Der Soldat
Wie ist das, wenn man für eine verlorene Sache Krieg geführt hat und bis heute von Bildern der eigenen Grausamkeit verfolgt wird? Die Schriftstellerin Alexandra Fuller, selbst in Rhodesien aufgewachsen, hat einem früheren weißen Elitekämpfer zugehört und ihn auf eine Reise zu einem der Kriegsschauplätze begleitet.
von Alexandra Fuller
Das erste Mal habe ich Benjamin K. in Sambia getroffen, an einem schwülen Vormittag Ende Dezember 2001. Ich saß gerade an einem Picknick-Tisch auf der Fisch- und Bananenfarm meiner Eltern, die am Ufer des Sambesi nahe der Grenze zu Simbabwe liegt, trank Tee und las, als die Hunde aufsprangen und jaulend zum Eingang des Camps liefen. Ich blickte auf, und dort, unter einem Bogen aus Ranken der Passionsfrucht, stand der Mann, der mir von anderen Weißen, die hier lebten, als “der neue mazungu (Weiße) in der Gegend”, ein “verrückter Bastard”, ein “fieses Schwein”, “einer der effektivsten Kopfjäger in der rhodesischen Armee”, “ein verdammter Holy Roller” (Mitglied einer nordamerikanischen christlich-charismatischen Sekte) und “der Typ, der nicht trinkt” beschrieben wurde - wobei die letzten drei Beschreibungen, zumindest in diesem Teil Afrikas, an sich schon eine bemerkenswerte Nachricht darstellen.
Selbst unter den günstigsten Umständen geben die Weißen in der Gegend, in der meine Eltern leben, einige hundert Meilen südlich von Lusaka, ein eher schweißgebadetes, Malaria-geschwächtes, betrunkenes, tragisches und entwurzeltes Bild ab. Ein rauflustiger Ex-Soldat, der hier aus Simbabwe gestrandet ist, würde, so dachte ich, so aussehen wie sie, wenn nicht noch schlimmer. Stattdessen wirkte K. frisch und gut ausgeruht, ein Krieger, bereit für die Schlacht. Mit seinen 47 Jahren war er ein kräftiger Einsneunziger, nicht im Fitnessstudio gestählt, aber von gesundem Aussehen. Er hatte ein breites, spatenförmiges Gesicht olivbrauner Färbung und wachsame Augen, groß und khakifarben. Seine Lippen waren voll, die Zähne ebenmäßig und weiß. Es umgab ihn eine eindringliche Aura von Reinlichkeit und Selbstdisziplin - was in diesem schwülen Klima nicht so einfach durchzuhalten ist.
Ich bot ihm Tee an, und er ließ sich mir gegenüber auf dem Liegestuhl nieder, so als wenn er sich auf eine lange Belagerung einrichten wollte. K. hatte, wie ich rasch herausfand, die - womöglich aus Einsamkeit geborene - Angewohnheit, lange und unermüdlich über alles Erdenkliche, was ihn umgab, zu reden. An diesem Morgen ließ er sich ausgiebig über die Themen Hunde, Bananen, Fischfarmen, Tee, Zahnhygiene, die schlechte Straße nach Lusaka, die Regenzeit und die unanfechtbare Macht des Allmächtigen aus. Er machte keine Pause, die es mir ermöglicht hätte, auf irgendeinen seiner Sätze zu antworten - mit der Folge, dass mit allem, was er sagte, stets das letzte Wort hatte. Das störte mich nicht weiter - ich wurde gut unterhalten und sein Geplauder erlaubte mir, seinen Körper zu mustern, der in gewisser Hinsicht mehr Geschichten erzählte, als sein Mund es je könnte.
Er hatte an beiden Armen Tätowierungen: links Amor und einen Wikinger, rechts das Schwertsymbol der portugiesischen Fallschirmjäger, der pára-quedistas. Darüber waren die Buchstaben “A POS” auf seinem Arm zu lesen. Die einzigen Menschen, die es meines Wissens für nötig hielten, ihre Blutgruppe in blauer Tinte unauslöschlich in ihre Gliedmaßen einzuritzen, waren Soldaten, die in afrikanischen Kriegen gekämpft hatten. Also wartete ich, bis sein Monologisieren mir eine Pause bot, um dann zu bemerken: “Sie waren im Krieg.”
“Ja”, sagte er. Mehr hatte ich auch nicht erwartet. Die meisten weißen Männer, die in einem afrikanischen Befreiungskrieg auf der Verliererseite gekämpft und sich dann für ein Bleiben in Afrika entschieden haben, sprechen aus nachvollziehbaren Gründen nur zurückhaltend über ihre Erfahrungen. Doch K. zeigte sich am Ende ebenso gesprächig über seinen Krieg, wie er es bei allem anderen war.
