Die große Brandmauer
Das Internet ist für Diktaturen wie die Volksrepublik China ein unangenehmes Medium. Es macht die ständige Entwicklung neuer überwachungstechnologien notwendig. Kaum werden diese Kontrollmechanismen von der Regierung eingeführt, lernen die Internet-Nutzer, sie zu umgehen.
von David Banisar
Chinesische Bürger nutzten Nachrichtenseiten und Diskussionsforen im Internet (Chatrooms) beispielsweise, um das Bestreben der Regierung zu vereiteln, den Tod von 38 Kindern und vier Erwachsenen geheimzuhalten, die bei einer Explosion im März 2001 in der südöstlichen Provinz Jiangxi umgekommen waren. Korrupte Lehrer, Parteifunktionäre und Geschäftsleute hatten die Kinder, von denen manche erst acht Jahre alt waren, gezwungen, in Handarbeit Feuerwerkskörper herzustellen, um die Schulgebühren aufzubringen. Zuerst beschuldigte der damalige Premierminister Zhu Rongji einen Selbstmörder aus dem Dorf, die Tragödie verschuldet zu haben. Neun Tage später, als die Empörung und die Fakten sich über das Internet verbreitet hatten, sah der Premierminister sich zu einer außergewöhnlichen öffentlichen Entschuldigung gezwungen.
Aktivisten wie diejenigen, die Premier Zhu unter Druck gesetzt haben, finden sich unter den mehr als 68 Millionen chinesischen Internet-Nutzern. Sie haben die Möglichkeiten entdeckt, mit Hilfe der neuen Technik Gedanken und Informationen auszutauschen, die in traditionellen Medien zensiert werden. Zwar betrachtet die Kommunistische Partei Chinas das Internet als einen Segen für die schnell wachsende Wirtschaft des Landes, aber sie sieht darin auch eine Gefahr für ihre eigene Herrschaft.
Gleichwohl erlaubt Beijing 100.000 florierende Internet-Cafés, nutzt aber, um der Bedrohung seiner Herrschaft entgegenzutreten, eine geschickte Mixtur aus Technik, gesetzlichen Verboten und Einschüchterung, um das weltweit ausgefeilteste System elektronischer Überwachung und Zensur aufzubauen. Das Internet ist nur das neueste Massenmedium in China, in dem ein nicht genehmer, unzensierter Dialog stattfindet. Es tritt in die Fußstapfen der in den neunziger Jahren beliebten Talksendungen im Radio, in welche die Hörer sich per Telefon einmischen können.
Chinesen gehen in Scharen online. Unter dem Mantel der Anonymität chatten diskutieren sie im Internet über Sex, Skandale und Politik mit einer Offenheit, die früher nur am heimischen Mittagstisch möglich war. Sie berichten über Korruption, Unfälle und Morde an ihrem Wohnort, die früher von den Behörden vermutlich hätten vertuscht werden können.
"Als 1995 Privatpersonen in China zum ersten Mal Zugang zum Internet erhielten", sagt der ehemalige geschäftsführende Direktor Xiao Qiang von der in New York ansässigen Menschenrechtsorganisation Human Rights in China, "nutzten Dissidentengruppen im Ausland das Internet aktiv als Mittel zu kommunikativen, organisatorischen und juristischen Zwecken, denn wir waren schon Internet-Experten." Viele Aktivisten, die nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz (im Juni 1989) ins Exil gegangen waren, klinkten sich in dieses internationale Netzwerk ein. Heute schicken Dissidentengruppen innerhalb und außerhalb Chinas regelmäßig per E-Mail Nachrichten-Bulletins an zehntausende Chinesen und pflegen umfangreiche Websites wie das China Labour Bulletin aus Hongkong, das der Gewerkschafter und frühere politische Gefangene Han Dongfang gegründet hat. Die spirituelle Gruppierung Falun Gong nutzte das Internet im April 1999, um mehr als 10.000 ihrer Anhänger zu einer schweigenden Mahnwache am Gefängnis zu versammeln, wo ihre Führer eingesperrt sind.
