Die familiäre Krankenversorgung im ländlichen Tansania stößt an ihre Grenzen
»Irgendwann war er so dünn geworden, dass ich ihn zum Waschen ins Badezimmer getragen habe wie ein kleines Kind«, seufzt Mama Samson. Nachdem sie ihre Kinder groß gezogen hatte, musste sie ein zweites Mal die Mutterrolle übernehmen. Sie hat mehrere ihrer erwachsenen Söhne pflegen müssen bis zu deren Tod infolge von AIDS. Für den Tod machte die Mutter deren weltlichen Lebenswandel verantwortlich. Andere Familienmitglieder führten das Familienunglück auf die Vernachlässigung ritueller Verpflichtungen zurück.
von Hansjörg Dilger
Während ihrer Ehe mit Opiyo Mrungu schenkte Mama Samson drei Töchtern und acht Söhnen das Leben. Sie war weitgehend allein verantwortlich für die Ausbildung der Kinder und die Frage, wie sie das Geld für die Schulgebühren und die Kleidung der Kinder zusammen bekommen könnte. Ihr Ehemann, der als Arzt im örtlichen Krankenhaus arbeitete, kümmerte sich weder viel um Mama Samson und ihre gemeinsamen elf Kinder noch um die neun Kinder, die er mit seiner zweiten Ehefrau hatte: Laut Mama Samson hielt sich Opiyo Mrungu während ihrer Ehe nur selten auf dem Gehöft der Familie auf und gab fast sein gesamtes Gehalt für Trinkgelage mit seinen Freunden aus.
Zurückblickend erinnert sich Mama Samson, dass ihre Kinder »gute Kinder« waren zumindest, als sie noch klein waren. In den siebziger und achtziger Jahren halfen sie ihrer Mutter nicht nur, die Felder der Familie zu bestellen, sondern auch beim Handel mit Fisch aus dem nahe gelegenen See. Doch als ihre Kinder größer wurden, begannen sie das Verhalten ihres Vaters zu »imitieren«, wie Mama Samson es ausdrückte. Sechs ihrer acht Söhne stiegen in halb legale Geschäfte in verschiedenen Orten Tansanias ein; fast alle von ihnen fingen an zu rauchen, Alkohol zu trinken und gaben fast ihr ganzes Geld für ihre ständig wechselnden Freundinnen aus. Nur zwei von Mama Samsons Söhnen machten einen höheren Schulabschluss und fanden gut bezahlte Stellen in Dar es Salaam, der größten Stadt Tansanias. Diese beiden wurden zusammen mit Mama Samsons ältester Tochter, die als Lehrerin in einer Stadt in der Nähe des Heimatdorfes arbeitete die Hauptstützen beim Unterhalt der Mrungu-Großfamilie. Mama Samsons ältester Sohn kaufte sogar eine Getreidemühle, die seine Mutter in dem kleinstadtartigen Zentrum nahe ihres Heimatdorfes betreiben ließ. Mit dem hier erwirtschafteten Geld konnte sie ihre Familie über Wasser halten.
