Das Demokratiedefizit hinter Kasachstans stabilen Verhältnissen
Seit der Unabhängigkeit hat vor allem eines Bestand in Kasachstan, die Person des Präsidenten. Der Grund für Nasarbajews fulminante Wahlsiege ist nicht nur die boomende Ölwirtschaft. Das Ausrufen vorzeitiger Neuwahlen und das Absetzen potenzieller Rivalen gehören zu den Instrumenten seines Machterhalts. Wo das nicht reicht, greift Repression.
von Sally N. Cummings
Seit 1991 hat die Republik Kasachstan zwei Verfassungen, fünf Parlamente und sechs Premierminister erlebt, aber nur einen Präsidenten, Nursultan A. Nasarbajew. Obwohl zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit weniger als fünfzig Prozent der Bevölkerung der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) Kasachen waren, erbte diese ethnische Gruppe doch einen entstehenden Staat, der ihren Namen trug. Trotz instabilen Umfelds hat die Republik sich wirtschaftlich besser entwickelt, als die meisten Beobachter dies 1991 für möglich gehalten hätten. Im kasachischen Boden ist jedes natürlich vorkommende Element des chemischen Periodensystems zu finden. Besonders reich ist das Land an Öl und Gas. Allein aus dem Kaschagan-Ölfeld im kasachischen Teil des Kaspischen Meeres könnte mehr Öl gefördert werden als im gesamten Staat Texas.
Bereits 1997 wurden in der Republik pro Kopf mehr ausländische Direktinvestitionen getätigt als in jedem anderen postsowjetischen Staat. 1999 wies Kasachstan seinen ersten Haushaltsüberschuss aus und 2002 wurde es vom US-Handelsministerium als Marktwirtschaft eingestuft. All das hat dem Präsidenten geholfen, seine Macht zu wahren. Im Dezember 2005 wurde er wiedergewählt.
Seit seiner Unabhängigkeit hat Kasachstan drei unterschiedliche politische Phasen durchlaufen. Die erste Phase von 1992 bis 1995 zeichnete sich durch Liberalisierung aus. Danach begann mit Inkrafttreten der zweiten Verfassung eine zweite Phase bis 1999, deren Hauptmerkmal die Konsolidierung der Macht war. Zunehmende Repressionen, Spaltung der Eliten in Splittergruppen und technokratische Legitimation staatlichen Handelns prägten schließlich die jüngste Phase.
Präsident Nasarbajew vormals erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen SSR wurde im Dezember 1991 mit einem an die Sowjetzeit erinnernden Stimmenanteil von 98,7 Prozent zum Präsidenten Kasachstans gewählt. Kasachstans erste Verfassung aus dem Jahr 1992 kam als politische Kompromisslösung dem neuen Parlament der Republik entgegen und sicherte diesem eine Teilhabe an der Macht zu. So waren schon seit der Unabhängigkeit immer oppositionelle Kräfte im Parlament vertreten, am stärksten bis Mitte der neunziger Jahre. Auch nichtstaatliche politische Bewegungen waren in dieser Zeit am aktivsten. Im Jahr 1993 ersuchte der Präsident das Parlament, sich selbst aufzulösen. Er rechtfertigte die Selbstauflösung mit dem Argument, das unabhängige Kasachstan habe noch keine demokratischen Wahlen durchgeführt. Diese wurden im März 1994 abgehalten und Nasarbajew-Unterstützer gewannen eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Premierminister Sergei Tereschtschenko, der erste seit der Unabhängigkeit, musste im Verlauf des selben Jahres zurücktreten. Er war wegen seiner konzeptionslosen Wirtschaftspolitik in die Kritik geraten. Außerdem wurde ihm angekreidet, dass er den Verwaltungsbezirken zu viel Unabhängigkeit gewährte.
Unter dem neu ernannten Premier, Akeschan Kaschegeldin, begann mit Inkrafttreten einer neuen Verfassung im Jahr 1995 eine neue Phase in der politischen Geschichte des Landes. Diese Verfassung sicherte der Exekutive Einfluss auf das Parlament und die Judikative und verhinderte jede echte Gewaltenteilung. Das machte es für Kaschegeldin leichter, eine schnelle Massenprivatisierung von Industriebetrieben durchzuziehen. In keinem anderen postsowjetischen Staat wurden in einem Zug so viele Verträge zur Übergabe staatlicher Betriebsführung an Private abgeschlossen wie in Kasachstan. Damit einher ging ein mehr und mehr autoritärer Regierungsstil und eine fortschreitende Zentralisierung der Macht. Nasarbajew sicherte sich 1995 mit einem Referendum den Machterhalt für fünf weitere Jahre. Er entzog sich damit der Pflicht, 1996 Wahlen durchzuführen, und setzte die nächsten Präsidentschaftswahlen für das Jahr 2000 an. Das Parlament der Legislaturperiode 1995 bis 1999 erwies sich als sehr viel fügsamer als seine Vorgänger. Ohnehin waren 42 der 177 Abgeordneten vom Präsidenten ernannt worden.