Der Rhodesische Krieg, der mehr oder weniger 1966 begann und im Jahre 1979 endete, war ein anhaltender und gewaltsamer Kampf zwischen einer weißen Minderheit, welche die Macht hatte und diese auch behalten wollte, und einer schwarzen Mehrheit, die keine Macht besaß, aber von den gerade erst unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten wie auch von der Sowjetunion und ihren Verbündeten in ihrem Kampf um Macht unterstützt wurde. Der Krieg wurde auf rhodesischem Boden sowie in den Nachbarstaaten Mosambik und Sambia geführt. Doch anders als bei den meisten Unabhängigkeitskriegen in Afrika betrachteten sich beide Seiten - Weiße wie Schwarze - als Einheimische des Landes. Die weißen Rhodesier haben die Bewegung für die Unabhängigkeit der Schwarzen nicht als fortschrittlichen oder zumindest unvermeidbaren Schritt gesehen; sie betrachteten sie eher als Invasion feindlicher Kräfte.
Als der Krieg sich hinzog, wurden praktisch alle tauglichen Männer zwischen siebzehn und sechzig Jahren, weiße wie “farbige” (der rhodesische Begriff für Menschen aus Mischehen), einberufen, um die “kommunistisch-terroristischen Aufständischen” zu bekämpfen. Der Chef der Verwaltung in der rhodesischen Armee, Derry MacIntyre, machte sich sogar (erfolglos) für das israelische Modell stark: Männer und Frauen zum Militärdienst einzuberufen. “Denn wir sind alle Rhodesier und werden zusammen kämpfen durch dick und dünn”, sangen die weißen Rhodesier, “wir werden dieses Land frei halten und den Feind daran hindern, einzudringen.”
K. sagte mir, dass er in der “Rhodesischen Leichtinfanterie” (R.L.I.) gedient hätte. Im Gegensatz zu den anderen, aus Schwarzen und Weißen zusammengesetzten Divisionen der rhodesischen Armee, war die R.L.I. eine professionelle, rein weiße Kommandoeinheit. Über ein Viertel ihrer Mitglieder waren Ausländer, geheim angeworben in Großbritannien, Westdeutschland, den USA, Kanada, Australien, Frankreich, Belgien, Neuseeland und Südafrika. Sie waren berüchtigt als gnadenlose Kämpfer sowohl im militärischen wie im zivilen Leben. “Naai niemals mit der R.L.I.”, pflegten die Kids in Rhodesien zu sagen. “Fick niemals mit der R.L.I.”
Zwischen K. und mir entstand eine Stille, voll von all dem, was ich von ihm zu wissen glaubte, und all dem, wovon er dachte, was ich von ihm glaubte zu wissen. Und dann sagte er: “Ja. Gut, das sind heute alles alte Geschichten. Alles Vergangenheit. Tot und begraben.”
Unsere zweite Begegnung, zwei oder drei Tage später, zeigte, dass K.s Vergangenheit weit davon entfernt war, tot zu sein; sie war in der Tat begraben, direkt unter seiner Haut.
Sein gewohnheitsmäßiger Monolog wandte sich bei dieser Gelegenheit, wie Unterhaltungen so oft in diesem Teil der Welt, dem Thema der Parasiten zu. Er begann mit Malaria, ging dann zu Fliegen und Zecken über. Plötzlich nahm er meinen Finger und führte ihn an eine Stelle direkt unter die deutliche Erhebung seines rechten Wangenknochens.
“Fühlen Sie das? Können Sie das fühlen? Vor zwei Jahren hat es mit diesen wandernden, springenden Klumpen unter der Haut angefangen.” K. drückte meinen Finger tiefer in sein Fleisch. “Da, sehen Sie?” Ich nickte. “Was, glauben Sie, was das ist?”
“Putsis?”, sagte ich und dachte dabei an Eier, die von Fliegen unter die Haut gelegt werden und aus denen später Maden hervorgehen. Er schüttelte seinen Kopf und presste seine Lippen siegessicher zusammen. “Würmer?”
“Wieder falsch”, sagte K. “Pickel”, sagte ich. “Ich weiß es nicht. Furunkel, Beulen, Karbunkel, Heuschrecke.” K. starrte mich ernst an. Er sagte: “Das war vor einigen Jahren. Ich hatte gerade dieses Kätzchen gerettet - es war Regenzeit, und Sie können sich vorstellen, wie diese armen verdammten Kätzchen wie ertrunkene Ratten an den Straßenrand gespült werden? Ungefähr eine Woche später tauchten überall diese Hubbel auf. Ich dachte, ich hätte mir Würmer von dem Kätzchen gefangen, also nahm ich Pillen zur Wurmkur ein. Nichts. Außer dass ich Dünnpfiff bekam. Also tauchte ich uns beide in ein Hundetauchbad und es hat verdammt nicht viel gefehlt, und ich hätte das arme Kätzchen umgebracht. Doch diese Klumpen nervten mich immer noch. Also habe ich daraufhin in zwanzig Litern Paraffin gebadet, worauf meine Ohren einen Monat lang bluteten, aber diese Klumpen zuckten weiter. Ich wurde benzi (verrückt), sage ich Ihnen.
