Sinkendes Flaggschiff
Die älteste und ehemals einflussreichste Tageszeitung Kolumbiens ist "El Espectador". Seit Mitte der achtziger Jahre ist das Blatt jedoch in eine tiefe Krise gerutscht und hat seine Eigenständigkeit verloren. Heute erscheint das einstige Flaggschiff der liberalen Presse Kolumbiens nur noch einmal pro Woche und müht sich, an längst vergangene glorreiche Zeiten anzuknüpfen.
von Knut Henkel
Arturo Alape, der bekannte kolumbianische Schriftsteller, klagt: "Artikel an den Espectador kann ich schon lange nicht mehr verkaufen die zahlen nicht mehr." Viele Jahre lang war er nicht nur auf der Meinungsseite der 1887 in Medellín gegründeten Tageszeitung zu lesen. Jetzt ist ihm eine Einkommensquelle weggebrochen. Als er nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Deutschland im Dezember 2001 in sein Heimatland zurückkehrte und die alten Kontakte zu den renommierten Printerzeugnissen des Landes wiederaufleben lassen wollte, erntete der 64-jährige Historiker, Publizist und Autor nur ein Schulterzucken. "Kein Geld für Honorare", bekam er nicht nur bei El Espectador lakonisch zu hören. Kolumbiens Printmedien stecken in der Krise, und das ehemalige Flaggschiff der unabhängigen und kritischen Tagespresse des Landes hat es am schwersten erwischt. Das Blatt, in dem Gabriel García Marquez seine ersten Reportagen veröffentlicht hat und das durch die achtziger Jahre hindurch sich weltweit einen Ruf als Bollwerk gegen den zunehmenden Einfluss der Drogenbarone in der kolumbianischen Gesellschaft erwarb, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Seit dem September 2001 erscheint El Espectador nur noch am Sonntag als kleine Wochenzeitung im Tageszeitungskleid ein ärmlicher Kontrast zu den Hochglanz-Wochenmagazinen.
Die Geschäfte waren gut gelaufen, bis das Anzeigengeschäft Anfang der achtziger Jahre einbrach. Verantwortlich dafür war die gute Arbeit der eigenen Journalisten, die finanzielle Manipulationen beim größten Anzeigenkunden des Blattes aufdeckten. Zwei Jahre später begann ihr journalistischer Feldzug gegen die in der kolumbianischen Gesellschaft allgegenwärtige Infiltration des schmutzigen Drogengeldes. Den Artikeln, darunter zahlreichen Leitartikeln von Chefredakteur Guillermo Cano, hat das Blatt einen gehörigen Teil seines journalistischen Renommees zu verdanken. Noch 1994 wurde El Espectador zu den zehn bedeutendsten Tageszeitungen weltweit gezählt. Doch der Preis war hoch, zu hoch.
Den Anfang vom Ende der liberalen Tageszeitung markieren zwei Ereignisse: Das erste war der Tod von Guillermo Cano, der am 17. Dezember 1986 auf Befehl von Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, vor dem Eingang zum Redaktionsgebäude erschossen wurde. Außer ihm wurden nach und nach noch mehrere Redakteure ermordet. Andere mussten fliehen. Dann kam drei Jahre später der Bombenanschlag auf das Redaktionsgebäude am Hauptsitz des Blattes, der Avenida 68. Der Bombenanschlag brachte das Familienunternehmen in erste ernste ökonomische Schwierigkeiten. Von denen sollte sich El Espectador angesichts eines enger werdenden Marktes und der starken Konkurrenz des konservativen El Tiempo nie wieder erholen. Der Zeitung bis dahin in der Hand der Verlegerfamilie Cano war schlicht das Geld ausgegangen. Im Jahr 1996 wurde angesichts der aufgehäuften Schulden das Personal um rund die Hälfte reduziert. Ein Jahr später warf die Familie Cano das Handtuch und verkaufte das Blatt für zwanzig Millionen US-Dollar an den mit Bierverkauf groß gewordenen Bavaria-Konzern von Julio M. Santo Domingo, einer der beiden einflussreichsten Firmengruppen des Landes. Bavaria übernahm auch den Schuldenberg des Verlages.
Unter dem neuen Besitzer leitete Ende der neunziger Jahre Rodrigo Prado als Direktor das Blatt. Wie die gesamte Redaktion hatte auch Prado gehofft, dass mit der Übernahme der Zeitung durch den Konzern, dem auch die Fluglinie Avianca gehört, frisches Geld in das Verlagshaus fließen würde. Prado und seine rechte Hand José Luis Ramírez, der Leiter der Meinungsseite, träumten davon, aus dem El Espectador wieder eine echte überregionale Tageszeitung mit Lokalredaktionen und mehreren Druckstandorten zu machen. Sie wollten den Konkurrenzkampf mit El Tiempo, der landesweit größten Zeitung, wieder aufnehmen. Doch daraus wurde nichts, denn das Geld vom Mutterkonzern blieb aus. Statt dessen kam die Weisung, die roten Zahlen herunterzufahren.
Als die ersten blauen Briefe an altgediente Redakteure verteilt wurden, änderte sich die Stimmung in der Redaktion schlagartig. Erfahrene Redakteursgruppen wurden durch wenige Jungredakteure ersetzt, deren Einstiegsgehälter mit weit unter tausend Dollar im Jahr ausgesprochen niedrig lagen. Der Arbeitsdruck in der verkleinerten Redaktion wuchs stetig. Taxifahrten, Papier und Bleistifte wurden bald nicht mehr bezahlt, vernünftige Recherchemöglichkeiten nicht mehr gewährleistet, das Hausarchiv kontinuierlich ausgedünnt. "Allein im Frühjahr 1999 wurden zwölf Kollegen entlassen", erinnert sich Jaime Barrientos, einer der jungen Journalisten, die damals in der Redaktion arbeiteten und sich in der Folgezeit den Niedergang der Zeitung aus der Nähe anschauen konnten: Trotz neuer Layouts und zahlreicher Werbeaktionen wurde die Auflage immer geringer.