Nachdem der Ehemann von Mama Samson nach langer und kräftezehrender Krankheit gestorben war, verschlechterte sich in den frühen neunziger Jahren die Lage der Mrungu-Familie. Kurz danach folgte ihm sein zweitältester Sohn. Mama Samson ist sicher, dass ihr Sohn an AIDS starb. Diese Annahme wurde durch die Diagnose des örtlichen Krankenhauses bestätigt. Mama Samson, die in einer der lokalen Pfingstgemeinden »errettet« worden ist, war aber auch so davon überzeugt, dass die Krankheit ihres Sohnes die direkte Folge seiner »weltlichen Aktivitäten« war. Ihre Sichtweise wurde weiter bestärkt, als zwei weitere Söhne, die im Ruf standen, einen unmoralischen Lebenswandel geführt zu haben, nach Hause zurückkehrten und nacheinander, in den Jahren 1997 und 1999, an den Folgen von AIDS starben. In beiden Fällen sah sie das langsame Auszehren der Körper ihrer Söhne und bemerkte die typischen Symptome, die mit der »Krankheit der Gegenwart« einhergehen. Sie hatte daher kaum Grund, die Diagnose »HIV-positiv« anzuzweifeln, die ihr die Ärzte mitgeteilt hatten, zumal sie die Behandlung im Krankenhaus bezahlt und ihre todkranken Söhne nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gepflegt hatte. Sie erzählt, wie es ihr mit dem Sohn, der 1999 starb, erging: »Ich selbst, seine Mutter, habe mich um ihn gekümmert. Es gab eine Zeit, in der sogar seine Frau davonlief. Er ist von meinem Blut und ich musste das tun. Er hatte solch schlimmen Durchfall, keiner hätte ihn pflegen können außer seiner Mutter. Irgendwann war er so dünn geworden, dass ich ihn zum Waschen ins Badezimmer getragen habe wie ein kleines Kind. Danach habe ich ihn zurück in sein Bett getragen und habe seine Kleider gewaschen. Ehrlich, seine Ehefrau hätte sich nicht so um ihn kümmern können, wie ich es tat.«
Nicht immer sind sich die Mitglieder einer Familie einig, wem die Verantwortung obliegt, sich um leidende Angehörige zu kümmern. Im Falle der Familie Mrungu übernahm die Mutter die Verantwortung für die Pflege ihrer sterbenden Söhne. Ihr Dienst wurde von den anderen Familienmitgliedern als quasi selbstverständlich angenommen. Hingegen ist es interessant zu betrachten, wer sich nicht an dieser Pflege beteiligte: Die Ehefrauen der sterbenden Söhne spielten dabei kaum eine Rolle. Ihren Schwägern zufolge haben sie ihre Ehemänner im Stich gelassen. Aber das sei kaum überraschend, weil ein fundamentaler Unterschied bestehe zwischen wie es ein Familienmitglied ausdrückte der »Liebe einer Mutter und der Liebe einer Frau, die durch Kühe gebracht worden ist (als Brautpreis).«
Als ich Mama Samsons Söhne fragte, warum sie ihre Mutter nicht bei der Pflege ihres sterbenden Bruders unterstützt hatten, gaben sie zu, dass sie sich besser um ihre Angehörigen hätten kümmern sollen. Doch gleichzeitig betonten sie, wie schwer es gewesen sei, die im Sterben Liegenden zu pflegen.
Samson Mrungu (38), der dritte Sohn, hatte sich ursprünglich um seinen ältesten Bruder gekümmert. »Wenn jemand krank wird«, kommentierte er, »und die Leute den Verdacht haben, dass er AIDS hat, ziehen sie sich vor ihm zurück. Auch wenn du Respekt und Liebe für ihn empfindest, werden sie zu dir auf der Straße sagen: 'Ach, lasst diese Person in Ruhe, er hat AIDS.' Sogar ich obwohl ich versuchte, meinen Bruder am Anfang zu pflegen, hasste es manchmal. Ich wollte es ihm nicht direkt sagen, weil er mein Angehöriger ist. Aber tief in meinem Herzen hasste ich das Pflegen.«
Danach gefragt, warum er glaubte, dass Menschen vor seinem Bruder Angst hatten, antwortete er: »Einige haben Angst vor kranken Personen, weil sie denken: 'Wenn ich mit ihm esse oder ihn berühre, werde ich seine Krankheit bekommen.' Es ist auch schon vorgekommen, dass Familien ihre kranken Angehörigen weggescheucht haben. Wenn jemand in Dar es Salaam oder Mwanza krank wird und dann nach Hause kommt, sagen die Leute: 'Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist! Belästige uns nicht mit deiner Krankheit! Du hast dir deine Krankheit in der Stadt geholt und nun bringst du sie zu uns.' Das passiert. Aber die gehen nicht zurück, sie sagen: 'Wohin sollte ich gehen? Mein Zuhause ist doch hier im Dorf.'«
