Die Rückkehr der Seelen
Anfang November wird in den Hochlandregionen der Anden das Totenfest "Todos Santos" gefeiert. Es hat sich aus der Vermischung mittelalterlich-christlicher Bräuche mit vorspanischen Riten von der Kolonialzeit bis heute entwickelt. Die Erinnerung an Verstorbene zu Allerheiligen und Allerseelen ist vorwiegend in ländlichen Regionen lebendig: Zu Hause und auf Friedhöfen ist eine intensive Kommunikation mit den dann zurückkehrenden Seelen zu spüren.
von Otto Danwerth
Ob in Malcolm Lowrys "Unter dem Vulkan" (1947) oder in Doris Dörries "Das blaue Kleid" (2002) - die Feier zu Allerseelen auf mexikanischen Friedhöfen bietet vielen Schriftstellern eine willkommene Rahmenhandlung für ihre Romane. Der andere Umgang mit dem Tod bildet dort einen exotisch-folkloristischen Hintergrund. Dagegen bleibt das Totengedenken in Peru und Bolivien im Schatten der westlich-europäischen Wahrnehmung, gleichsam hinter Andengipfeln, verborgen. Wie in Mexiko wird in den Anden Anfang November der Toten gedacht. Allerheiligen gibt dem vom 31. Oktober bis 2. bzw. 3. November dauernden Fest seinen Namen.
Im 9. Jahrhundert setzte sich im christlichen Europa der Brauch durch, mit den Festen Allerheiligen und Allerseelen am 1. und 2. November der Toten zu gedenken. Die "Erfindung des Fegefeuers" Ende des 12. Jahrhunderts trug dazu bei, besonders den für alle Verstorbenen geltenden 2. November populär zu machen. Die Kirche versuchte, die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Seelen zu kontrollieren. Gemeindemitglieder sollten die Erinnerung an die Seelen ihrer verstorbenen Verwandten in Messen, Fürbitten, Gaben und guten Werken pflegen, um den Aufenthalt der armen Seelen im Fegefeuer zu verkürzen. In vielen spanischen Regionen wurden die Gräber mit Opfergaben bedeckt, was zu angeblich heidnischen Riten führte: Man aß auf den Gräbern, zündete Lampen für die Seelen der Verstorbenen an und glaubte an deren Wiederkunft für einen Tag. Diese Vorstellung war auch nach der Reformation nicht nur in katholischen Gebieten weit verbreitet.
In den Anden erstreckte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Inkareich, dessen Zentrum Cuzco war, vom heutigen Ecuador bis nach Chile. Mittels vielfältiger vorspanischer Bestattungsbräuche sollte es den Verstorbenen ermöglicht werden, ins Jenseits zu gelangen. Dort angekommen, lebte sie bei den Vorfahren. Offenbar war jeder Körper mit zwei Seelen versehen: Während zu Lebzeiten die eine im Körper verweilte, war die andere Seele frei. Verließ diese den Körper jedoch für längere Zeit, konnte das zu Krankheit und schließlich zum Tod führen. Sowohl für die Inkaherrscher als auch für lokale Eliten und für das hatun runa, das gemeine Volk, spielte die Mumifizierung eine zentrale Rolle: Der Körper eines Toten galt nicht als unbelebt. Die Trockenleiche eines Ahnen war vielmehr eine huaca, ein heiliges Wesen. Sie hieß auf Quechua, der von den Inka in den Anden verbreiteten Sprache, mallqui - ein Wort, das auch Setzling oder Baum bedeutet und so auf die enge Beziehung zwischen der Welt der Toten und der Fruchtbarkeit in der hiesigen Welt verweist. In prähispanischer Zeit bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der rituell begangenen Rückkehr der Seelen und dem Beginn des landwirtschaftlichen Zyklus' im November, wenn auf der Südhalbkugel Frühling ist.