Andere totalitäre Regimes wie Nordkorea oder Burma reduzieren das Risiko von peinlichen Enthüllungen wie die Mitschuld der chinesischen Behörden an der Brandkatastrophe in Jiangxi, indem sie das Internet ganz verbieten. China hingegen versucht, die Zugangsmöglichkeiten zu bestimmen und Kontrolle zu behalten. Es beschränkt die "subversive" Nutzung, indem es seit langem geübte Praktiken wie Haftstrafen, Überwachung und Einschüchterung mit neuer Technologie zur Blockade von Internetseiten und Überwachung von E-Mail und Internetnutzung verbindet.
Darüber hinaus erlässt Beijing Gesetze, von denen selbst der Schriftsteller George Orwell beeindruckt gewesen wäre. Laut dem von amnesty international (ai) herausgegebenen Bericht State control of the Internet in China (Staatliche Kontrolle des Internets in China) hat Beijing für die Internet-Nutzung mehr als 60 Regeln erlassen. So ist es nun verboten, die "Ehre" Chinas zu beschädigen, die "staatliche Ordnung" zu stören und "Staatsgeheimnisse" zu verraten ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht. Beijing schließt ständig Internet-Provider-Firmen, die sich nicht an die Regeln halten, und unterdrückt private Websites, auf denen über Politik oder andere verbotene Themen diskutiert wird. 2002 wurden tausende von Internet-Cafés geschlossen, die keine Lizenz hatten. Die Parteiführung darunter sowohl die Hardliner als auch die freiheitlich gesinnten Reformer befürwortet die Kontrollen. "Es gibt einen liberalen Flügel, der der Ansicht ist, dass im allgemeinen die Meinungsfreiheit größer sein sollte, als sie heute ist, und dass das der Parteiherrschaft eher nützen als schaden würde", sagt Andrew Nathan, Professor für politische Wissenschaft an der Columbia University und Autor zahlreicher Bücher über die Politik Chinas, "aber alle sind sich darin einig, dass man verhindern muss, dass sich Kräfte organisieren, die die Partei herausfordern könnten. Es gibt also genug Übereinstimmung unter allen, die Politik mittragen, Dissidenten aus dem Internet herauszuhalten."
Die Behörden gehen hart gegen Verstöße vor. Amnesty international hat die Fälle von 33 politischen Gefangenen untersucht, die wegen Internet-Nutzung verhaftet worden waren. Darunter befinden sich zwei Mitglieder der Falun-Gong-Bewegung, die laut dem Bericht von ai im Gefängnis umgekommen sind, außerdem Aktivisten und Schriftsteller, die sich für politische Reformen einsetzen. Der Essayist Chen Shaowen etwa wurde im September 2002 festgenommen, nachdem er im Internet Artikel über Arbeitslosigkeit und ungleiche Behandlung im Rechtssystem veröffentlicht hatte. Die Regierung warf ihm vor, "die staatliche Macht zu untergraben" und "zahlreiche Artikel verschiedener Art einzuschicken, die wichtige Fakten erfinden, verfälschen und übertreiben und die Kommunistische Partei Chinas und das sozialistische System schlecht machen."
Andere müssen harte Konsequenzen befürchten, weil sie sich über behördliche Unfähigkeit, Korruption oder auch nur über Probleme im Gesundheitswesen beschwert haben oft auf lokaler oder Provinzebene. Im April 2001 wurde Wang Sen verhaftet, weil er "die Polizei verleumdet" habe, er hatte einem Gesundheitszentrum in Dachuan vorgeworfen, Tuberkulosemedikamente zu verkaufen, die aus einer Schenkung des Roten Kreuzes stammten.
Ein Jahr später, im August 2002 nutzte Wan Yanhai das Internet, um darüber zu informieren, dass in der ostchinesischen Provinz Henan Tausende von Menschen mit HIV-Viren infiziert worden waren, nachdem sie in staatlich finanzierten Gesundheitszentren Blut gespendet hatten. Nach seiner Festnahme im August 2002 verbrachte er einen Monat im Gefängnis, bis er schließlich freigelassen wurde, aufgrund des Drucks aus dem Ausland und weil er zugegeben hatte, Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Im Jahr 2002 gab die Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei China eine Richtlinie gegen Internet-Informationen heraus, "die die soziale Stabilität beeinträchtigen", wobei sie Berichte über Chinas Aids-Epidemie als Beispiel nannte.