Nachdem jedoch Kaschegeldin einen wesentlichen Teil des Privatisierungsprogramms umgesetzt hatte, sah Nasarbajew in ihm einen politischen und wirtschaftlichen Rivalen und ersetzte ihn 1997 durch den Ölindustriellen Nurlan Balgimbajew. Balgimbajew, kaum im Amt, stoppte das Programm der Börsengänge und Privatisierungen. Seine neue Wirtschaftspolitik der Rezentralisierung hatte allerdings einen wirtschaftlichen Rückschlag zur Folge.
Nasarbajew setzte daraufhin auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen im Januar 1999 und gewann diese mit überwältigender Mehrheit. Der Wahlausschuss hatte seinen einzigen ernsthaften Herausforderer, Kaschegeldin, der Geldwäsche in Belgien bezichtigt. Ferner wurde ihm seine Teilnahme an einem Treffen der Partei mit dem Namen Für ehrliche Wahlen vorgeworfen, weil die Partei noch nicht zugelassen war und das Treffen somit illegal gewesen sei. Deshalb wurde Kaschegeldins Kandidatur für das Präsidentenamt nicht zugelassen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewertete in der Folge die Wahlen als nicht frei und fair und erkannte das Wahlergebnis nicht an: den überwältigenden Wahlsieg Nasarbajews.
Die Nichtanerkennung des Wahlergebnisses durch die OSZE war immerhin ein Präzedenzfall. Aber von internationaler Kritik ließ sich Nasarbajew nicht beeindrucken. Und um die Kritik an seiner Wirtschaftspolitik im Lande selbst abzuwehren, ersetzte der Präsident den Premierminister Balgimbajew, der nicht mehr in seiner Gunst stand, durch einen anderen loyalen Anhänger, den damaligen Außenminister Kasymschomart Tokajew. Weil Wirtschaftsreformen weiterhin ausblieben, wuchs die Unzufriedenheit im Kader technischer Fachkräfte, die in der Amtszeit von Kaschegeldin gefördert worden waren. Die Unzufriedenheit wurde zudem dadurch geschürt, dass Nasarbajews Schwiegersohn Rachat Aliew, in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des nationalen Sicherheitskomitees ein Übermaß an Macht angesammelt hatte. Deshalb schritten die Unzufriedenen im November 2001 zur Tat: Sie gründeten die Oppositionspartei Kasachstans Demokratische Wahlalternative.
In einem taktischen Schachzug ernannte Nasarbajew Anfang 2002 Imangali Tasmagambetow zum Premierminister, einen Kandidaten, mit dem auch die Elitegruppen der neuen Oppositionspartei leben konnten. Der neue Premier blieb aber nur knapp über ein Jahr im Amt, dann ging der Präsident wieder auf Nummer sicher und machte Daniel Achmetow zu dessen Nachfolger. Dieser war ein loyaler Protegé, der in den Nordgebieten zuverlässige Dienste geleistet hatte.
Im Parlament der Legislaturperiode 1999 bis 2004 waren bereits die wenigsten Angehörigen höherqualifizierter Berufe und die meisten Regierungsanhänger oder Wirtschaftsvertreter seit der Unabhängigkeit zu verzeichnen. Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom September 2004 aber setzte noch eins drauf: 76 von 77 Sitzen fielen an Abgeordnete regierungstreuer Parteien. Die Härte der Repressionen seitens des Regimes nahm jetzt weiter zu, und eine Vielzahl von Gesetzen wurden verabschiedet, um die Aktivität oppositioneller Bewegungen einzuschränken. Präsident Nasarbajew zog nach bewährter Praxis die Präsidentschaftswahlen um ein Jahr auf Dezember 2005 vor. Mit 91 Prozent der Stimmen wurde er im Amt bestätigt. Bei einer Kabinettsumbildung Anfang 2006 behielt Premier Achmetow seinen Posten. Oppositionelle kamen entgegen der Versprechungen nicht in die Regierung.
