Pfingstkirchen gewinnen in Mexiko Anhänger - vor allem an den Rändern der Gesellschaft
Unter Mexikos Christen ist die katholische Kirche nicht länger unangefochten. Vor allem Pfingstkirchen haben in den vergangenen Jahrzehnten Anhänger gewonnen - gerade in den Unterschichten am Rande der Städte und in abgelegenen indianischen Dörfern. Das hängt mit der wachsenden sozialen Ungleichheit zusammen, aber auch mit der Verbindung von örtlicher Herrschaft und katholischen Festbräuchen. Der Wechsel der kirchlichen Zugehörigkeit hat auch politische Bedeutung: Er könnte dem Staat die Kontrolle der Gesellschaft erschweren.
von Prof. Jean-Pierre Bastian
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind in Mexiko verschiedene religiöse Strömungen außerhalb der katholischen Tradition entstanden. Unter ihnen dominierten die älteren protestantischen Kirchen, besonders die aus der methodistischen, presbyterianischen, baptistischen und episkopalen Tradition. Seit den 1950er Jahren ist jedoch eine große Bandbreite von neuen religiösen Strömungen vom Typ der Pfingstbewegungen aufgetreten. Das religiöse Gleichgewicht ist in Mexiko gestört. Dutzende protestantischer Gruppen konkurrieren untereinander auf einem freien Markt für die Bereitstellung, die Verteilung und den Konsum von religiösen Erlösungsgütern, sodass die römisch-katholische Kirche zunehmend aus ihrer Monopolstellung verdrängt wird. Wer sind die neuen religiösen Akteure? Was sind die Gründe der Störung des Gleichgewichts? Und welche sozialen oder politischen Auswirkungen hat sie?
Seit 1872 waren protestantische Missionare bemüht, in Mexiko Fuß zu fassen, indem sie unter liberalen Minderheiten Rückhalt suchten. Dies blieb zwar bei der Masse der Bevölkerung ohne Erfolg. Doch hatten Protestanten, als die Revolutionsbewegung von 1910 in Gang kam, erheblichen politischen Einfluss. Im Großen und Ganzen wurde aber das Monopol der katholischen Kirche bis in die 1950er Jahre nicht beeinträchtigt, obwohl die Verfassungen von 1857 und 1917 die Glaubensfreiheit vorsahen und damit den Weg für die Religionsvielfalt eröffnet hatten.
Erst seit den fünfziger Jahren und in größerem Ausmaß in den Achtzigern fanden Dutzende von neuen religiösen Organisationen und Gruppen den Weg zu den Massen der Mexikaner. Sie bieten ein außergewöhnlich vielfältiges Bild. Es dominieren Pfingstkirchen, die Verbindungen zu Gruppen in den Vereinigten Staaten haben - so die Asambleas de Dios und die Iglesia de Dios -, mexikanische Pfingstgemeinden wie die Iglesia Apostólica sowie Kirchen, die in der indigenen Bevölkerung verankert sind und stark messianische Züge tragen wie La Luz del Mundo.
Das Neue daran sind für Mexiko die Vielfalt und der Wettbewerb im Bereich der Religion. Eigenständige religiöse Miniunternehmen haben sich auf Kosten des institutionalisierten Katholizismus ausgebreitet, und einige wenige große religiöse Körperschaften wie La Luz del Mundo sind in der Lage, auf nationaler und internationaler Ebene zwei Millionen Mitglieder zu mobilisieren. Die Asambleas de Dios oder die Zeugen Jehovas scheinen fähig, lokale Initiativen in eine große Bewegung zusammenzuführen.