Dann habe ich mir zweimal am Tag eine Woche lang ein Desinfektionsmittel für Schafe injiziert, zwei Kubikzentimeter auf einmal. Ich dachte, ich hätte vielleicht Schafwürmer unter meiner Haut. Das Mittel für Schafe hat mich fast umgebracht - ich lag eine Woche lang im Bett, aber diese verdammten Klumpen zuckten immer noch. Also habe ich meine Matratze verbrannt, meine Kleider gekocht, meinen Schlafraum ausgeräuchert, meine Schuhe ausgekocht, doch die Klumpen waren immer noch da. Die Ärzte haben mir Medikamente gegeben, die die Würmer töten sollen, die sich diese Leute in Westafrika fangen. Ich sagte zu dem Arzt: ‘Das hier ist Sambia, nicht dieses verdammte Westafrika.’ Sechs Tabletten am Tag. Die haben mich so krank gemacht, dass ich dachte, ich sterbe. Da lag ich also wieder im Bett, hundeelend und mit zuckenden Klumpen. Schließlich war ich bei einer chinesischen Ärztin in Lusaka - Mrs. Ho Ling. Sie diagnostizierte bei mir entzündete Nervenenden. Es waren nur die Nerven”, schloss K.
“Zu viel Stress. Zu viel Krieg.”
Die Ereignisse, die zu “dem Krieg” (wie ihn die Weißen nannten) oder dem “Zweiten Chimurenga” (wie ihn die Schwarzen in Anlehnung an den Shona-Begriff für “für etwas kämpfen” oder “aufschreien” nannten) geführt hatten, haben sich über fast hundert Jahre hinweg in tragischer Unvermeidlichkeit aufgestaut: Die Frage der Landverteilung beruhte auf Rassendiskriminierung, was wiederum das Pendel zwischen der Frage der Rassentrennung und der Forderung nach “ein Mensch, eine Stimme” hin- und herschlagen ließ, bis schließlich das ganze Kartenhaus mit großer Wucht in sich zusammenfiel.
Das Gerangel um Kontrolle über das südliche Afrika war bereits seit dem späten achtzehnten Jahrhundert voll im Gange; die Buren, Briten, Deutschen und Portugiesen stritten um die Böden von Afrikas Hinterland, das noch weitgehend unerforscht war. Im Jahre 1889 sicherte sich Cecil John Rhodes, der als Chef und Mitbegründer der Bergwerksgesellschaft von De Beers mehrere Millionen Pfund angehäuft hatte, eine königliche Charta von der britischen Königin Victoria, um im Land nördlich des Limpopo nach Gold zu suchen. Im folgenden Jahr schickte Rhodes (der kurz darauf Premierminister der Kapprovinz in Südafrika wurde) unter dem Banner der British South Africa Company (B.S.A.C.), einer 1889 von ihm gegründeten Handelsgesellschaft, eine Kolonne von bunt zusammengewürfelten Pionieren - Abenteurer, Farmer, Bergleute und Polizisten - nach Mashonaland, einem Gebiet, das sich um Harare, die heutige Hauptstadt Simbabwes, erstreckt. 1893 fielen Weiße dann in Matabeleland ein, der Gegend, in der Simbabwes zweitgrößte Stadt Bulawayo liegt. Dort besiegten sie die Ndebele-Krieger - die izimpi - und eigneten sich ihr Vieh und Land an. Im Jahre 1895 wurden Mashonaland und Matabeleland unter dem Namen Rhodesien zu einem Territorium vereint, das keine britische Kolonie war, sondern eher ein von der B.S.A.C. kontrolliertes Landgebiet.
Weiße Siedler in Rhodesien erhielten von der Handelsgesellschaft Farmen von bis zu 2500 Hektar Größe; die einheimischen Schwarzen gingen leer aus. Stattdessen wurden sie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und mussten ihren neuen Herren eine “Hüttensteuer” zahlen. Im Jahre 1896 erhoben sich die Afrikaner im als “Ersten Chimurenga” bekannt gewordenen Aufstand gegen die Weißen, doch sie wurden binnen achtzehn Monaten niedergeschlagen.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren die weißen Siedler von Südrhodesien (wie die Region genannt wurde, nachdem die B.S.A.C. ihre Kontrolle auf das Gebiet nördlich des Sambesi ausgedehnt hatte, das 1911 zu Nordrhodesien wurde) in zunehmendem Maße unzufrieden mit der Herrschaft der Handelsgesellschaft. Sie votierten dafür, eine selbstregierte britische Kolonie zu werden. In den frühen sechziger Jahren haben fast alle afrikanischen Länder ihre Unabhängigkeit erlangt und 1964 folgte auch Nordrhodesien. Es wurde nach einem weitgehend gewaltlosen Machtwechsel zum unabhängigen Sambia.