Als 1532 die spanische Eroberung begann, versuchten Missionare in den Anden, die von ihnen als heidnisch bezeichneten vorspanischen Totenriten durch den christlichen Umgang mit dem Tod zu ersetzen. Priester predigten den Neuchristen von Himmel, Hölle und Fegefeuer; sie bestatteten die Verstorbenen in und bei den Kirchen. Doch es kam immer wieder vor, dass Indigenas ihre verstorbenen Angehörigen dort exhumierten, um sie auf ihren eigenen Gräberfeldern zu bestatten. Spätestens um 1560 waren die rein inkaischen Totenkulte verschwunden, während andine Bräuche weiterhin praktiziert wurden. Diese Erkenntnis setzte sich bei den kolonialen Autoritäten erst im frühen 17. Jahrhundert durch, als in vielen Andenregionen Götzendienst entdeckt wurde. Ein besonders häufiges Vergehen der Götzenverehrer bestand in der Verehrung von Trockenleichen, die von kirchlichen Visitadores gesucht und zerstört wurden.
Die Einführung von Todos Santos durch die spanischen Eroberer ermöglichte ein zeitliches Zusammenfallen mit prähispanischen Riten. Die vereinzelte Vermischung von vorspanischen und katholischen Kulthandlungen blieb den Vertretern der kolonialen Kirche nicht verborgen. So warnte das Dritte Konzil von Lima (1585) vor dem indigenen Glauben, "dass die Seelen der Verstorbenen einsam durch diese Welt irren und Hunger, Durst, Kälte, Wärme und Müdigkeit verspüren; [Y] auf den Gräbern opfern sie ihnen Chicha (Maisbier), Speisen und Fleisch, Geschirr, Kleidung, Wolle und andere Dinge, die den Verstorbenen zugute kommen sollen." Das kirchliche Verbot von Totenspeisen auf den Gräbern, mit dem der Irrglaube bekämpft werden sollte, dass die Seelen davon äßen, zeitigte jedoch keine dauerhafte Wirkung. In vielen andinen Regionen und besonders in den Städten wurde das Totengedenken zur Kolonialzeit weitgehend in katholischen Formen begangen. Doch es mischten sich auch andine Glaubensvorstellungen hinein, die mit dem Katholizismus zusammenpassten.
Trotz regionaler Unterschiede kann das heutige ländliche Hochland von Südperu und Bolivien in religiöser Hinsicht als ein zusammenhängender Kulturraum betrachtet werden. Dabei sollte weniger zwischen den Sprachgruppen Aymara und Quechua als vielmehr zwischen comunidades, den Gemeinden, mit vorwiegend indigener Bevölkerung und Städten mit weitgehend mestizischer Bevölkerung unterschieden werden. In vielen Großstädten werden die traditionellen Bräuche immer weniger beachtet.
Obwohl im gegenwärtigen andinen religiösen System die Mumifizierung keine Rolle mehr spielt, ist die Achtung vor den Vorfahren und Seelen immer noch spürbar. Ihr Andenken wird auch deshalb gepflegt, weil sie in der Vorstellung vieler Andenbewohner auf das Wohl der Lebenden - einen hilfreichen oder einen schädlichen - Einfluss haben können. Der Totenkult wird von den einzelnen Familien der gesamten comunidad mit Gaben und Riten zu Hause und an den Gräbern begangen. In einigen Dörfern organisiert und finanziert ein mayordomo, ein Zeremonienmeister, die Totenfeiern, dem dafür als Gegenleistung soziale Anerkennung entgegengebracht wird. Die Tätigkeit eines solchen von einer Bruderschaft gewählten mayordomo ist aber im Kontext von Allerheiligen eine Ausnahme.
Der enge Zusammenhang von beginnender Regenzeit, Anbau- und Erntezyklus und Totengedenken ist auch heute noch zu beobachten: Todos Santos ist ein Frühlingsfest. Schon ab Mitte Oktober beginnen die Vorbereitungen, zum Beispiel mit dem Brauen von Chicha. Weit verbreitet ist ferner t'anta huahua. Diese Brot-Figuren werden in Form von Kleinkindern, Tieren oder Leitern gebacken und auf dem Markt verkauft. Die Spezialität der Region von Cuzco sind Spanferkel mit gefüllten Maistaschen und cuy, Meerschweinchen.