Bis in die fünfziger Jahre konnte die römisch-katholische Kirche die unabhängigen millenaristischen Kulte und religiösen Bewegungen wie La Santa de Cabora oder El Niño Fidencio immer wieder in ihren Schoß zurückholen. Die seit 1873 verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit hatte sehr geringe Auswirkungen auf die Ausdifferenzierung im Bereich der Religion. Man musste fast ein Jahrhundert warten, bis sich protestantische religiöse Unternehmen bildeten, die in der Lage waren, auf lokaler Ebene mit der römisch-katholischen Kirche zu konkurrieren, und bis Hunderte von neuen religiösen Führern auftauchten, die sich gegen das historische Religionsmonopol stellten. Heute wachsen die Religionsgemeinschaften außerhalb der katholischen Kirche ständig. Die Volkszählungen, die alle zehn Jahre durchgeführt werden, zeigen das. Protestanten machten 1900 erst 0,38 Prozent der Bevölkerung Mexikos aus; der Anteil stieg allmählich auf 0,9 Prozent 1940 und 1,8 Prozent 1970. In den zwei Jahrzehnten danach wuchs er rascher auf 4,9 Prozent 1990. Das entsprach 3,5 Millionen Menschen. Heute ist die Zahl vielleicht doppelt so hoch.
Der religiöse Wandel ist an zwei Stellen besonders stark: in den Grenzgebieten im Norden und im Süden des Landes sowie in den Randgebieten der Städte, vor allem der Hauptstadt. Dagegen bleibt das östliche Kerngebiet, etwa zwischen Veracruz und Tepic, dem tief verwurzelten barocken Katholizismus Mexikos treu und scheint von der fortschreitenden religiösen Ausdifferenzierung wenig beeinflusst.
Die soziologischen Daten lassen vermuten, dass vor allem Arme und an den Rand Gedrängte aus Landgebieten konvertieren; aus diesen Gruppen speist sich die Zahl der Protestanten sowohl in den Grenzgebieten als auch am Rand der Städte. Es handelt sich vor allem um Migranten oder Menschen, die erst kürzlich zugezogen sind, meist auf Grund von Armut. Daher setzt sich der protestantische Bevölkerungsteil oft aus marginalisierten Gruppen zusammen. Trotzdem gehören dazu auch einige Gruppen aus der unteren städtischen Mittelklasse mit unsicherem sozialem Status, insbesondere Freiberufler ohne Klassenbindung. Die Unterschiede zum traditionellen Protestantismus in Mexiko sind auffällig: Die Anhänger der Pfingstbewegung erreichen vor allem diese unteren Schichten, während die älteren protestantischen Glaubensgemeinden eher in der Mittelklasse Fuß gefasst haben. Diese sind zahlenmäßig schwach und partizipieren an der religiösen Schriftkultur. Dagegen pflegen die Pfingstler, die Mehrheit der Protestanten, eine mündlich überlieferte und zugleich synkretistische Religion. Das heißt traditionelle Glaubensinhalte können mit neuen, importierten Symbolen und Kulten ausgedrückt werden.
Wie ist diese religiöse Entwicklung in Mexiko zu erklären? Interpretationsversuche, denen zufolge die Vervielfältigung der "protestantischen Sekten" das Ergebnis einer Manipulation von außen ist, vor allem aus Nordamerika, greifen zu kurz und erscheinen heute fragwürdig. Man muss vielmehr innere und äußere Bedingungen zusammen betrachten, um die Dynamik des Wandels der Religionsausübung zu verstehen.
Der erste Faktor ist zweifellos ein äußerer: Er hängt mit dem Prozess der Globalisierung zusammen, die auch die Religion beeinflusst. Dies ist kein spezifisch mexikanisches Phänomen. Mit der Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel geht eine bisher beispiellose Expansion neuer religiöser Bewegungen mit multilateraler Dynamik einher. Dies muss als Teil eines globalen Trends verstanden werden: das Anwachsen des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs. Darum ist Mexiko nicht nur ein Importeur, sondern auch ein Exporteur von religiösen Bewegungen – und das seit mindestens rund 40 Jahren. Die Iglesia de la Luz del Mundo, deren erstes Gotteshaus 1934 in Guadalajara auf Initiative eines bescheidenen Soldaten und früheren Tagelöhners namens Eusebio González entstanden ist, ist heute ein religiöses Imperium mit Niederlassungen in 25 Ländern – in Lateinamerika, den Vereinigten Staaten und sogar Europa und dem Nahen Osten.