Am 11. November 1965 jedoch erklärte die Regierung von Südrhodesien einseitig die Unabhängigkeit, weil sie fürchtete, dass der britische Premier auch dieses Land den Afrikanern überlassen würde. Die Weißen behielten dadurch ihre Macht, die schwarzen Rhodesier blieben auch weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Großbritannien sowie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängten daraufhin Wirtschaftssanktionen gegen das Unrechtsregime, und die schwarzen rhodesischen Nationalisten bereiteten sich auf einen Krieg vor. Sie erhielten ihr Training in Ländern, die ihre Sache unterstützten: in Sambia, Ghana, Tansania, China, Nordkorea und in der Sowjetunion. Eine Zeit lang konnten die nach Rhodesien geschickten nationalistischen Guerillakämpfer von den Regierungstruppen leicht aufgegriffen und getötet werden. Sie waren, wie ein weißer Farmer sagte, “lediglich ein Nadelstich in unsere Seite” - oder, wie es Armeepersonalchef MacIntyre arroganter ausdrückte, “Gärtnerjungs”. Doch 1972 intensivierten die Rebellen ihren Krieg. Sie operierten nicht mehr von außerhalb der rhodesischen Grenze, sondern infiltrierten den Nordosten des Landes, versteckten ihre Waffen und lebten inner- und außerhalb lokaler Dörfer. Von diesen Basen aus griffen sie weiße Farmer an und schüchterten deren schwarze Arbeitskräfte ein; sie legten Minen und Hinterhalte.
K. schloss sich 1972 der R.L.I. an. Er war damals 18 Jahre alt. Ich lebte während des Krieges auf einer Farm an der rhodesisch- mosambikanischen Grenze, doch ich war erst elf, als er zu Ende ging. Ich habe meinen Vater in den Kampf ziehen sehen. Doch er musste nicht weit gehen. Er kam bis zum Ende der Zufahrt, wurde dort von einem Land Rover aufgelesen und mit fünf anderen Farmern auf die Hügel oberhalb unseres Hauses gebracht. Dort krochen sie wochenlang umher in der Hoffnung, dass der Feind sie nicht bemerken würde. “Wir waren nur ein Haufen stümperhafter Farmer, die im Busch herumhingen”, sagte er. “Wir hatten Glück, aus dem Krieg rausgekommen zu sein, ohne auf einander zu schießen, von den verdammten gooks (“Schlitzaugen”, abschätziger Begriff ursprünglich für Vietnamesen im Vietnamkrieg) mal ganz abgesehen.”
K. war anders. In vielerlei Hinsicht war er dazu geboren und aufgezogen, ein Soldat der rhodesischen Armee zu werden. Er war weiß, aber ein Afrikaner, und seiner Erziehung verdankte er die stärkste Waffe, die ein weißer Mann in einem afrikanischen Krieg besitzen kann: eine profunde Kenntnis vom Busch und eine tiefgreifende Verachtung für schwarze Menschen.
K. wurde am 26. April 1954 in Bulawayo geboren. Sei Urururgroßvater, ein Ingenieur, hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts seine Heimat an der belgisch-holländischen Grenze verlassen und war nach Indien ausgewandert, wo K.s Vater Harry aufwuchs. (Zu ihrem Schutz habe ich die Namen von und Angaben über viele der hier erwähnten Personen verändert). Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges brach Harry nach Südafrika auf, wo er K.s Mutter Yvette, eine in Südafrika geborene Frau mit burisch-griechischen Eltern, kennen lernte. Als sie 22 war und im südafrikanischen Feldhockeyteam spielte, bekam Yvette Kinderlähmung. Nach monatelanger Lähmung lernte sie allmählich wieder, ohne Hilfe zu gehen, aber sie konnte nicht wieder aufstehen, wenn sie hingefallen war. Eine resolute und starrköpfige Frau: “Sie hätte niemals zugelassen, dass ein gondie” - ein abwertender Begriff für Schwarze - “sie berührt”, sagte K. zu mir. “Wenn sie hinfiel, kroch sie lieber den ganzen Tag Zentimeter für Zentimeter voran, bis sie es aus eigener Kraft zum Haus geschafft hatte. So stolz war sie.”
Die Familie lebte auf einer Vieh- und Tabakfarm in Kalomo im Südwesten von Nordrhodesien. Mit sechs Jahren wurde K. in der nahe gelegenen Stadt Mazabuka in ein Internat eingeschult. Er wurde schnell als schwieriges Kind abgestempelt. Schon in der ersten Schulwoche wurde er wegen unverschämten Betragens mit einem Lederriemen so lange geschlagen, bis sein Gesäß vor lauter Striemen geschwollen war. Mit acht wurde er in eine vorwiegend jüdische Schule, Milton Junior, in Südrhodesien, geschickt. “Sie hämmerten die Scheiße aus mir raus”, sagte K. “Es gab nur ganz wenige von uns in der gesamten Schule, die keine Juden waren, also haben sie auf uns rumgehackt.”
