Grenzgänger
Eigentlich verdiente Marie, Krankenschwester in Brazzaville (Republik Kongo), nicht schlecht in jenen Jahren des Ölbooms. Doch dieser Job befriedigte die unternehmerischen Ambitionen der energischen Frau kaum, und so nahm Marie 1973 die Fähre über den Kongo-Strom nach Kinshasa.
von Ruben Eberlein
In der Hauptstadt Zaires kaufte sie für 2000 CFA-Franc Kinderkleidung und Seife. Zurück in Brazzaville kamen die Käufer zu ihr nach Hause, weil sie dort preisgünstiger als in den Geschäften der Stadt einkaufen konnten. Der Geschäftsgewinn der folgenden drei Jahre konnte sich sehen lassen, aber Marie wollte sich nicht auf den Handel zwischen den beiden Kongo-Staaten beschränken.
Als eine Freundin, die eine berufliche Weiterbildung in Paris absolvierte, sie auf einen Besuch einlud, zögerte Marie nicht. Sie nahm einen Kredit auf, kaufte in Frankreich Blusen, Schals, Hemden und Slips. Beim Zoll gingen die Einkäufe als Eigenbedarf durch, und in Brazzaville warteten Freunde, Verwandte und Bekannte bereits auf ihre Rückkehr. Bald machte sie so viel Geld, dass sie mit den Gewinnen ein Taxiunternehmen eröffnen konnte.
Mitte der 1990er Jahre lebte Marie im Pariser Stadtbezirk Château Rouge und betrieb dort ein Geschäft mit Lebensmitteln aus Zentralafrika. Sie ist eine von 20 Händlern, die Janet MacGaffey und Rémy Bazenguissa-Ganga für ihr Buch "Congo-Paris" ausführlich interviewt haben und eine der ersten Frauen, die sich im regen informellen Kleinhandel zwischen den zentralafrikanischen Staaten und den Metropolen in Frankreich und Belgien etablierten. In ihrer sozial-anthropologischen Untersuchung zeichnen die beiden ausgewiesenen Kongo-Experten die Entstehung von transnationalen Sozialräumen für eine Gruppe von Migranten nach, die sich aus unterschiedlichen Gründen der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entzieht. Es sind meist so genannte Illegale aus den Kongo-Staaten. Mit Straßenhandel, nicht gemeldeten Bars, Taxibetrieben oder als Fotografen halten sie sich in Paris über Wasser.
Im Leben der Stadt sind die Clandestines - die Verborgenen - weithin sichtbar: auf den Straßen von Château Rouge, wo alles von Hautbleicher bis zur Kassette mit den neuesten Kwassa Kwassa-Hits angeboten wird, am Metro-Eingang von Strasbourg St. Denis, wo jeden Morgen junge Männer auf potenzielle Arbeitgeber warten. Wie viele Einwanderer aus der ehemaligen französischen Kolonie Republik Kongo oder aus der Ex-Kolonie Belgiens, der Demokratischen Republik Kongo (DRC, ehem. Zaire) in Frankreich ohne Aufenthaltsstatus leben, ist nicht bekannt. Offiziell gemeldet waren 1994 um die 13.000 Kongolesen und 23.000 Immigranten aus der DRC.
Für die Geschäfte sind Angestellte von Fluggesellschaften, die zwischen Paris und Zentralafrika unterwegs sind, von großer Bedeutung. Sie organisieren den finanziellen Transfer und sind in der Lage, Erzeugnisse aus den Kongo-Staaten preisgünstig zu transportieren. Andere Produkte sind zum Teil gestohlen, zum Teil Plagiate bekannter Markenprodukte. Verkauft werden geräucherter Fisch, Maniok, Kosmetik, Kleidung und technische Geräte. In Privatwohnungen, auf Straßen, in Nganda-Bars, Fußballstadien und Shops treffen sich Kunden und Verkäufer. Die erfolgreichsten unter den Kleinunternehmern betreiben ihren Handel zwischen Johannesburg, Brüssel, Paris, Brazzaville, Kinshasa, Hongkong und Dubai.
Im informellen Handel, den die Autoren untersucht haben, sind Einwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis, an der Universität gescheiterte Studenten und ehemalige Staatsangestellte aktiv. Sie formen, so wird betont, keine homogene Gruppe. Doch vereint sie die Erfahrung von Ausgrenzung durch den Staat sowohl in Zentralafrika als auch in Europa. "In Reaktion darauf schaffen sich einige dieser Menschen eine eigene Welt, in der sie sowohl legale wirtschaftliche Aktivitäten ablehnen als auch das Wertesystem der Gesellschaft." Starke verwandtschaftliche Bindungen ersetzen die fehlende Rechtssicherheit. Die Kleinunternehmer "respektieren sehr wohl soziale Regeln, doch das sind nicht unbedingt die des Staates."
Ein Beispiel dafür ist das Gewerbe der illegalen Wohnungsvermieter. Derjenige, der sich über Monate hinweg versichert hat, dass eine Wohnung tatsächlich unbewohnt ist und schließlich eine nicht gemeldete Unterkunft einrichtet, hat das Recht zur Vermietung. Abhängig davon, wie lange er ein Squatter verwaltet, wird der Preis festgelegt, für den die Wohnung zu übernehmen ist.
In Fußballstadien, den Bars und in den afrikanischen Geschäften ist das Leben des Kongos ebenso präsent wie die kulturellen und sozialen Bedingungen Europas. So erzählt der in feinstes Managerzwirn gekleidete Jeromé, ein erfolgreicher Großimporteur afrikanischer Nahrungsmittel, den Interviewern sowohl von seinen Geschäften als auch von den Schwierigkeiten, die ihm sein Bruder in Brazzaville bereitet. Der hätte - neidisch auf den Erfolg von Jeromé - einen Zauberer beauftragt, ihm einige körperliche Probleme auf den Hals zu schicken.
Ist Jeromé also zerrissen zwischen Moderne und Tradition, wie es oft postuliert wird? Die Autoren empfehlen, Dichotomien wie diese zu vermeiden: "Vom Standpunkt der Erfahrung betrachtet lebt der Einzelne in nur einer sozialen Realität, auch wenn er manchmal in Gegensätzen darüber spricht."
MacGaffey und Bazenguissa-Ganga beschreiben, wie die Akteure der transnationalen informellen Handelsnetzwerke territoriale, institutionelle und juristische Grenzen in Frage stellen. Ihr Resümee, die Unternehmer konstituierten eine "Klasse an sich", mag angesichts der Unterschiede zwischen einem Großhändler gefälschter Rolex-Uhren und einem Kaufhausdieb als romantische Verklärung erscheinen. Lebendig wird aber, wie alle diese Menschen "die Dinge in die eigenen Hände nehmen und sowohl eine funktionierende alternative Ökonomie als auch soziale Institutionen schaffen und sich dadurch der Kontrolle und der Unterdrückung durch die Mächtigen widersetzen."
Literatur
Janet MacGaffey, Rémy Bazenguissa-Ganga: Congo-Paris. Transnational Traders on the Margins of Law (Reihe African Issues). James Currey, Oxford 2000, 190 S.
aus: der überblick 03/2002, Seite 42
AUTOR(EN):
Ruben Eberlein:
Ruben Eberlein hat Journalistik und Afrikanistik studiert und arbeitet als freier Journalist in Berlin.