Der zweite Faktor ist innerstaatlicher und wirtschaftlicher Art. Bis in die fünfziger Jahre lebten weite Teile der Landbevölkerung überwiegend als Selbstversorger oder in einer subsistenzorientierten Tauschwirtschaft. Seitdem haben staatliche Integrationsprogramme sowie das Vordringen der Marktwirtschaft, die mit der Monetarisierung des Austauschs einherging, grundlegende Veränderungen bewirkt. Nun hatten aber unter der Landbevölkerung, besonders unter der indigenen, die religiösen Regeln es traditionell erlaubt, angesammelte Güter umzuverteilen. Heute haben jedoch die auf dem Land herrschenden Gruppen, die Kaziken (indianische Gemeindevorsteher) und ihre Familien zu ihrem eigenen Vorteil diese Praktiken pervertiert, indem sie die Ausrichtung der religiösen Feste übernommen haben. So hat sich die soziale Ungleichheit verstärkt.
Die Entstehung neuer, konkurrierender religiöser Unternehmen gibt nun unter der indigenen Bevölkerung neuen Kräften Gestalt, die sich der Hegemonie der Kaziken und ihrer Verbündeten entgegenstellen wollen. In diesen religiösen Neuerungen manifestiert sich der Kampf um wirtschaftliche Macht und Kontrolle. Unter den Bedingungen eines starken Bevölkerungswachstums haben sich die Armen und die aus der Landbevölkerung Ausgegrenzten verschiedenen unabhängigen religiösen Gruppierungen zugewandt, um sich eine gewisse Unabhängigkeit vom finanziellen Druck zweier grundverschiedener Institutionen zu schaffen: vom komplexen autochthonen System wechselseitiger Abgaben einerseits, von den kostspieligen katholischen Festen unter der Kontrolle der Kaziken anderseits.
Ein dritter, ebenfalls innerstaatlicher Faktor ist politischer Natur. Auch wenn Mexiko nach den Parlamentswahlen 1997 auf dem Weg des "demokratischen Übergangs" zu sein scheint, ist das liberale Modell der repräsentativen Demokratie, das auf der Abstraktion eines individuellen Staatsbürgers beruht, noch immer eine Fiktion; es ist in der Verfassung festgeschrieben, aber nicht umgesetzt. In der Praxis dominiert ein "Herrschaftspakt"; der Staat treibt eine neo-patrimoniale Politik (er pflegt Klientelgruppen vor Ort; Anm. d. Red.), und eigenständige, unabhängige gesellschaftliche Gruppen bleiben schwach mobilisiert. Die Gemeinschaft, welche aus der unerlässlichen Bindung des Individuums an seine Primär- oder Sekundärgruppe (Familie, Klan, Dorf, Stamm, Gewerkschaft) entsteht, hat zugleich die Funktion, an den Rändern des politischen Systems traditionelle Herrschaftsformen und eine segmentierte Gesellschaftsstruktur aufrecht zu erhalten.
Hinzu kommt, dass die Parteien Klientelpolitik betreiben: Sie mobilisieren und manipulieren von oben Kollektive von Untertanen, statt sich an autonome Individuen zu wenden. In einem solchen politischen System stehen die Wahlen unter dem Generalverdacht des Betrugs, wie etwa die Präsidentschaftswahlen 1988. Die Obrigkeitshörigkeit und die Not bilden zusammen einen fruchtbaren Boden für soziale Programme, die dazu dienen, Teile der Zivilgesellschaft zu kooptieren oder offene Rechnungen unter rivalisierenden Eliten zu begleichen. Gleichzeitig dient das Wahlsystem dazu, das Auftreten von immer neuen Klientelgruppen zu fördern, die versuchen, ihre Interessen durchzusetzen und zu "legitimen" politischen Kräften feste wechselseitige Beziehungen zu schaffen. In diesem Sinne kann man von einem begrenzten Pluralismus sprechen.