Die chinesischen Behörden hatten schon immer ein scharfes Auge auf Dissidenten und andere, welche die Kommunistische Partei in Frage stellen. Jetzt passen sie ihre Methoden der neuen Technologie an. Beijing verlangt von den Betreibern jeder Website, Chatrooms zu überwachen und politisch kitzlige Aussagen zu löschen. Zusätzlich haben die Provider-Firmen Angestellte, so genannte Da Mama, "Große Mamas", die Gruppen von Freiwilligen dabei anleiten, Botschaften aufzuspüren und zu löschen, die "die Sicherheit des Staates gefährden", "die soziale Stabilität stören" oder "Aberglauben und Obszönität verbreiten". Sie melden Missetäter den Behörden und löschen Live-Diskussionsbeiträge aus dem Netz, wenn die Nutzer anfangen, die Regierung zu kritisieren.
Um sicherzustellen, dass diese Firmen ihren Verpflichtungen nachkommen, überwachen 30.000 Beamte der Staatssicherheit Websites, private E-Mails und Chatrooms. "Die Leute sind es gewohnt, auf der Hut sein zu müssen, und das allgemeine Gefühl, überwacht zu werden, wirkt abschreckend", sagt ein Vertreter des Büros für öffentliche Sicherheit, der in einem Bericht der US-amerikanischen Expertengruppe Rand Corporation zitiert wird. "Der Schlüssel zur Kontrolle des Internets in China liegt in der Beeinflussung der Menschen, und das ist ein Prozess, der in dem Moment beginnt, in dem jemand ein Modem kauft."
Die Behörden finden willige Partner in der Privatwirtschaft, wo die Selbstzensur im Interesse des Profits allgegenwärtig ist. Mehr als 300 Firmen, darunter auch Yahoo China haben die "öffentliche Verpflichtung zur Selbstdisziplin" unterzeichnet. Sie verlangt von den Providern über ihre Aktivitäten Buch zu führen, nach subversivem Material zu suchen und es zu beseitigen sowie zu beanstandende Botschaften an die Behörden weiterzuleiten.
Wo das menschliche Auge versagt, tritt die Technik in Aktion. China verfügt über ein reichhaltiges Arsenal von Hilfsmitteln, um einen Internet-Zugang zu blockieren und die Überwachung zu automatisieren. Diese "Große Chinesische Brandmauer" schließt nach Auskunft des Berkman Centre der Harvard University die Nutzer von etwa 19.000 Websites aus. Bei den meisten geht es um Politik oder Religion. Chinesische Nutzer können sich ohne weiteres Pornographie im Internet anschauen, jedoch bleiben ihnen die Seiten von amnesty international, Human Rights in China, der Menschenrechtsorganisation
Human Rights Watch oder Websites, die mit Tibet oder Taiwan zu tun haben, verschlossen. Die Gründlichkeit der Zensur ist erstaunlich: Chinesische Internet-Surfer gelangen nicht zu den Internetseiten von Gerichten der USA, Australiens oder Großbritanniens. Für Suchmaschinen wie Google oder Altavista hat China Filterverfahren entwickelt, die bei der Eingabe von Suchbegriffen wie "Falun Gong" oder "Menschenrechte und China" bestimmte Fundstellen sofort löschen oder die Suche ganz unterbinden.