Im Mittelpunkt der Totentagsfeierlichkeiten steht die ritualisierte Rückkehr der Seelen. Wie schon zu inkaischer Zeit sind mindestens zwei andine Seelenkonzepte zu unterscheiden, die ánimo und alma bzw. ajayu genannt werden. Die alma ist verantwortlich für das moralische Wesen der Person; ihr gelten auch die Totenriten, die ihre Reise ins Jenseits ermöglichen sollen. Der ánimo dagegen ist zuständig für die Lebenskraft und das Bewusstsein eines Menschen. Diese flüchtige Seele kann den Körper auch ausnahmsweise im Leben verlassen, beispielsweise aus Angst.
Eine andere Art der Typisierung von Seelen betrifft deren Alter. Nur almas nuevas von jüngst Verstorbenen werden in den ersten Todos-Santos-Festen nach dem Tod als Individuen betrauert, während man schon länger verstorbener Angehörigen weniger emotional bis gar nicht mehr gedenkt. Junge Seelen können die Form eines Tieres annehmen, etwa die Gestalt einer blauen Fliege, die sich auf Speisen niederlässt.
Weit verbreitet ist der Glaube, dass die Seelen zwischen zwölf Uhr mittags des 1. November und zwölf Uhr mittags des 2. November - nach Hause und auf den Friedhof - zurückkehren. Lediglich in Ausnahmen und für die Seelen verstorbener Kinder (angelitos) finden die Rituale schon einen Tag zuvor statt. Am 1. November werden die Lieblingsgerichte der Verstorbenen zubereitet und zu Hause im besten Zimmer auf einen schwarz bedeckten, geschmückten Tisch oder den Hausaltar gestellt, der von Kerzen und Papier-Blumen umgeben ist. Darauf können sich ein Foto des Verstorbenen, Schüsseln mit Essen und Getränkeflaschen befinden. Manchmal besteht ein apxata, ein Seelenaltar, auch aus mehreren Ebenen. Es ist wichtig, diese Gaben bereitzustellen, denn sonst wären die Seelen wütend und würden die Lebenden bestrafen.
Die Rückkehr der Seelen wird je nach Region zwischen dem späten Morgen und dem Mittag des 1. November erwartet. Sobald die Kerzen auf dem Hausaltar angezündet sind, ein Gebet für den Verstorbenen gesprochen ist und die Brot-Figuren getauft sind, sagt man, dass die Seele am apxata ankommen sei. Nach der freudigen Begrüßung empfangen die Angehörigen des Verstorbenen Verwandte und Bekannte, die für ihre Gebete Brote und Lebensmittel erhalten. Gleichzeitig bittet man die Seelen um Hilfe bei der Arbeit und um Fürbitten bei Gott. Die Gebete dauern bis zum Morgen des 2. November. Auch während der Nachtwache werden den Besuchern Speisen und alkoholische Getränke angeboten. Man vertreibt sich die Zeit mit Trinken und Spielen.
Nachdem an Allerheiligen die Gräber gereinigt und mit Kerzen, Blumen und Kränzen geschmückt wurden, steht dem Gang zum Friedhof am 2. November nichts mehr entgegen. In vielen peruanischen Hochlandregionen lässt sich eine Trennung der Friedhöfe einerseits in Nischengräber und Mausoleen für Weiße und Mestizen, andererseits in Erdgräber für die indigene Bevölkerung beobachten. Während ein Nischengrab die soziale Stellung des Verstorbenen betont, stellen Erdgräber für die meisten Menschen aufgrund ihres weitaus geringeren Preises die einzige Möglichkeit der Bestattung dar. Manchmal sind die Sichtfenster der Nischengräber zerbrochen, und Blumen bilden den einzigen Schmuck. In der Region um Cuzco wird besonders die weiße hamank'ay geschätzt: ein Schleierkraut, das den Toten angeblich besonders gut gefällt. Häufig spiegeln sich in den liebevoll gestalteten "Schaufenstern der Toten" ihre Vorlieben und ihr sozialer Status. Erdgräber werden mit Hacken aufgelockert, dann mit Steinen, Blütenblättern und Kränzen geschmückt.
