtung, die vielen Münder zu stopfen. Denn mangels Geburtenkontrolle werden in dieser Gegend in jedem Haus viele Kinder geboren.
"Dies ist eine Schule mit besonderen Regeln. Da hier im Winter viel Schnee fällt und die Temperaturen auf 20 Grad unter null sinken, kommen die Kinder vom Frühjahr bis zum Herbst zum Unterricht, im Gegensatz zu den Kindern in der Stadt, die im Winter zur Schule gehen. Der Unterricht dauert einen ganzen Monat, in dem die Lehrer und Schüler in der Schule leben. Anschließend gibt es eine Woche frei, und wir gehen alle nach Hause in die Täler. Diesen Rhythmus behalten wir in den acht Monaten, die jedes Schuljahr dauert, bei", erklärt Esmeralda. Die seit einigen Jahren verwitwete Lehrerin lebt in ihrer Freizeit mit ihren drei heranwachsenden Töchtern in dem Ort Villa Cura Brochero am Fuße der Berge.
Jeden Monat kommt ein kleiner geländegängiger Armeelastwagen zur Schule, um den Kindern und Lehrern bei dem schwierigen Abstieg in die Täler zu helfen. Er ist mit Stoßdämpfern ausgestattet, die die Passagiere zu schätzen wissen, denn Straßen gibt es hier oben nicht. Wenn der Kleinlaster nicht kommen kann, weil starker Regen die Bäche hat anschwellen lassen, müssen Schüler und Lehrer auf Pferden und Maultieren den Weg über kleine Pfade nehmen.
"Ist dieses Leben für Sie nicht zu hart?" - "Nein, ich habe mich daran gewöhnt. Ohne meine Arbeit könnte ich nicht leben. Natürlich muss man sich immer über eines im Klaren sein: Hier muss man immer viel geben und gute Arbeit leisten, und zwar ohne irgendetwas dafür zu erwarten. Was kommt, ist ein Geschenk Gottes", erläutert Esmeralda, und während sie spricht, kümmert sie sich um die Kinder mit den pechschwarzen Haaren, die eines nach dem anderen neugierig herbei kommen und die Reporterin und die Fotografin bestaunen. Sie wirbeln um Esmeralda herum, sie drängen und kauern sich an sie, als wären sie kleine Kätzchen.
Solch enge Beziehung findet man auch in anderen Land-Internaten dieser Art. Denn die Lehrer bringen den Kindern nicht nur Lesen und Schreiben bei, sondern übernehmen auch die Rolle als Ersatzvater oder -mutter. Sie beruhigen sie, wenn sie nachts Alpträume haben, wenn sie aus Heimweh weinen oder wenn sie sich vor der Dunkelheit fürchten. "Dieses Jahr gab es eine Grippeepidemie. Vierzig Kinder hatten Fieber. Wir haben nächtelang nicht geschlafen, weil wir uns um sie gekümmert haben", erzählt Esmeralda nebenbei. Als ob diese Situation, die die Nerven jedes anderen bis zum Zerreißen gespannt hätte, die natürlichste Sache der Welt wäre. Über die gebräunten Kindergesichter, ausgetrocknet und gegerbt durch den eisigen Wind, huscht ein Lächeln, als sich die Lehrerin daran erinnert. Und stumm drücken sie ihre Köpfe an ihren Schoß, um eine Streicheleinheit zu erhaschen.
"Meine Kinder sind sehr arm", seufzt Esmeralda, die monatlich rund 1.300 Pesos verdient, was etwa 370 Euro pro Monat entspricht. "Auf ihren Ranchos haben sie fast nichts". Ranchos sind die Häuser aus Lehm und Stein mit windschiefen Dächern und mit einem Holzofen als einzige Heizung. "Die meisten Eltern", fährt sie fort, "können nicht lesen, und wenn doch, besitzen sie nur sehr wenige Bücher. Aus diesem Grund ist die Schule hier noch viel wichtiger als in den Städten. Die Kinder, die ohne Fernsehen und ohne irgendwelche geistigen Anreize groß werden, lernen hier, dass es eine Welt jenseits der Berge gibt."