Masanja Mrungu, ein Bruder von Samson, sprach ebenfalls über die »Erschöpfung«, die er gegenüber seinen sterbenden Brüdern empfand. Masanja wurde von seiner Familie und der Dorfgemeinschaft sogar beschuldigt, das Gehöft seiner Familie verlassen zu haben, um Geschäfte zu machen, als sein jüngerer Bruder Omollo kurz davor war, zu sterben. Masanja rechtfertigte sein Handeln: »Wir waren ihn leid. Er war für so eine lange Zeit krank gewesen und wir hatten uns nicht sehr gut um ihn gekümmert deshalb hat er uns gesagt, wir sollten ihn allein lassen. Sogar bei seiner Beerdigung war keiner seiner Brüder anwesend«. Dass ein sterbendes Familienmitglied allein gelassen wurde und die Tatsache, dass keiner der Mrungu Brüder zu der Beerdigung von Omollo kam waren der eindeutige Beweis für die gesamte restliche Großfamilie und die Dorfgemeinschaft, dass Omollo von seinen nahen Verwandten »fallen gelassen« worden war. Immer wieder diskutierte die Mrungu-Kernfamilie darüber, warum sich alles so bedenklich entwickelt hatte. Es gab Zeiten der Besinnung und des Trauerns auch Momente der Selbstbezichtigung, dass man nicht für eine bessere Pflege der sterbenden Angehörigen gesorgt hatte. Insbesondere dachte die Mrungu-Familie jedoch darüber nach, warum gerade ihre Familie so hart von AIDS getroffen worden war und wie das einmal in Gang gesetzte Leiden in Zukunft verhindert werden könnte. Mama Samson war mit jedem Tod ihrer Söhne mehr und mehr davon überzeugt, dass ihre verbliebene Familie zurück auf den »Weg Gottes« geführt werden müsste. Sie unternahm große Anstrengungen, um sicher zu stellen, dass ihr jüngster Sohn Patrick zusammen mit seiner Ehefrau und ihren zwei kleinen Kindern nach ihrem letzten Besuch im Heimatdorf nicht wieder zurück nach Dar es Salaam gingen, wo sie wohnten: »Mein Sohn Patrick und seine Frau werden von ihrer Gewohnheit Bier zu trinken vollkommen beherrscht; sie geben ihr ganzes Geld für das Trinken aus. Es ist besser, wenn sie hier bleiben auch wenn sie trinken. Ihre Kinder können bei mir gut essen und schlafen. Ich habe jetzt dem Pastor ein Haus gegeben, damit er meinen Söhnen und ihren Ehefrauen mit den Angelegenheiten der Seele hilft.«
Die Söhne von Mama Samson wiederum hatten ihre eigenen Versionen, warum die Familie so stark vom Unglück getroffen ist und was man tun kann, um weiteres Leid zu verhindern. Einige stimmten mit Teilen der Dorfgemeinschaft überein, dass das Unglück die Folge eines Fluches sei, den ihr verstorbener Vater über die Familie gebracht hätte, und dass dies auch der Grund dafür sei, das sie alle zu Trinkern geworden seien und zu früh sterben würden. Andere dagegen waren überzeugt, dass das Leid nicht nur durch AIDS oder einen Fluch ausgelöst wurde, sondern dass es außerdem eine Folge von chira sei.
Chira ist eine schwächende Krankheit, deren Symptome denen von AIDS sehr ähnlich sind und die entsteht, wenn rituelle Vorschriften bei den Beerdigungen und Trauerzeiten sowie in der Landwirtschaft, beim Hausbau und im Alltag der Angehörigen einer Großfamilie nicht eingehalten werden. Die meisten dieser Normen betreffen dabei die Sexualität. Es gibt strenge Regeln darüber, wie und zwischen wem und zu welcher Zeit Geschlechtsverkehr erlaubt oder sogar vorgeschrieben ist, und auch, in welchen Fällen die Nichtbeachtung dieser Regelungen Krankheiten hervorrufen kann. Zum Beispiel muss der Besitzer eines landwirtschaftlichen Gehöfts sexuellen Verkehr mit seiner (ersten) Frau haben, bevor er mit der Ernte oder der Aussaat beginnen kann. Danach sollten die erwachsenen Söhne die schon verheiratet sind, aber noch keinen eigenen Hof gegründet haben Geschlechtsverkehr mit ihren Ehefrauen haben und mit der Bewirtschaftung ihrer Felder beginnen. Diesen Regeln zu gehorchen, die dem Prinzip des Vorrechts des jeweils Älteren folgen, ist extrem wichtig. Ihre Vernachlässigung oder Missachtung kann chira bewirken, und chira kann, wenn keine Behandlung mit traditioneller Medizin erfolgt, zu einer ganzen Reihe von Krankheits- und sogar Todesfällen innerhalb einer Familie führen.