Allerseelen ist der zentrale Tag des Totengedenkens. In seinem Mittelpunkt stehen der Besuch auf dem Friedhof und das gemeinsame Essen mit den Verstorbenen. Nach dem Besuch einer Messe geht man festlich gekleidet am späten Vormittag auf den camposanto, auf den Friedhof, wo an den Gräbern gebetet wird. Man sagt, dass die Seelen den Friedhof in Form von Fliegen oder Wind erreichen, um sich mit ihren Körpern in den Gräbern für kurze Zeit wieder zu vereinigen. Das gemeinsame Mahl findet am oder auf dem Grab des Verstorbenen statt, für dessen Seele ein Teller freigehalten wird. Bei diesen oft stundenlangen Picknicks dominieren Gerichte, die der Verstorbene zu Lebzeiten gern aß, und lokale Spezialitäten: Verbreitet sind Mais, Kartoffeln, Eier, Gemüse, Brot, Fleisch, Süßigkeiten, Früchte, Cocablätter, Zigaretten und hochprozentiger trago. Wenn die Speisen durch das stundenlange Stehen an Geschmack verlieren, gilt das als Zeichen dafür, dass die Seelen davon gekostet haben. Eine weitere Gabe für die Verstorbenen stellt das Trankopfer dar: Durch Versprengen von Alkohol auf dem Grab ist der Gegenseitigkeit genüge getan.
Nicht nur Priester, sondern auch Vorbeter sprechen - gegen die Zahlung eines Obolus - Gebete für die Seele der Verstorbenen, so genannten Responsorien. Oft vermischen sich dabei Spanisch, Lateinisch und Quechua zu einem schwer verständlichen Singsang. Die Angehörigen erinnern sich an das Leben der verstorbenen Person, zu deren Ehren Musik - mit Geigen, Trompeten oder elegischen Liedern - gemacht wird.
Auf dem Friedhof und auch nach der Rückkehr am Abend wird ausgiebig getrunken, geraucht und Coca gekaut. Der manchmal exzessive Alkoholkonsum von Chicha, Bier und trago führt bisweilen zu Streitigkeiten. In einigen Regionen werden auch rituelle Kämpfe ausgetragen, bei denen Blut fließt und Menschen sterben können. Unblutige Wettkämpfe stellen dagegen einige für den Totentag typische Spiele dar. In Bolivien ist besonders palama beliebt: Zwei Mannschaften werfen dabei mit etwa zehn Zentimeter großen Steinen in einer Art Boccia-Spiel.
Je nach Region wird der Abschied von den Seelen noch auf dem Friedhof am späten Nachmittag, in der Nacht und manchmal erst am 3. November begangen. Nachdem auf dem Friedhof die restlichen Gaben verteilt worden sind, spielen die Kinder mit den Brot-Figuren oder essen sie auf. Man wechselt die Trauerkleidung gegen Festkleidung und feiert, dass die Seelen nun wieder im Jenseits angekommen sind. Der Abschied von den Seelen (despedida de las almas) markiert also den Übergang in eine heitere Abschlussphase des Totenfests, in der Feier, Tanz, Spiele und Trinken dominieren. Nach dem Friedhofsbesuch kehren einige nach Hause zurück; andere besuchen dagegen Gaststätten nach dem Motto: "Wir essen, wir trinken, solange wir auf dieser Welt sind." In einigen Regionen dauert dieser Abschied, mit dem das zentralandine Totengedenken ausklingt, mehrere Tage.
Der rituelle Ablauf der Totentags-Feiern in vorwiegend ländlichen Gebieten unterscheidet sich von den Feierlichkeiten, wie Allerheiligen in einer Stadt, etwa in Cuzco, begangen wird. In der 3350 Meter hoch gelegenen, ehemaligen Inka-Hauptstadt leben heute fast 300.000 Einwohner, die sowohl das urbane Leben einer mittelgroßen Stadt als auch die ländliche Kultur aus den umliegenden Regionen repräsentieren. Auf den zwei Friedhöfen La Almudena und Huancaro von Cuzco werden die unterschiedlichen öffentliche Umgangsformen mit dem Tod sichtbar. Obwohl an beiden Orten der enge Kontakt zwischen Lebenden und Verstorbenen spürbar ist, erfolgt das Totengedenken auf ganz unterschiedliche Art und Weise.