Seit über drei Jahrzehnten leben die Lehrerin und ihre Schüler in äußerster Kargheit. Als die Schule vor gerade mal zwei Jahren eine warme Dusche erhielt, war dies für viele Kinder eine Entdeckung. Franco Pedernera, der jetzt 13 Jahre alt ist, erinnert sich noch genau an diesen Tag. Für ihn war es ein ganz wichtiger Tag in seinem Leben. Die meisten Kinder haben erst in dieser Schule gelernt, mit Messer und Gabel zu essen. Sie haben entdeckt, dass Bettdecken nicht nur aus Tierleder, sondern auch aus mit weichen Laken bezogenem Stoffgewebe bestehen können. "Wie in allen Landschulen lernen die Kindern der Ceferino Namuncurá das, was die Berge ihnen nicht vermitteln können. Und die Lehrer arbeiten 24 Stunden am Tag, rund um die Uhr, und das Jahr für Jahr", bemerkt die Lehrerin mit einer Mischung aus Resignation und Stolz. Schnell kommen ihr die Tränen und schnell lacht sie auch wieder.
Sie kann keine Sekunde ruhig stehen oder sitzen. Alles muss sie unter Kontrolle haben. Sogar die dicke Gemüsesuppe, die in der Küche unter dem aufmerksamen Blick von Don Inocencio brodelt. Den Koch der Ceferino, ein Campesino von 75 Jahren, gibt es hier schon ewig. Roque und Teresa helfen ihm. Sie sind ehemalige Schülerinnen, deren Kinder jetzt die Schule besuchen.
Der Name der Schule passt zu der aufopfernden Arbeit Esmeraldas und ihrer Kollegen: Ceferino Namuncurá war der erste Indio-Heilige aus dem Süden Argentiniens, der vom Vatikan anerkannt wurde. "Ein dunkelhäutiger Heiliger, wundertätig und arm wie wir", sagt die Lehrerin. Und zeigt auf die Bilder an der Wand, auf denen das kupferfarbene Gesicht des schüchtern wirkenden Ceferinos abgebildet ist.
Das Leben in der Ceferino Namuncurá beginnt morgens um sieben Uhr mit dem Aufstehen - und ohne Heizung. "Wir nutzen die menschliche Wärme, die durch die Atemluft aller entsteht", lächelt die Lehrerin. Die allmorgendliche Hygiene besteht darin, sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen (geduscht wird nur abends vor dem Schlafengehen, um Wasser zu sparen). Danach gibt es zum Frühstück eine große Tasse Milch oder einen Kräutertee mit einem selbst gebackenen Stück Brot.
Der Unterricht beginnt um halb neun Uhr und geht bis 13 Uhr. Dann gibt es Mittagessen. Alle haben auch noch außerschulische Aufgaben: Sie müssen sich um den Gemüsegarten kümmern, den Salat, die Tomaten und die Gurken; sie müssen die Schweine, Hühner, Enten und Pferde füttern und darüber hinaus die Schlafräume kehren und sauber halten.
Bis vor etwa einem Jahr schliefen und lernten die 81 Schüler von der Ceferino in ein und demselben Raum. Dieser wurde morgens und abends umfunktioniert: Nachts diente er als Schlafsaal, vollgestellt mit - teilweise dreigeschössigen - Etagenbetten. Und morgens schoben die Schüler und Lehrer ihre Betten an die Seitenwände, räumten das Zentrum des Raums frei und stellten die rustikalen Holzbänke und kleinen Tische auf. So verwandelten sie den Schlafsaal in einen Unterrichtsraum.
Aber Esmeralda hat immer die jeweiligen Regierungen bedrängt und Solidaritätsgeschenke von Leuten eingeworben, die ihren Einsatz bewunderten. Jetzt hat sie es geschafft: Zwei zusätzliche Räume konnten gebaut werden. Seither sind Klassenraum, Speisesaal und Schlafsaal getrennt, die Betten müssen nicht mehr beiseite geräumt werden. Zu Abend gegessen wird um neun Uhr abends im Speisesaal, während im Fernsehen "Bonanza" läuft. Alle lieben diese Serie, weil in ihr Pferde und Cowboys vorkommen.