Dieses System behindert die Bildung von unabhängigen sozialen Gruppen. Wo sie entstehen, wie beispielsweise im Fall der Zapatisten 1994, sind sie Druck und Unterdrückung ausgesetzt. Unter diesen Umständen kann die Verwirklichung von Autonomie in Bereichen außerhalb der Politik, insbesondere in der Religion, für Teile der unteren sozialen Schichten, die aus der herrschenden politischen Ordnung ausgeschlossen sind, ein bevorzugtes Mittel der sozialen Selbstbehauptung werden.
Der letzte Faktor, der den religiösen Wandel bedingt, ist ebenfalls ein innerstaatlicher und hängt zusammen mit der Entwicklung der stärksten religiösen Kraft: der katholischen Kirche. Deren Selbstverständnis hinsichtlich ihrer Verbindungen zu Staat und Gesellschaft hat sich wenig verändert. Sie ist weiterhin eine mächtige Körperschaft, bemüht um eine Verständigung mit dem Staat, und sie macht sich weiterhin die religiösen Belange der Massen mittels des korporativistischen Modells ihrer inneren Verwaltung zu Nutze. Die Reformen, die im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils durchgeführt worden sind, scheinen ihr inneres Regiment nicht beeinflusst zu haben. Die radikalen, linken katholischen Bewegungen sind ausgeschaltet oder frontal und systematisch bekämpft worden. Im Übrigen hat die Kirchenhierarchie ihre Politik der Verständigung mit dem Staat vermutlich auch deshalb verstärkt, weil angesichts des beschleunigten Legitimitätsverlusts der PRI seit 1988 beide Seiten daran interessiert waren, die radikalen katholischen Milieus zu demobilisieren. So setzte die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zum Vatikan 1992 sowohl dem Antiklerikalismus des Staates ein Ende wie den Initiativen des linken Klerus, die von der Kirchenhierarchie unterdrückt wurden.
Diese doppelte Verschiebung – die Unterdrückung der katholischen Reformbewegungen einerseits und der Wiederaufbau der privilegierten Beziehungen zum Staat andererseits – sind eine weitere Erklärung für die Ausdehnung der alternativen, nicht katholischen Glaubensgemeinschaften. Wenn die Ausdifferenzierung einer religiösen Bewegungen im Innern misslingt, vermehren sich die religiösen Ausdrucksweisen außerhalb von ihr. Die neuen religiösen Bewegungen drücken sowohl die Unzufriedenheit der Massen mit einer Kirche aus, die wenig geneigt ist, sich nach innen zu verändern, wie sie einen Versuch darstellen, religiöse Gegenmacht aufzubauen. In diesem Sinne erscheint die Rivalität unter Glaubensgruppen als "Religionskrieg" um die Definition und die Aneignung legitimer spiritueller Werte sowie die Kontrolle darüber.
Die Globalisierung und die Organisation von religiösen Netzwerken, soziale Ausgrenzungs- und Auflösungstendenzen vor dem Hintergrund eines hohen Bevölkerungswachstum, hohe Hürden für die Herausbildung unabhängiger gesellschaftlicher Bewegungen, ein schwieriger Zugang zum Spiel der Politik, schließlich das Scheitern der radikalen katholischen Bewegung und der Fortbestand des "integralistischen", die Dogmen wahrenden Katholizismus – diese Faktoren zusammengenommen erklären die breite Ausdehnung des Protestantismus. Welche Auswirkungen hatte dies auf den indigenen Teil der Landbevölkerung und auf die Politik?