Während der Friedhof im Stadtteil La Almudena eher von spanischen und mestizischen Traditionen beeinflusst ist, wird auf dem camposanto von Huancaro das andine Erbe lebendig. Unterschiede lassen sich schon an den vorherrschenden Grabformen feststellen: La Almudena besteht ausschließlich aus Nischengräbern, in Huancaro dominieren dagegen die Erdgräber, obwohl der Eingangsbereich dieses Friedhofs auch über einen Nischengrab-Komplex verfügt. Weitere Aspekte - wie Ambiente, Kleidung, Speisen, Sprache - bestätigen den unterschiedlichen sozialen und ethnischen Hintergrund der jeweiligen Bevölkerungsgruppen. In La Almudena dominiert die Sonntagskleidung mestizischer Besucher. Durch die Gänge zwischen den Nischengräbern sieht man Priester, Ministranten und Ordensleute eilen, die auf Spanisch Responsorien sprechen. Manche Besucher trinken CuzqueZa-Bier an den wie Schaufenster mit Fotos und persönlichen Gegenständen der Toten geschmückten Alveolen, was einige Familienangehörige per Video filmen. Musik wird vorwiegend von einer Blechbläser-Combo und von einem blinden Akkordeonisten gespielt. Nachdem sie einige Stunden auf dem Friedhof verbracht haben, gehen die Menschen in Restaurants oder an Straßenständen zum Essen.
Dagegen tragen in Huancaro die vorwiegend indianischen Friedhofsbesucher zumeist andine Kleidung wie Sandalen und traditionell gewebte Textilien, aber auch gewöhnliche Alltagskleidung. Auf dem am Stadtrand Cuzcos gelegenen, großräumigen Friedhof bedecken hunderte Erdgräber den hügeligen Grund, auf dem die bunten Massen sich bewegen. Keine Priester, sondern lokale religiöse Spezialisten spenden Trankopfer, indem sie den Toten Alkohol aus einer Korbflasche auf das Grab schütten und dabei auf Quechua Gebete sprechen. Bei den Picknicks auf den liebevoll hergerichteten Erdgräbern essen Großfamilien mitgebrachte Speisen und trinken Chicha, das in Eimern herbeigeschafft wurde. Während Musiker auf Geigen melancholische Huainos intonieren, bleiben die Familien um die Kreuze ihrer verstorbenen Angehörigen bis zum Einbruch der Dunkelheit sitzen.
Diese Unterschiede zwischen den Gedenkbräuchen mestizischer und indigener Friedhofsbesucher spiegeln auch die jeweilige Form der religiösen Vermischung wider.
Trotz der vielfältigen und sinnenfreudigen Erinnerungsriten bleiben die Friedhöfe in den Anden von Touristen verschont. Todos Santos mag hier nicht so pittoresk sein wie in Mexiko, wo man sich ausgiebig über den Tod mokiert, ihn in allen süßen Formen verspeist und bei nächtlichen Feiern auf den Friedhöfen mit ihm lebt. Doch wie lässt sich erklären, dass der andine Umgang mit dem Tod in Europa kaum wahrgenommen wird? Vielleicht gibt es keinen peruanischen oder bolivianischen Literaten, der es wie der Mexikaner Octavio Paz in seinem "Labyrinth der Einsamkeit" (1950) vermocht hat, dem Totentag ein bleibendes Denkmal zu setzen. Auch Mario Vargas Llosas auf Deutsch "Tod in den Anden" (1993, deutsch 1996) betiteltes Buch kann daran nichts ändern: In diesem Kriminalroman geht es zwar um Mord und Totschlag, nicht aber um die ritualisierte Rückkehr der Seelen.
aus: der überblick 02/2003, Seite 72
AUTOR(EN):
Otto Danwerth:
Otto Danwerth ist Historiker mit dem Spezialgebiet "Geschichte Lateinamerikas". Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Museum für Völkerkunde in Hamburg.