Um zehn Uhr abends geht Esmeralda durch die Schlafsäle und deckt die Kleinsten zu, macht das Licht aus und ruft: "Ruhe! Alle halten den Mund!" Das gilt bis zum nächsten Morgen, wenn die Hähne den neuen Tag ankündigen.
Neben dem Alphabet lernen die Kinder hier, was auch alle anderen argentinischen Schüler lernen: Mathematik, die Landessprache Spanisch, Biologie, Musik, Geschichte und Erdkunde. Sie können auf jede einzelne Provinz ihres Heimatlandes deuten und deren jeweiliges Klima schildern. Und wie in den meisten Schulen des Landes, in dem Einwanderer aus Europa und der ganzen Welt eine neue Heimat fanden, können die Kleinen auch präzise zeigen, wo jedes Land der Welt liegt, wie die Hauptstädte, und wie die wichtigsten deutschen oder französischen Flüsse heißen. Aber anders als in der Stadt freuen sich die Hirtenkinder, von denen viele vor der Schulzeit noch kein Fernsehen kannten, hier über jede Landkarte und jedes Foto, das die Lehrerin ihnen etwa von Australien, Japan oder dem amerikanischen Kontinent zeigt. Sie vergleichen die Tiere in den Bergen von Córdoba mit denen der sibirischen Steppen und lesen voller Begeisterung und Leidenschaft die Piratengeschichten des italienischen Schriftstellers Emilio Salgari, die Abenteuer von Peter Pan oder die Geschichte von General San Martín, der Argentinien, Chile und Perú im frühen 19. Jahrhundert von der spanischen Kolonialherrschaft befreite. Das kosmopolitische argentinische Bildungssystem, das Modell war für ganz Lateinamerika, verfehlt seine Wirkung auf die Kinder nicht.
Bis zum Jahr 2000 konnten Esmeraldas Schüler lediglich eine siebenjährige Grundschulausbildung absolvieren. Danach mussten sie trotz all ihres Wissens in die Berge zurückkehren und gemeinsam mit ihren Familien die Ziegen und Schafe hüten. "Es war so ungerecht", erinnert sich die Lehrerin noch immer ohnmächtig. "Wir haben sie vorbereitet und ihnen die Wunder der Bücher gezeigt. Und nachdem sie einen Blick in die Welt geworfen hatten, mussten sie in ihr Dasein als Hirten zurückkehren. Nicht, dass das schlecht ist. Die Menschen auf dem Lande sind sehr weise, hier gibt es eine reiche Volkskultur. Aber - davon bin ich überzeugt -, die Kinder müssen die Wahl haben, ob sie im Gebirge bleiben, um das Land zu bestellen und hier weiter zu leben, oder ob sie die Berge verlassen, um sich ein anderes Leben aufzubauen, zum Beispiel als Angestellte oder Arbeiter", sagt sie, und ihr Gesicht drückt absolute Entschlossenheit aus.
Wenn Esmeraldas Schüler ihre Ausbildung fortsetzen wollten, mussten sie die Berge verlassen, eine Unterkunft mieten, und eine der fortführenden Schulen in den Orten auf dem flachen Land besuchen. Das war für viele Kinder nur ein Traum, denn ihre Arbeitskraft ist für die meisten Familien unverzichtbar. Nur 27 von Esmeraldas Schülern konnten sich weiterbilden.
Im September 2000 jedoch, nach zahlreichen Anträgen und vielen Jahren Geduld, erhielt Esmeralda die Genehmigung des Erziehungsministers der Provinz C rdoba, Sekundarstufenunterricht anzubieten, den ersten in den Bergen. In Argentinien umfasst die weiterführende Schulausbildung sechs Jahre: drei für alle Schüler gemeinsam und weitere drei, in denen sich die Schüler spezialisieren.
Seit jenem September sind ehemalige Schüler von Esmeralda in die Klassenräume zurückgekehrt - junge Männer im Alter von 20 Jahren, mit Schwielen an den Händen, die nun die Möglichkeit hatten, ihre Schulbildung fortzusetzen. Die Lehrerin setzte die 18-und 19-Jährigen, die wieder die Schulbank drücken wollten, neben die Kleinen im Alter von 12 und 13 Jahren.