Die religiöse Deregulierung ist am auffälligsten in Gebieten der indigenen Landbevölkerung. So haben sich die Totonacas von San Juan Ixtepec in der Sierra de Puebla seit den siebziger Jahren verschiedenen Pfingstbewegung angeschlossen. Die Hinwendung zu diesen Kulten hing zusammen mit verschiedenen Forderungen der Indios und mit ihrem Kampf gegen die Händler mestizischer Herkunft um die Möglichkeit, Kaffee selbstbestimmt zu vermarkten. Die katholischen Feiern hatten den Kaziken dazu gedient, ihre wirtschaftliche Hegemonie symbolisch zu legitimieren; der Bruch mit dem Katholizismus hat die wirtschaftliche Autonomie der Totonacas in dem Gebiet gefestigt.
Das Gleiche geschieht wahrscheinlich gerade in Chiapas, jedoch in einem anderswo bisher nicht bekannten Ausmaß. Das liegt an der schnellen Zersetzung und Auflösung der indigenen Gesellschaften, die sich in der andauernden Gewalt spiegelt. Es ist auffällig, dass laut einer statistischen Erhebungen von 1990 in 22 Prozent der insgesamt 111 Gemeinden in diesem Staat weniger als die Hälfte der Bevölkerung katholisch ist. Ein noch klarerer Beleg ist, dass alle diese Gemeinden in drei Gebieten mit vorwiegend indigener Bevölkerung liegen, nämlich in Los Altos, Las Cañadas und dem Gebiet Mariscal. Die Gebiete der Hinwendung zum Protestantismus decken sich mit indigen dominierten Randzonen und mit den Gebieten, in denen die ländliche Gewalt am größten ist und die zapatistischen Guerilleros am stärksten verankert sind.
Die schnelle Eingliederung der indigenen Bevölkerung in die Marktwirtschaft infolge der staatlichen Entwicklungspolitik während der vierziger und fünfziger Jahre hat die indigenen Gesellschaften drastisch verändert. Unter den Tzotziles und den Tzeltales aus Los Altos hat das zu wachsender sozialer Ungleichheit innerhalb der Ethnien geführt. In dieser Situation haben die vom Staat eingesetzten oder anerkannten Kaziken bemerkt, dass sie die traditionellen politisch-religiösen Institutionen zu ihrem Vorteil benutzen konnten, um ihre Macht zu erhalten oder auszuweiten. So haben sie sich der rituellen Feiern bedient, um die soziale Kontrolle zu verstärken. Deren Grenzen zeigen sich damals wie heute in der Willkür und in der andauernden Gewalt zwischen den Ethnien.
Genau in dem Moment, als die Kaziken begannen, sich die religiösen Feiern anzueignen, begannen protestantische Kirchen sich auszubreiten. Sie sind der Ausdruck wachsender sozialer Ungleichheit und sozialer Kämpfe in den Volksgruppen. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass Gruppen am Rand der Gesellschaft oder solche, die dorthin gedrängt werden, sich neuen religiösen Praktiken zuwenden. Deshalb leben andersgläubige Indios überwiegend an abgelegenen Orten oder verstreuten ejidos (kommunal bewirtschafteten Agrargütern) am Rande der Kommunen, während die Kaziken die Geschäfte, die Häuser und die besten Ländereien im Hauptort halten. Dieses räumliche Muster der Hinwendung zu neuen Glaubensrichtungen erklärt außerdem, warum Konversionen nicht individuell geschehen, sondern eher in Gruppen, die verwandtschaftlichen Verbindungen folgen. Der niedrige Bildungsstand und das Vorherrschen der mündlichen Überlieferung bedingen, dass insbesondere Pfingstbewegungen sich über althergebrachte religiöse Praktiken ausdrücken – etwa das Reden in Zungen, den Exorzismus und den spirituellen Krieg.