Seine Erfahrungen auf der Jameson High School waren noch brutaler. Als er vierzehn war, wurde er von zwei Jungs in seinem Alter niedergedrückt und ein älterer Junge vergewaltigte ihn. “Das war es”, sagte K. “Ich will damit nicht sagen, dass ich für mein Leben geschädigt bin oder sonst was, weil ich vergewaltigt worden bin, und ich habe nichts gegen moffies” - eine burische Bezeichnung für Homosexuelle -, “solange sie mich in Ruhe lassen. Doch ich war es satt, schikaniert zu werden. Als ich eines Tages unter der Dusche stand und der Typ - das Arschloch, das mich vergewaltigt hatte - hineinkam, trat ich aus der Dusche und schlug ihn nieder. Mit einem Schlag - platt gemacht. Da habe ich gemerkt, dass ich weiß, wie man zuschlagen muss.
Ein Schlag dorthin”, K. deutete auf seine Kinnspitze, “und dann ab nach unten in die Eier und noch einen Tritt auf den Kopf hinterher, wenn sie am Boden liegen. Mehr braucht es nicht.”
1968 starb Yvette während einer Operation an Atemversagen. Man wollte ihr die Sehnen an ihren Händen richten, die von dem jahrelangen Umgreifen der Krücken geschädigt waren. K., der damals vierzehn war, bekam zwei Tage schulfrei, um zur Beerdigung seiner Mutter zu gehen. Als er zurückkehrte, hatte er alle Haare am Körper verloren. (Auf seiner Kopfhaut und an den Augenbrauen ist das Haar nachgewachsen, doch am restlichen Körper ist er immer noch nahezu kahl.) Harry verließ, von dem Verlust seiner Frau schwer gezeichnet, die Familienfarm in dem zu Sambia gewordenen Gebiet und wanderte nach Rhodesien aus, wo er mit dem Farmen fortfuhr - ohne Enthusiasmus. “Nach Mutters Tod war er wie eine Auster”, sagte K. zu mir, “fest verschlossen schien er sich nur noch abzukapseln.”
1972 wurde K. als regulärer Soldat in die rhodesische Armee eingezogen. Seine Einführung in das Militärleben war wenig vielversprechend. Bereits in der ersten Woche trat ihm eines Morgens ein Unteroffizier in den Rücken, weil er so langsam aus dem Bett kam. K.s Kämpferinstinkt kam durch, und er packte den Unteroffizier am Hals und drückte ihn gegen die Kasernentür. Zur Bestrafung musste K. sein gemachtes Bett mit zum Frühstück, Mittag- und Abendessen schleppen. “Ich wusste, dass ich mich nicht immer an die Regeln hielt, dass ich nicht zum regulären Soldaten gemacht war”, sagte er zu mir. “Ich meine, ich konnte es nicht leiden, von irgendeinem Idioten, der weniger Ahnung hatte als ich, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte. Deswegen ließ ich mich bei der Spezialtruppe einschreiben. Ich habe meinen Vater angerufen und ihm gesagt: ‘Dad, ich habe mich der R.L.I. angeschlossen’, worauf er erwiderte: ‘Wenn du dir dein Leben versauen willst, bitte, dann tu es’.”
Ein paar Tage, nachdem ich K. getroffen hatte, entschied ich mich, seine Bananenfarm zu besuchen. Sie liegt, je nach Straßenzustand, etwa eine Autostunde vom Wohnort meiner Eltern entfernt. Kurz nach sechs Uhr morgens wurde ich an der Abzweigung etwa sieben Meilen von K.s Farm entfernt abgesetzt. Es hatte in der Nacht geregnet, die Straße war rot von aufgeweichtem Lehm, der mir beim Laufen an den Schuhsohlen kleben blieb. Sobald die Sonne über dem Horizont aufging, füllte sich die schwere Luft mit einer feuchten Hitze, die nichts Gutes erahnen ließ. Beiderseits von mir lagen im Schlamm versunkene Siedlungen - Gruppierungen von Hütten und Kraals aus Dornbuschzweigen. Der scharfe Geruch von geräuchertem Ziegenfleisch mischte sich mit dem Duft von frischem Regen auf trockenem Gras.
Kleine Mopane-Fliegen sammelten sich in Scharen an meinem Hals und in meinen Kniekehlen. Unterernährte und schmutzige Kinder bildeten hinter mir einen schreienden Chor und übten dabei mit triumphierender Hartnäckigkeit ihr Englisch: “Wer bist du? Wie heißt du? Wohin gehst du?”