"Die Krise hat uns sehr getroffen", wiederholt Esmeralda. "Ich hatte Angst, dass die Eltern nun die Kinder nicht weiter in die Schule gehen lassen würden, weil sie sie für die Landwirtschaft brauchen und es anderswo kaum noch Arbeit gibt."
Aber Esmeralda ließ sich nicht von der Angst lähmen. Sie stieg auf ihr Pferd und ritt Rancho für Rancho ab, um Überzeugungsarbeit bei den Hirten zu leisten. Um sie zu bitten, ihre Kinder nicht von der Schule zu nehmen. Um ihnen zu sagen, dass "sich dieses Land ohne Ausbildung niemals retten lässt". Vielleicht lag es an der Stichhaltigkeit ihrer Argumente, vielleicht an ihrer unumstößlichen Autorität, vielleicht an beidem: Die Eltern ließen ihre Kindern weiterhin die Schule besuchen.
Ungeachtet aller Schwierigkeiten, so betont Esmeralda, hätten sie es hier oben geschafft, Werte zu bewahren, die inmitten der Verrücktheit und der Hoffnungslosigkeit in den Städten offenbar verloren gegangen seien. "Unsere Aufgabe ist nicht einfach, aber wenn ein Hirtenjunge Lesen und Denken lernt, dann ist das mein größter Sieg", verkündet sie, und ihr strahlendes Lachen steckt an.
Jedes Buch, jedes Illustriertenmagazin, das in die Schule gelangt, ist ein kleiner Schatz. Jeden Fernsehfilm feiern die Schüler wie die allerbeste Theatervorstellung. Und jedes Paar Stiefel oder Schuhe, das Leute schenken, damit die Kinder besser die Bergpfade nehmen können, werden bis zum völligen Verschleiß gehegt und gepflegt. Schulmaterialien, Decken gegen die Kälte, Kleidung, Schuhe - alles ist wie ein Weihnachtsgeschenk für die Kinder. Dafür greift die Lehrerin auch schon mal zum Telefon, oder bittet - nicht demütig, sondern würdevoll - die Leute über den Rundfunk, zu "helfen, womit sie können." Und die Leute helfen immer.
Warum, so wundern sich manche, ist Argentinien noch nicht an der zerstörerischen Wirtschaftskrise zugrunde gegangen? Weil es Menschen wie Esmeralda gibt.
ArgentinienBildungsnotstandDie wirtschaftliche und soziale Krise in Argentinien (vgl. "der überblick" 4/01 und 3/02) wirkt sich immer drastischer aus. Inzwischen gilt die Hälfte aller Argentinier als arm, knapp ein Viertel lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die allgemeine Misere betrifft auch das Schulwesen. In dem soeben zu Ende gegangenen Schuljahr erhielten die Lehrkräfte nur noch ein Gehalt, das kaum zum Leben reicht, und als Folge der Arbeitslosigkeit und Verarmung ihrer Eltern kommen Kinder oft hungrig zur Schule. Eine Reihe von Schulen berichten, dass Kinder im Unterricht vor Hunger in Ohnmacht fallen. In der Provinz Corrientes stellten Ärzte bereits einen Fall von Geophagie fest: Die Kinder einer armen Familie aßen in Ermangelung anderer Nahrung Erde. Und im Norden Argentiniens, insbesondere in der Provinz Tucumán, starben bereits Hunderte von Kindern an Unterernährung. Eine Reihe von Schulen bieten deshalb Schulspeisung an. Das hat sich auch auf das Verhalten der Eltern ausgewirkt: Während früher in den Städten verarmte Eltern die Kinder oft aus der Schule nahmen, damit sie arbeiten und zusätzliches Geld verdienen konnten, schicken sie heute ihre Kinde zur Schule, nicht damit sie Bildung vermittelt bekommen, sondern weil es dort eine warme Mahlzeit am Tag gibt. In den Schulen auf dem Land und in den bergigen Landesteilen wirkt sich die Krise umgekehrt aus. Weil es immer weniger bezahlte Arbeit gibt, nehmen Eltern ihre Kinder aus der Schule, damit sie in der Landwirtschaft zur Selbstversorgung mitarbeiten. Marta Platía |
aus: der überblick 04/2002, Seite 6
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Marta Platía:
Marta Platía arbeitet als Journalistin für die argentinische Tageszeitung "Clarín".