"Einige wenige Fanatiker sind das Problem"
In Indien machen Naturkatastrophen oft schnelle Hilfe nötig. Zunehmend stürzen aber auch Konflikte zwischen religiösen Gruppen viele Inder in Not und machen die Hilfe schwieriger, erklärt Sushant Agarwal, der Direktor von Church Auxiliary for Social Action (CASA). Die Hilfsorganisation von 24 protestantischen und orthodoxen Kirchen Indiens ist bei der Nothilfe ein Partner der Diakonie-Katastrophenhilfe; ihre Entwicklungsarbeit wird unter anderem vom EED unterstützt.
Die Fragen stellte Bernd Ludermann
In welchen Teilen Indiens arbeiten Sie?
Nothilfe leistet CASA in ganz Indien. Entwicklungsprogramme unterhalten wir in 22 Bundesstaaten - nicht in den relativ entwickelten wie Punjab und Harijana. Zudem haben wir vor zehn Jahren zusammen mit ökumenischen Organisationen in Nepal, Bangladesch und Sri Lanka ein Netzwerk gegründet, um Ursachen von Naturkatastrophen in verschiedenen Regionen am Himalaya zu untersuchen und von den Stärken der anderen zu lernen. Eine Kernkompetenz von CASA ist Hilfe bei Katastrophen.
Nach welchen größeren Katastrophen hat CASA zuletzt helfen müssen?
Immer wieder nach Naturkatastrophen wie 1999 nach einem Zyklon in Orissa, bei dem 50.000 Menschen umkamen. 2001 gab es ein Erdbeben in Gujarat (vgl. “der überblick” 2/2001), Westbengalen wurde 2000 und 2001 von Fluten heimgesucht; dieses Jahr gab es riesige Überflutungen in Bihar und Assam.
Haben Sie auch mit den Folgen von Gewalt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu tun?
Ja. Sie erinnern sich vielleicht an die Ausschreitungen in Gujarat im Jahr 2002. Eine Gruppe Hindus, die sich für den Aufbau eines Tempels an der Stelle der 1992 zerstörten Moschee von Ayodhya einsetzte, kam mit dem Zug aus Ayodhya zurück. In Gujarat geriet der Zug in Brand oder wurde in Brand gesetzt - das werden wir vielleicht nie erfahren. Über 50 Menschen kamen um, überwiegend Hindus. Das löste schwere Übergriffe auf die muslimische Bevölkerung aus. Rund 300.000 Menschen mussten fliehen, und die meisten sind meines Wissens nie in ihre Dörfer zurückgegangen.
CASA half zu der Zeit beim Wideraufbau nach dem Erdbeben von 2001 in Gujarat. Wir wollten nun auch den Flüchtlingen helfen. Aber die Regierung des Bundesstaates erklärte, wir sollten ihr die Mittel geben, damit sie die Opfer versorgte. Das tun wir niemals, weil wir nicht wissen können, wohin die Hilfe dann fließt. Darüber hinaus wussten wir, dass die BJP-geführte Regierung von Gujarat den Aufruhr begünstigt hatte, ja dass sie insgeheim hinter den ganzen Übergriffen stand. Die Behörden sahen uns in einem schiefen Licht: Sie dachten, wir wollten den Muslimen helfen, weil Christen und Muslime in Indien gemeinsam zur Gruppe der Minderheiten gehören. Aber wir haben das schlicht getan, weil die meisten Geflohenen nun einmal Muslime waren. Bei kommunalen Konflikten in Indien gehören immer die meisten Opfer zu den Minderheiten. Um ihnen in Gujarat zu helfen, mussten wir am Ende den Weg über lokale Partnergruppen nehmen.
Über muslimische Organisationen?
Nein, nicht unbedingt religiöse Gruppen. Das Großartige an der indischen Zivilgesellschaft ist, dass die verschiedenen Organisationen in Krisen zusammen dem Volk beistehen und sich nicht für die Religionszugehörigkeit interessieren. Das Problem ist, dass einige wenige Fanatiker, die es in allen Religionen gibt, Emotionen aufstacheln und Gewalt auslösen.
Können Basisorganisationen, die auf eine religiöse oder ethnische Gruppe konzentriert sind, nicht auch Konflikte schüren?