K. hatte 1979, ein Jahr, nachdem er die Armee verlassen hatte, mit 25 Jahren geheiratet. Seine Frau Denise war 18 Jahre alt. Sie errichteten gemeinsam ein Geschäft zum Fang von kapenta, einem Sardinen-ähnlichen Fisch, auf der simbabwischen Seite des Karibasees. Im Jahre 1990 sagte ihr einziges Kind, der fünfjährige blonde und blauäugige Luke, bei einer mittäglichen Party, dass er Kopfschmerzen hätte. K. sagte ihm, er solle sich auf einem Handtuch im Schatten ausruhen. Drei Stunden später lag der Junge mit Meningitis im Koma. Innerhalb einer Woche starb er. (K.s Vater war erst wenige Monate zuvor an Herzversagen gestorben.) Das war der Zeitpunkt, an dem K. zum Glauben erweckt, wiedergeboren wurde und zu trinken aufhörte. “Wenn Gott mir eine weitere Chance gibt - wenn Er es als Sein Geschenk ansieht, mir ein weiteres Kind zu schenken -, dann würde ich keinen so’n Scheiß mehr bauen”, sagte er zu mir “Ich würde das Kind zu Seinen Ehren großziehen.”
K.s Ehe brach bald auseinander. Seine Frau führte das Geschäft weiter, K. dagegen brach 1992 von der Spitze der Sambesi-Schlucht aus an den Flüssen Sambesi und Kafue entlang zu einer gemächlichen Reise auf, um ein Stück geeignetes Land auf sambischem Boden zu finden, auf dem er Bananen anpflanzen konnte. (In der Zwischenzeit hatte die aggressive Landreformpolitik in Simbabwe unter Präsident Robert Mugabe es K. als Weißem nahezu unmöglich gemacht, in seinem eigenen Land Farmland zu finden.)
Nach fast zweijähriger Suche kam er im Tal von Chirundu an. K. tuckerte in einem Schnellboot den Kafue hinunter, als er auf eine kräftige Feldfrucht nahe am Flussufer stieß - ein “Turbo-Kohl”, wie K. sagte - Marihuana. Er machte sein Boot fest, kletterte das Ufer hinauf und machte sich ein erstes Bild von seinem künftigen Eigentum, seiner heutigen Farm. “Es war, als wäre ich zu Hause angekommen”, sagte er zu mir. “Es war, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, meinen Fuß auf diesen Boden zu setzen. Sobald ich ihn sah, wusste ich, dass ist meiner. Jeden Tag sinke ich auf die Knie und lobpreise den Allmächtigen dafür, dass er mir dieses Land gegeben hat.”
Je nach Standpunkt kann man auch sagen, dass es in Wirklichkeit der lokale Chief war, der K. das Land gegeben - vielmehr verpachtet - hat: gut 80 Hektar, bis dahin unkultiviertes Buschland. Als K. begann, gab es dort noch keine Straße, und die Farm war zwischenzeitlich nur per Boot zugänglich (weil der Flusspegel mal zu hoch und mal zu tief war). Doch mit zielstrebiger Entschlossenheit brachte er die Farm nach und nach auf den Stand, den sie bei meinem Besuch hatte - eine beeindruckende Betriebsstätte, fein säuberlich innerhalb eines elektrischen Zauns (zum Abhalten von Dieben) arrangiert, mit üppigen 14 Hektar Bananenpflanzungen und nahezu 70 gut ausgebildeten Arbeitskräften.
Für die Menschen in dieser Region bot K. die vielleicht einzige Chance auf einen Arbeitsplatz, medizinische Versorgung, Schule, Transport und ein anständiges Dach über dem Kopf. Weil Aids so viele Familien ihrer erwachsenen Ernährer beraubt hat, müssen einige Haushalte in den umliegenden Dörfern bis zu 21 Angehörige unterstützen. An der weniger als 20 Meilen entfernt gelegenen Grenze verkaufen sich schon zwölfjährige Mädchen für ein Stück Seife oder etwas Nahrung an die Fernfahrer. “Ich lehre meine gondies, die Dinge richtig zu machen”, sagte K., während er mich Richtung Haus lotste. “Mit der Ausbildung, die ich ihnen gebe, können sie überall einen Job bekommen. Die Leute hier kriegen ihren Arsch nicht hoch, weil sie glauben, dass keiner zuschaut. Sie vergessen, dass der Allmächtige uns immer beobachtet. Alles, was ich tue, mache ich Ihm zu Ehren. Deswegen würde ich nichts tolerieren, was nicht das Beste ist.”