Im Falle der Mrungu-Familie gab es verschiedene Gründe für chira, die sich nach Meinung von Teilen der Familie und der Dorfgemeinschaft alle gegenseitig verstärkt haben. Der offensichtlichste Grund war, dass der älteste Sohn der Familie ungefähr ein Jahr vor seinem Tod Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen in dem Haus seiner Mutter hatte ein Akt, der nach der Tradition der Luo strengstens verboten ist. Der vehementeste Verfechter dieser Version war Masanja Mrungu, der seinen Bruder mit seiner Freundin im Haus seiner Mutter ertappt und die beiden für ihr gedankenloses und gefährliches Verhalten ausgescholten hatte. Masanja war überzeugt, dass sein Bruder noch am Leben wäre, wenn er zu Beginn seiner Krankheit wegen chira behandelt worden wäre.
Der zweite Grund für chira wog noch schwerer und war zu einer Bedrohung für das Wohlergehen der gesamten Großfamilie geworden. Den jungen Männern und Frauen und auch den Ältesten der Familie zufolge kam chira über die Familie, nachdem Mama Samson und ihre Mitfrau sich nach dem Tod ihres Ehemannes geweigert hatten, durch rituellen Geschlechtsverkehr gereinigt zu werden. Der Tod eines nahen Verwandten gilt als potenzielle Quelle einer Verunreinigung, die nicht nur die Partner des verstorbenen Familienmitglieds, sondern die ganze Familie betreffen kann. Von jedem Mitglied der Großfamilie wird daher reinigender Geschlechtsverkehr mit dem eigenen Partner erwartet der jedoch erst durchgeführt werden darf, nachdem die Witwe ihre rituellen Pflichten mit einem Bruder ihres verstorbenen Mannes erfüllt hat, oder wenn es um einen Witwer geht dieser mit seinen anderen Ehefrauen.
Erst nachdem so die Kontrolle über den Tod und die durch ihn entstandene Unreinheit wieder gewonnen ist, kann die Großfamilie im Alltag sicher weiterleben und Erfolg haben. Wenn diese Vorschriften jedoch nicht befolgt werden, kann die gesamte Familie durch chira getötet werden. In der Mrungu-Großfamilie wurde dieser rituelle Kreislauf durchbrochen, als Mama Samson und ihre Mitfrau behaupteten, sie könnten nicht gereinigt werden, weil sie religiöse Frauen seien, die nach den Gesetzen Gottes lebten. Als Folge davon konnten auch die Witwen derjenigen Söhne, die nach ihrem Vater gestorben waren, nicht gereinigt werden, und jeder sexuelle Akt zwischen den Söhnen der Familie und deren Ehefrauen verstärkte die Gefahr von chira.
Einem der Söhne zufolge »verschloss« die Mutter ihre Kinder, indem sie sich weigerte, gereinigt zu werden. Das Hauptanliegen der Familie war es deshalb, Mama Samson und ihre Mitfrau durch Geschlechtsverkehr mit einem Mann aus der Großfamilie zu reinigen, sodass die Witwen der anderen verstorbenen männlichen Familienmitglieder auch ihre rituellen Pflichten erfüllen und so die Gefahr von chira aufheben könnten, die das Leben der gesamten Großfamilie bedrohte.
aus: der überblick 02/2005, Seite 6
AUTOR(EN):
Hansjörg Dilger
Dr. Hansjörg Dilger ist Lehrbeauftragter am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin und Vorsitzender der Arbeitsgruppe »Medical Anthropology« in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde e.V. Er führte zwischen 1995 und 2003 Feldforschungen in Tansania durch, u.a. zu Verwandtschaft, Pfingstkirchen und NGOs im Kontext von Aids.