Die neuen religiösen Praktiken sind vor allem eine Form, das System der Ausbeutung zu boykottieren, das eng mit politisch-religiösen Feiern verbunden ist. Sie drücken sich in erster Linie in der Verweigerung der Gemeindearbeit aus, der sogenannten tequio, die unbezahlt ist und an der sich die Kaziken bereichern. Die Ausbreitung religiöser Gruppen verschiedener Art – der Protestanten älteren Typs, der Pfingstbewegung und der Zeugen Jehovas – und ihre Ablehnung von Alkohol, von Tabak und von jenen Zerstreuungen, die mit traditionellen Feiern einhergehen, sind kein Zufall. Es handelt sich um eine überlegte Wahl, ein Ergebnis der Suche nach symbolischer Selbstbestimmung und der Abkehr von Ritualen, mit denen das Trinken von Alkohol verbunden ist.
Die neuen religiösen Praktiken sind jedoch nicht auf die Ablehnung des mit den Festen verbundenen Konsums und der Verschwendung beschränkt. Sie hinterfragen auch das System wechselseitiger Abgaben unter den Indios, das immer kostspieliger und für die junge geburtenstarke Generation immer weniger erschwinglich wird. In den indigenen Gemeinden, in denen das Abgabensystem stark strukturiert und lebendig ist, bedroht die Schaffung von Kulten, die aus dem herrschenden Symbolsystem herausfallen, direkt die Mechanismen der Macht des Kaziken. Dies führt zu gewalttätigen religiösen Verfolgungen wie Inhaftierung, Morden und Lynchmorden, Brandschatzungen von Gottes- und Wohnhäusern, Verschleppungen oder Deportationen. Sie gehen von Kaziken aus, die aufgrund des "religiösen Streiks" ihre Vorherrschaft bedroht sehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall von San Juan Chamula. Aus dieser dicht besiedelten Gemeinde mit 1990 mehr als 50.000 Einwohnern haben die Kaziken während der siebziger und achtziger Jahre 30.000 Protestanten vertrieben.
Hat der religiöse Wandel auch politische Auswirkungen auf nationaler Ebene, und wenn ja, welche? In verschiedenen Ländern Lateinamerikas sind protestantische Religionen während der achtziger und neunziger Jahre politisch stärker hervorgetreten. Präsidentschaftskandidaten mit starkem nicht katholischen religiösem Hintergrund sind in Brasilien, Venezuela, Nicaragua, Bolivien und anderen Ländern zur Wahl angetreten. Und in Guatemala ist 1999 sogar zum ersten Mal in Lateinamerika ein Anhänger der Pfingstbewegung durch eine Wahl an die Macht gelangt. Gleichzeitig sind in verschiedenen Ländern Gruppen von Abgeordneten aufgrund ihrer nicht katholischen Religion in die unteren Kammern der Parlamente gelangt.
In Mexiko hat das neue Verhältnis zwischen Staat und Kirche seit 1992 eine ganz neue Lage geschaffen (vgl. den Beitrag von H.-J. Prien in diesem Heft). Die katholische Kirche fühlt sich gestärkt und legitimiert, in die Politik einzugreifen – jetzt nicht mehr nur verdeckt, sondern auch offen. Dies kann zu einer beschleunigten Polarisierung zwischen den Konfessionen führen, falls und soweit die Protestanten, die zahlenmäßig immer mehr ins Gewicht fallen, sich politisch zu organisieren suchen, um mit dem Staat verhandeln zu können – so wie es in anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall ist. Nicht zufällig hat sich seit 1992 eine protestantische politische Gruppe namens Grupo Lerdo gebildet, die in Verbindung mit der PRI steht; ihre Blütezeit unter den Protestanten war aber schwach und kurz.