Um sich an der Macht zu halten, bedient sich das Regime formeller und informeller Mittel. Anders als in den Nachbarländern Usbekistan oder Turkmenistan war Kasachstans Regierungsführung nicht durchwegs autokratisch. Es gab Phasen der Liberalisierung ebenso wie Phasen der Einschränkung von Freiheiten. Bekenntnisse zur Liberalisierung waren für die Zeiten vor Präsidentschaftswahlen typisch. So wurden in der Ansprache des Präsidenten im September 1998 mehr Freiheiten für politische Bewegungen und die Medien versprochen, und vor den Wahlen im Dezember 2005 versprach der Präsident, Mitglieder der Opposition in die Regierung zu holen. Repressive Phasen waren vor allem nach einer Machtkonsolidierung des Präsidenten zu beobachten, zum Beispiel nach dem Referendum des Jahres 1995 und nach der Wahl von 1999 oder auch nach einer offenen Spaltung innerhalb der Eliten wie etwa im November 2001.
Im Juli 2002 brachte Nasarbajew ein neues Gesetz über politische Parteien ein, das für die meisten Oppositionsbewegungen das Ende bedeuten sollte. Aussichtsreiche Oppositionskandidaten mussten feststellen, dass eine Registrierung zur Wahl schwierig und der Zugang zu den Medien eingeschränkt war. Zum Teil ist die Schwäche der Opposition allerdings auch ihrem Mangel an charismatischen Führungspersönlichkeiten und ihrer Uneinigkeit zuzuschreiben. Immerhin schlossen sich 2002 drei wichtige Oppositionsbewegungen Kaschegeldins Republikanische Volkspartei Kasachstan (RVPK), Azamat und der Volkskongress Kasachstan zur Vereinigten Demokratischen Partei zusammen. Es sollte ihnen jedoch schwer fallen, auf Dauer eine gemeinsame Position zu vertreten.
Wo die Opposition sich nicht selber schwächt, tut der Staat das seinige: Die zwei prominentesten Führer der Partei Kasachstans Demokratische Wahlalternative wurden wegen Korruption und Amtsmissbrauch zu Haftstrafen verurteilt. Im Januar 2003 wurde der oppositionelle Journalist Sergei Duwanow wegen angeblicher Vergewaltigung inhaftiert. Im November 2005 wurde der Oppositionspolitiker Samanbek Nurkadilow mit drei Kugeln im Körper tot aufgefunden es soll Selbstmord gewesen sein. Im Februar 2006 wurden der Oppositionspolitiker Altynbek Sarsenbajew sowie sein Leibwächter und sein Fahrer tot im Auto aufgefunden. Kasachische Nachrichtenagenturen meldeten zunächst einen unglücklichen Jagdunfall. Doch dann bedauerte Präsident Nasarbajew in einem Kondolenzschreiben die Ermordung des Politikers. Und inzwischen ist auch schon der politisch Verantwortliche gefunden: Nasarbajew entließ den Chef des Geheimdienstes KNB, Nartaj Dutbajew.
Die Verfassung von 1995 gewährt dem Präsidenten, der an ihrer Entstehung aktiv mitwirkte, und der Exekutive ein Übermaß an Macht. Das Regime hat ausreichend legale Mittel zur Hand, um das Parlament und die Judikative zu schwächen. Der Präsident kann einige Parlamentsmitglieder und Richter selbst ernennen. Er kann Verordnungen an Gesetzes Stelle erlassen und das Parlament jederzeit auflösen. Das Gesetz über politische Parteien aus dem Jahr 2002 legte für die Mitgliedschaft in und die finanziellen Anforderungen an Parteien so strenge Maßstäbe an, dass in der Praxis nur regierungsfreundliche Parteien eine Überlebenschance hatten. Ferner wurden im Zuge der Zentralisierung rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die regionale Sezessionsbestrebungen im Zaum halten sollten.
Wo legale Mittel nicht ausreichend zur Verfügung standen, hat die Machtelite häufig zu anderen gegriffen, etwa der Wahlfälschung. Ende der neunziger Jahre ist sie zunehmend dazu übergegangen, sich im Umgang mit politischen Parteien, den Medien und unloyalen Bürgerinnen und Bürgern repressiver Maßnahmen zu bedienen.