Westliche Firmen seien nur allzu bereit, Chinas Überwachungstechnologie zu verfeinern. Das jedenfalls erklärt das Canadian International Centre for Human Rights and Democratic Development in einem Bericht. Große Konzerne wie zum Beispiel Sun Microsystems, Cisco Systems und Nortel Networks würden China bei der Entwicklung von Golden Shield dem goldenen Schutzschild unterstützen, einem System, das lokale Internet-Überwachung mit maschinenlesbaren Ausweiskarten, Datenbanken und Videokameras kombinieren soll. Der Bericht schildert Golden Shield als ein landesweites digitales Überwachungssystem, das nationale, regionale und lokale Sicherheitseinrichtungen in einem allgegenwärtigen Überwachungs-Netzwerk mit einander verbindet. Wenn diese Technologie einmal ausgereift sei, fänden ihre Schöpfer vielleicht interessierte Käufer in Großbritannien oder bei dem von den USA vorgeschlagenen Total Information Awareness Programme. Die Regierung Bush beabsichtigt, als Schutz vor Terrorismus die Entwicklung von Technologie in Auftrag zu geben, welche die Regierung in die Lage versetzt, Informationen über die Krankengeschichte, Reisen, finanzielle Transaktionen und andere Aktivitäten eines Individuums zu sammeln.
Unterdessen scheint Chinas Ministerium für öffentliche Sicherheit eine Armee von Hackern aufzubauen, die Websites und E-Mails von Dissidenten im Ausland attackieren sollen. Gruppen, welche die Unabhängigkeit Tibets fordern, berichten, dass ihre Netzwerke ständig von E-Mail-Viren befallen werden. Manche der Viren konnten zu chinesischen Regierungsstellen zurückverfolgt werden. Im Mai 2002 zerstörten Hacker die ganze Website einer Gruppe von Falun-Gong-Unterstützern außerhalb Chinas. "Ihre ganze Website verschwand einfach", berichtet Scott Chinn, Webmaster der New Yorker Falun Gong. "Es gibt auch eine europäische Falun Dafa Website, deren Inhalt durch Artikel aus der Volkszeitung ersetzt wurde, einer Zeitung der chinesischen Kommunisten."
Die chinesischen Internet-Nutzer versuchen, jeden neuen Schritt zur Überwachung und Blockade geschickt zu unterlaufen, sehen sich aber immer neuen Hindernissen gegenüber. Sie umgehen Filter gegen Massen-E-Mails, indem sie ihre Adressen und Server häufig wechseln. Sie nutzen ähnliche Server, um ihre Zugriffe über nicht blockierte Websites umzuleiten. In jüngster Zeit haben sie auf Techniken zurückgegriffen, die wie bei Programmen, die einen Musiktausch mit anderen Internet-Teilnehmern ermöglichen, um die direkte Herkunft politischer Informationen zu verschleiern. Aber wie in einem Spionage-Comic antwortet die Regierung mit neuer Technik auf eine neue Taktik der Dissidenten, die dann wiederum ihre Konfigurationen ändern, um die Blockaden zu umgehen und immer so fort.
Washington hat einige Instrumente finanziert, wie zum Beispiel SafeWeb, um der chinesischen Zensur von Voice of America und Radio Free Asia zu begegnen. Der republikanische Kongressabgeordnete Christopher Cox aus Kalifornien brachte die Global Internet Freedom Act ein, die zwei Jahresraten je 50 Millionen US-Dollar bereitstellen soll, um die Internet-Zensur zu bekämpfen.
Es ist der chinesischen Regierung allerdings gelungen, den durchschnittlichen Internet-Nutzer an einer straffen Leine zu halten. Optimisten gehen davon aus, dass die demokratisierende Natur des Mediums sich durchsetzen wird, weil die Kommunistische Partei Chinas nicht jede Facette der Internet-Nutzung kontrollieren kann. Auf der ganzen Welt gibt es allerdings reichlich Kundschaft für die Überwachungs- und Blockadetechnologie, die die Kommunistische Partei Chinas einsetzt, darunter auch die USA.
aus: der überblick 04/2003, Seite 37
AUTOR(EN):
David Banisar:
David Banisar ist Wissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt "Cyberlaw", zu Gast an der Universität Leeds in Großbritannien und stellvertretender Direktor der nichtstaatlichen Organisation "Privacy International" in London. Wir drucken diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von "Amnesty Now", wo er in der Ausgabe vom Frühling 2003 zuerst erschienen ist.