Dieses Problem gibt es in Indien nicht. In Gujarat zum Beispiel hat CASA eine methodistische Organisation mit der Wiederaufbau-Hilfe betraut, und die hat rund 300 Menschen dafür angestellt. Über 200 davon waren Muslime. Sie wurden in den Hindu-Dörfern, in denen wir gearbeitet haben, nie angegriffen, obwohl wir wissen, dass es Gruppen gab, die dazu angestiftet haben. Wir haben lediglich während der fünf Tage der heißesten Kämpfe vorbeugend eine Arbeitspause eingelegt. Niemandem von CASA ist etwas geschehen. Es kommt eben darauf an, Vertrauen zu gewinnen. Als wir in Gujarat zu helfen begannen, hieß es zunächst: Die Christen kommen. Hinterher haben die Menschen verstanden, dass wir ohne Ansehen der Religion helfen.
Ist es unter den Kirchen Indiens Konsens, die Hilfe von Mission frei zu halten?
Unter den großen Kirchen ja - unter denen, die Mitglied des indischen Christenrates sind. Aber viele sind zunehmend besorgt über die aktive Missionstätigkeit von unabhängigen Kirchen und selbsternannten Gruppen und Predigern. Die sind leider niemandem rechenschaftspflichtig.
Einheimische oder ausländische Prediger?
Einheimische; ausländischen ist diese Tätigkeit verboten. Diese Gruppen mögen aber vom Ausland unterstützt werden. Der Trend ist gefährlich, auch für CASA. Zum Beispiel wurde 1999 in Orissa ein australischer Missionar, der seit 1965 in Indien lebte, zusammen mit seinen beiden Söhnen von einem Mob unter Führung eines Hindu-Fanatikers ermordet. Kurz darauf wurde Orissa von einem Wirbelsturm verwüstet. Da haben einige Kirchenführer - soweit ich weiß, nur aus unabhängigen Kirchen - öffentlich erklärt, das sei die Strafe Gottes für den Mord. Können Sie sich vorstellen, in welch schwierige Lage das uns als Hilfswerk gebracht hat?
Ich selbst sah, als CASA Hilfsgüter verteilte, einen vielleicht 12-jährigen Jungen ohne richtige Kleidung, der sein Heim verloren hatte, an der Straße stehen mit einem Stapel Papier in der Hand. Auf die Frage, was er da machte, sagte er: Ich weiß es nicht, jemand hat mir zehn Rupien gegeben, damit ich das hier verteile. Es handelte sich um Bibel-Traktate. Soll man solche Situationen ausnutzen, um derart über Christus zu reden? Der Grundsatz von CASA ist, durch Taten die Liebe Gottes mit Menschen in Not zu teilen. Die Verkündigung ist Sache der Kirchen und nicht von CASA. Durch solche Missionsversuche kann CASA leicht in Verruf geraten.
Versuchen Sie, kommunalen Konflikten entgegenzuwirken?
Unser Entwicklungsprogramm arbeitet mit 250 Partnerorganisationen in 10.000 Dörfern. Dort sprechen wir auf Versammlungen den Wert von Frieden und harmonischem Zusammenleben an. Wir wollen uns jetzt stärker darum kümmern, mit den Kindern im Alter von bis zu 14 Jahren zum Thema Gewalt zu arbeiten. Außerdem haben wir begonnen, Mitarbeitende fortzubilden, damit sie wiederum Menschen dazu ausbilden, Dialoge zwischen verschiedenen Religionen an der Basis zu organisieren.
Woher stammt das Geld für die Katastrophenhilfe von CASA?
Wir gehören zu den Mitgliedern von Action by Churches Together (ACT), einer Allianz der im Ökumenischen Rat der Kirchen und im Lutherischen Weltbund vertretenen Kirchen und der mit ihnen verbundenen Hilfswerke. Sie sammelt weltweit Mittel für Nothilfe und stellt sie den Kirchen und Werken im betroffenen Land zur Verfügung. Bei schweren Wirbelstürmen oder Erdbeben sammeln auch die indischen Kirchen in ihren Gemeinden Spenden für die Opfer. Zudem gibt uns die Regierung Zuschüsse. Je nachdem, welche Bedingungen damit verbunden sind, nehmen wir sie oder auch nicht.
aus: der überblick 04/2004, Seite 120