Die Machtelite behält ihren Vorsprung vor ihren Konkurrenten auch dadurch, dass sie deren politische Positionen übernimmt, wo dies zweckdienlich ist. Diese Strategie kommt zum Beispiel in dem komplexen Projekt der Nationbildung zum Einsatz. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1991 bildeten als Folge der slawischen Besiedlung und der Zwangsdeportationen in der sowjetischen Ära Nicht-Kasachen die Mehrheit der Einwohner im Land. Eine kasachische Elite konnte daher die Republik nicht einfach für sich beanspruchen, und das ideologische Vakuum, das der Zusammenbruch des Kommunismus hinterlassen hatte, konnte nicht automatisch mit Nationalismus aufgefüllt werden.
Die Elite machte sich daran, im In- und Ausland ein neues Image aufzubauen. Dazu setzte es die neuen Symbole der staatlichen Souveränität ein Staatswappen, Staatssiegel, Flagge, Hymne, Währung und Staatsbank.
Bei offiziellen Anlässen zeigt sich der neue Staat Kasachstan der Welt als unabhängiger, moderner und säkularer international Player. In der Verlegung der Hauptstadt von Almaty im Südosten nach dem zentral gelegenen Astana (früher Akmola) kommt dies ebenfalls zum Ausdruck. Insgesamt fließen jährlich umgerechnet zwei Milliarden US-Dollar in den Wiederaufbau des Stadtzentrums von Astana als neues Staatszentrum. Seit der Verlegung der Hauptstadt im Jahr 1997 hat sich die Bevölkerung Astanas in etwa verdoppelt. Heute leben in Astana rund 600.000 Menschen, im Jahr 2030 sollen es 1,2 Millionen sein.
Die Elite an der Macht versucht, gleichzeitig für eine gemeinsame kasachische Bürgeridentität zu werben, die Identitäten verschiedener Kulturen zu pflegen und die kasachische Bevölkerungsgruppe, die dem Staat seinen Namen gab, besonders zu fördern. In seiner Erklärung, Ideinaia, betonte der Präsident 1993 die Notwendigkeit, den Frieden zwischen den ethnischen Gruppen zu festigen, die Einheit der Kasachen zu stärken und die Menschen so zu erziehen, dass sie sich nicht mehr mit der UdSSR oder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) identifizieren. Gleichzeitig bekennt sich die Elite zum Schutz der kulturellen Rechte verschiedener ethnischer Gruppen, einschließlich der Kasachen. Dank Nasarbajews internationalistischer Rhetorik und dank der von ihm geschaffenen Institutionen, welche die Rechte der nicht-kasachischen ethnischen Gruppen pflegen sollen etwa der Volkskammer und nationalen Kulturzentren , haben nationalistische Tendenzen im kasachischen Institutionengefüge wenig Erfolgschancen.
Die dritte Schiene des Programms fördert explizit die Wiederbelebung des kasachischen Kulturguts. Symbolischen Ausdruck findet diese kulturelle Renaissance des Kasachentums zum Beispiel in den Gedenkfeiern für historisch bedeutende kasachische Persönlichkeiten, nach denen auch Straßen benannt werden. Darüber hinaus soll ein kollektiver Prozess der Geschichtsumschreibung, in dem auch auf das Leid eingegangen wird, das der kasachischen Bevölkerung in Zeiten der Kollektivierung und der Sesshaftmachung zugefügt wurde, eine stärkere Identifikation der Kasachen mit ihrer Vergangenheit ermöglichen.
Nach seiner Wiederwahl im Dezember 2005 bekräftigte der Präsident in seiner Antrittsrede am 11. Januar 2006 einmal mehr seine Absicht, sich vorrangig um die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes zu bemühen. Nasarbajew versprach, Kasachstan in die Liga der 50 Länder mit dem höchsten Entwicklungsstand der Welt einzureihen, und betonte insbesondere den geplanten Beitritt Kasachstans zur Welthandelsorganisation (WTO) sowie seine Bewerbung um den OSZE-Vorsitz im Jahr 2009. Um bei der im Dezember 2006 anstehenden Entscheidung über den OSZE-Vorsitz eine Chance zu haben, wären jedoch Reformen in Richtung einer Stärkung der parlamentarischen Macht und einer Ausweitung des Wahlprinzips auf die kommunale Ebene nötig, wie es sie früher schon einmal gab. Angesichts des haushohen Wahlsiegs Nasarbajews ist von Seiten der Opposition wenig Initiative für solche Reformen zu erwarten. Das autoritäre Regime selbst müsste paradoxer Weise die Demokratisierung betreiben.
aus: der überblick 01/2006, Seite 52
AUTOR(EN):
Sally N. Cummings
Dr. Sally N. Cummings ist Direktorin des Institute of Middle East, Central Asia and Caucasus Studies (MECACS) der Universität von St. Andrews in Schottland.