"Einem Mann, der durch das Bierbrauen reich geworden ist, konnte am Erhalt und an der Ausrichtung des Traditionsblatts nicht ernsthaft gelegen sein", kommentiert Eduardo Márquez von der Journalistenorganisation Medios para la paz. Früher hat der Journalist freiberuflich für die Tages- wie Wochenpresse des Landes geschrieben, später für die spanische El País und das US-Magazin Newsweek. Heute hält er Vorträge über Ethik und Anstand im Journalismus. Die Gewerkschaft klagt über den Niedergang der journalistischen Standards in Kolumbien. El Espectador sei nur ein Beispiel unter vielen.
Zum Bavaria-Konzern gehören auch die Fernseh- und Hörfunkstudios von Caracol. Der Bierkönig hat genauso wie die Konkurrenz-Firmengruppe Ardila Lulle vom Limonadenmarkt die Arbeitsverhältnisse im Mediensektor auf den Kopf gestellt. "Sie gleichen jenen in einer Fabrik, statt denen einer Redaktion", kritisiert Márquez angesichts der hohen Präsenz der beiden Unternehmensgruppen im Mediensektor. Die teilten sich den privaten Fernsehmarkt und hätten auch noch das eine oder andere Wochenmagazin unter ihren Fittichen. "Das ist einer der Gründe, weshalb wir in Kolumbien unsere kritische Presse verlieren", schlussfolgert er. Der andere Grund sei, dass die Journalisten nicht richtig aus- und fortgebildet würden, unter hohem Produktionsdruck stünden und kaum mehr Zeit hätten, ihre Informationen zu überprüfen.
Dem stimmt auch Jaime Barrientos zu, der Anfang 2000 der Redaktion vom El Espectador den Rücken gekehrt hat. Mit ihm gingen viele andere. Die preisgekrönte Journalistin Janeth Bedoya, die für das liberale Blatt so manche Geschichte über die Paramilitärs und die Guerilla recherchiert hat, ist zur Konkurrenz El Tiempo gewechselt, als der El Espectador immer schwerer ins Schlingern kam.
Nur wenige der 55 Journalisten, die einst in dem Großraumbüro im ersten Stock in der Avenida 68 gearbeitet haben, sind geblieben. Unter ihnen Redaktionsleiter Jorge Cardona. Er steht heute einem guten Dutzend Journalisten vor, die die Wochenzeitung produzieren und sich verzweifelt bemühen, an das Renommee vergangener Zeiten anzuknüpfen ein wenig aussichtsreiches Unterfangen.
El EspectadorDie BlütezeitDie zweitälteste Zeitung Kolumbiens ist El Espectador. Sie wurde vom Visionär Fidel Cano in Medellín am 22. März 1887 in einem heruntergekommenen Haus in der Straße El Codo gegründet. Schon 30 Tage später wurde ihr Erscheinen verboten. Ein Übergangsparagraph der Verfassung, der die Zirkulation von Printerzeugnissen verbot, falls diese "die Ehre von Personen verletzen, die soziale Ordnung oder die öffentliche Ruhe stören", bot die rechtliche Grundlage. Gummiparagraphen wie diese wurden immer wieder herangezogen, wenn es darum ging, die unbequeme Zeitung mundtot zu machen. Denn diese präsentierte sich ausgesprochen kritisch gegenüber der herrschenden Klasse, was unter anderem dem Zeitungsgründer Fidel Cano 1891 einen einjährigen Aufenthalt im Gefängnis einbrachte ohne detaillierte Angabe von Gründen. Als Cano schließlich begnadigt wurde, polemisierte er auf der Titelseite gegen seine Begnadigung. Was sei schon eine Begnadigung wert, so Cano, wenn man nicht einmal wisse, weshalb man gesessen habe. Gegen den Zeitungsmacher persönlich ging der Staat anschließend zwar nicht mehr vor, wohl aber gegen dessen auf tönernen Füßen stehendes Zeitungshaus. Wiederholt wurden empfindliche Geldstrafen gegen Redaktion und Verlag verhängt, um dem Blatt den wirtschaftlichen Boden zu entziehen. Aber der Familienclan Cano fand immer wieder Mittel und Wege, um das Blatt, das bis 1915 in einer Auflage von gerade mal tausend Stück in Medellín verbreitet wurde, über Wasser zu halten. Erst die Entscheidung, täglich in Bogotá und Medellín zu erscheinen, sorgte für den Aufschwung der liberalen Zeitung, die für Freiheit und Gerechtigkeit eintrat. Das konsequente Festhalten an diesen Prinzipien und der Umzug nach Bogotá sorgten für einen kontinuierlichen Anstieg der Auflage. Der El Espectador wurde zu der kritischen Stimme Kolumbiens, die auch in den Jahren des Bürgerkrieges zwischen Liberalen und Konservativen (La Violencia 1948-1958) nicht verstummte. Zwar gingen die Redaktionsgebäude 1948 in Flammen auf, aber Gabriel Cano, einer der Söhne des Zeitungsgründers, schaffte es, den Verlag neu aufzubauen und die Zeitung weiter herauszubringen. Und die folgenden zwanzig Jahre unter der redaktionellen Regie von Guillermo Cano, der die Leitung des Blattes vom Vater Gabriel übernommen hatte, waren goldene Jahre für El Espectador. Knut Henkel |
aus: der überblick 04/2003, Seite 43
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Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.