Ebenso wenig ist es Zufall, dass im März 1996 protestantische Gruppierungen die Bildung einer politischen Bewegung mit dem Namen "Bewegung der Nationalen Reform" angekündigt haben. Die konfessionelle Dachorganisation Confraternice (Confraternidad de Iglesias Evangélicas, Bruderschaft der evangelischen Kirchen) schlug vor, "über diese Bewegung die "freimaurische" Regierungspartei PRI, die "katholische" PAN (Partei der nationalen Aktion) und die "marxistische" PRD (Partei der Demokratischen Revolution) zu bekämpfen" und eine große politische Partei für die Wahlen von 1997 zu bilden. Der Staatssekretär hat das Projekt nicht zugelassen; es wurde gleichzeitig unterdrückt und in die eigene Partei integriert – gemäß der politischen Tradition, dass jeder Versuch, eine konfessionelle, nicht katholische politische Initiative zu gründen, unterbunden wird. Manchmal scheint es, als fürchte der Staat, dass solche Gruppen von Oppositionsparteien aufgenommen werden und dann mächtige Instrumente zur Verbreitung und Organisation von politischen Kampagnen darstellen, wie es in Peru zu beobachten war.
Natürlich wissen solche Gruppen angesichts der herrschenden politischen und religiösen Kultur ganz genau, wie sie die Wählerstimmen ihrer Gefolgschaft für Klientelverhandlungen einsetzen können. In der Stadt Guadalajara, wo die Kirche La Luz del Mundo in manchen Stadtteilen die Mehrheit stellt, hat sich das gezeigt. Hier konnte man beobachten, auf welche Weise der Staat diese Gruppen integriert und welche Möglichkeiten eine solche Religionsgruppe hat, dabei Vorteile für sich mit dem Staat auszuhandeln. Wahrscheinlich versucht die Staatspartei auf nationaler Ebene vor allem, solche Gruppen zu integrieren.
Die Vervielfachung von religiösen Organisationen im Herz der Zivilgesellschaft stellt den neo-korporativen Staat vor eine noch nie da gewesene Situation. Bis jetzt musste der mexikanische Staat nur mit einer religiösen Einrichtung verhandeln, mit der römisch-katholischen Kirche. Mit ihr war er in dem Maße gezwungen, eine Übereinkunft zu suchen, in dem alle Versuche der Konfrontation gescheitert waren. Doch gerade heute, wo die Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche auf gutem Wege zu sein scheint, sieht sich der Staat gezwungen, den neuen Gruppierungen, die sich seinen traditionellen Mitteln der sozialen Kontrolle entziehen, sein Augenmerk zuzuwenden. Wie viel Bedeutung die PRI dieser Angelegenheit beimisst, zeigt die Tatsache, dass die Regierungspartei 1992 eine Generaldirektion für religiöse Angelegenheiten geschaffen hat, aus der ein Koordinationsbüro und eine ministerielle Abteilung hervorgegangen sind.
Der Staat beginnt die neuen religiösen Gruppierungen, die aus der Zivilgesellschaft hervortreten, zu bewerten, denn es scheint möglich, dass sie in der Zukunft an politischem Einfluss gewinnen – wie schon jetzt im Rest Lateinamerikas. Das zeigt sich auch an der Aufmerksamkeit, die ihnen erstmals während des gegenwärtigen Wahlkampfs die Kandidaten der PAN, der PRI und der PRD schenken. Letzten Endes haben die immer zahlreicheren protestantischen Minderheiten in Mexiko – anders als der nationale Katholizismus, der vom Kult der Jungfrau von Guadalupe geprägt ist – einen Prozess der religiösen Pluralisierung eingeleitet. Er kann auf lange Sicht bürgerkriegsähnliche Zustände schaffen oder aber im Gegenteil günstige Auswirkungen auf die politische Pluralisierung und den demokratischen Wandel haben.
aus: der überblick 02/2000, Seite 57
AUTOR(EN):
Prof. Jean-Pierre Bastian:
Jean-Pierre Bastian ist Professor für Religionssoziologie an der Marc-Bloch-Universität in Straßburg und Forschungsleiter am »Institut des Hautes Etudes de l'Amérique latine, Paris III, Sorbonne nouvelle«.