K.s Haus bestand aus einem einzigen Schlafraum, gebaut aus Zement, mit einer vorgebauten Veranda, die sich unter den Ästen eines riesigen Tamarinden-Baumes befand und Aussicht bot auf eine Flussbiegung des Kafue. Der vom Regen aufgewühlte Fluss hatte die Farbe von Tee mit Milch. Drei Flusspferde hatten sich an der Spitze einer Insel gesammelt. Die einzigen Möbel im Haus waren ein Bett, ein Ventilator, ein Stuhl und ein Metallspind. An den Wänden hatte K. Drucke von Wildtieren und Fotografien seiner Eltern, seiner Nichte und seinem Sohn hängen. Die Küche war ein separates Gebäude - unter freiem Himmel und einfach. Ein Propankocher und ein Spülbecken nahmen fast die ganze Vorderfront ein, ein Bord bot Platz für einen Kessel, einen Topf, eine Pfanne und ein paar Teller und Tassen.
Er machte Tee und wir saßen auf der Veranda und balancierten die Tassen auf unserem Schoß. Er hatte ein paar Okraschoten gebraten, die wir mit Salz gewürzt aßen. Die Luft surrte von Insekten und es begannen Regentropfen zu fallen, Silberperlen, die Löcher in den Fluss gruben und einen Vorhang von Feuchtigkeit um uns herum zogen. Wir hörten das Schreien der Arbeiter, als sie zum Unterschlupf rannten. Wir zogen unsere Stühle zum Haus heran, bis unsere Knie aneinander stießen, unter das spärliche Dach, das über der Veranda hing und so für ein trockenes Fleckchen sorgte.
Als der Regen aufhörte und ich gehen wollte, sagte K.: “Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.” Er führte mich durch den Hof und bog dann in Richtung Flussbiegung auf einen Pfad ab, der durch den Busch geschlagen war. Über uns kletterten grüne Meerkatzen und Störche mit offenen Schnäbeln standen Wache auf dem Wipfel eines winterlichen Dornbuschbaumes. Plötzlich öffnete sich der Busch zu einer weiten Rasenfläche, über der noch der feuchte Dunst des Regens lag. Dort stand ein halbfertiges Haus aus rotem Ziegelstein mit Blick auf einen Berg am fernen anderen Ufer, als ob es den Fluss bewachte. “Das”, sagte K. und zeigte über den Fluss, “ist der Peace Mountain. Und hier” - er trat in den noch nicht überdachten Bau - “werden wir eines Tages leben. Ich werde es bald fertig bauen. Was meinen Sie dazu?” “Es ist hübsch”, sagte ich und fragte mich, wer mit “wir” gemeint war. “Schauen Sie”, sagte er. “Es ist alles vorbereitet für Bücher. Hier, und auch da Regale. Die könnte man vielleicht noch verzieren. Das ist die Küche. Sehen Sie? Aus dem Fenster blickt man auf den Berg.”
Er wandte sich mir mit einem anrührenden Gesichtsausdruck zu. “Ich glaube kaum, dass Gott mich diese Reise alleine machen lassen wird”, sagte er. “Er wird mir eine Frau schicken, wenn die Zeit dafür reif ist. Sie muss schon eine ganz besondere Frau sein”, fügte er hinzu. “Es hat so viel Zerstörung gegeben. Aber ich habe auch eine Menge gelernt. Ich habe wirklich viel über Liebe gelernt. Ich würde eine Frau umsorgen. Ich würde sie nicht unterbuttern. Ich würde allen anderen den Vortritt lassen. Ich will nur das hier” - er deutete auf das Haus, den Garten, den Fluss - “mit jemandem teilen.”
Ich weiß nicht, was es war - der einsame Ex-Soldat, sein Durchhaltewillen bei all den Schwierigkeiten, das halbfertig gebaute Haus für eine Frau, die vielleicht niemals kommt -, aber für mich schien K. auf sonderbare Weise von der Welt abgeschnitten zu sein, nicht nur geografisch. Ich wusste, dass es andere wie ihn gab, die einem widersinnigen Krieg entkommen waren und jedes erdenkliche Mittel nutzten, um sich ihr Leben in Friedenszeiten einzurichten, Männer, die Leid zugefügt haben, die zerstört haben, die zerstört wurden. Männer, deren Worte für Töten die Beiläufigkeit spiegelten, mit der sie die Tat betrachteten: “abmurksen”, “aussortieren”, “einen verpassen”, “umnieten”, “liquidieren”, “ausmerzen”, “umlegen”, “abfeuern”, “platt machen”, “wegputzen”. Männer, die die schwarzen Menschen, gegen die sie gekämpft haben, anonymisiert haben, indem sie sie titulierten als munts (burische Ableitung aus Bantusprachen für muntu “Mensch”) , “Kaffer”, toeys (“Gangster”), zots (“Dummköpfe”), flatties (“Knallköpfe”), houts (“Holzköpfe”), gooks (“Schlitzaugen”), terrs (“Terroristen”), nigger, wogs (“Gesockse”), woollies (“Krausköppe”). K. war jemand, der von seinem Krieg nicht nur gezeichnet war, sondern auch durch ihn definiert wurde.
Anfang Februar letzten Jahres traf ich K. in Lusaka. Wir fuhren auf seine Farm und luden Lebensmittel, Wasser, Schlafsäcke, Moskitonetze und über einhundert Liter Benzin auf die Ladefläche seines Pick-up. Wir hatten vor, von Sambia aus nach Simbabwe und zum Schauplatz von K.s Krieg zu fahren - das Mount Darwin-Gebiet in Simbabwe und die mosambikanische Provinz Tete. Diese beiden Gebiete wurden während des Krieges zuerst von den Befreiungskämpfern infiltriert. Sie galten als die “heißesten” Flecken für die Dauer des Krieges. Ich hatte vor, über K.s Krieg zu schreiben. Er wollte ein paar Skelette begraben und Fischen gehen.
Seit dem Jahr, als ich zum ersten Mal auf seiner Farm war, hat K. noch mehr Bananen und einheimische Bäume gepflanzt (er gehört zu den wenigen mir bekannten Personen, die mit Erfolg Baobab-Bäume aus Samen hochgezogen haben). Er hat Land gerodet, um dort Avocados und Mangos anzubauen. Er sah sogar noch kräftiger aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Es stellte sich heraus, dass K., der schon seit einiger Zeit dem Alkohol, Tabak und Marihuana abgeschworen hatte, nun auch auf Fleisch, Tee, Kaffee, Soft Drinks, weißes Mehl und Süßigkeiten verzichtete. “Mein Körper ist ein Tempel für den Allmächtigen”, erklärte er und lud dabei Erdnüsse und grünen Paprika in den Blechkasten, in den wir die Lebensmittel für unsere Reise packten. “Und meiner ist es nicht”, sagte ich und fügte Bier und Kartoffelchips hinzu.
Am nächsten Morgen führte K. seinen Vorarbeiter Michael, einen gut aussehenden, kompetent erscheinenden Mann, in die Arbeit ein, die während seiner Abwesenheit auf der Farm zu verrichten war. “Er ist ein guter gondie”, sagte K. zu mir. “Als ich ihn zuerst traf, wusste er nicht viel. Aber er war lernwillig. Ich habe ihm alles beigebracht und er hat schnell begriffen. Er hat gezeigt, dass er Verantwortungsgefühl besitzt. Nun ist es hier aber durchaus normal, dass man einen anständigen gondie findet, ihn ausbildet und dann bekommt der arme Bastard ‘Henry den Vierten’ und stirbt.” (“Henry der Vierte” ist K.s euphemistische Bezeichnung für HIV) “Wie erklären Sie sich das? Michael kriegt keinen hoch. Ich habe den einzigen gondie in Sambia, der sich nicht zu Tode ficken kann. Glauben Sie, dass ist Zufall? Gott hat ihn mir geschickt, Gott schützt ihn.”
Ich sagte: “Armer Michael. Ich bin sicher, er wäre lieber nicht impotent.” “Schon, aber wenn er einen Steifen bekommen könnte, wäre er bereits tot. Wie hoch ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Sambia? 37 oder 38, wenn du Glück hast.” (Derzeit liegt sie bei 33 Jahren.) “Diese armen Bastards kratzen ab wie die Karnickel.”
Es lässt sich nicht so einfach erklären, auf welche Art die Rassengruppen in dem Teil Afrikas, den ich kenne, zu einer Art unbehaglichem Nebeneinander gekommen sind. Es wäre unaufrichtig, so zu tun, als wäre Rasse kein Thema oder weitgehend ignoriert würde, doch in Sambia, wo K. lebt, macht sich die Trennung mehr an der Kultur als an der Rasse fest. Unverhohlener Rassismus wird nicht toleriert (womit ich meine, dass Nicht-Schwarze, die sich Schwarzen gegenüber als respektlos erwiesen haben, aus dem Lande ausgewiesen werden können), aber es gibt immer noch das Herr-und-Knecht-Relikt aus der Kolonialzeit: Die meisten bwana (Herren) sind weiß und alle Diener sind schwarz. Wenn es um Fanatismus geht, zeigt sich K. zumindest als nicht diskriminierend: Keine Rasse oder Ethnie entgeht seiner Beschreibung. Ostasiaten sind “Wagenbrenner” (ein Bezug auf Inder, der seinen Umweg über die amerikanischen Indianer genommen hat) oder chi-chis (nach ihrem Akzent). Griechen sind “mediterrane munts”; Menschen gemischter Rasse goffles oder “Bastarde”; Briten sind Poms (ein Akronym für Prisoner of Mother England - “Gefangener von Mutter England”); Afrikaander sind slopes (“Schräge”, wegen der ihnen nachgesagten abfallenden Stirn); Portugiesen sind Pork and Cheese (“Schwein und Käse”) und Mosambikaner werden “Onkel Feuer” genannt (wegen der von ihnen praktizierten Brandrodung).
Wir überquerten die Grenze nach Simbabwe und reisten auf einer nahezu leergefegten Straße durch die Landschaft, die nordöstlich von Harare nach Mosambik abzweigt. Die aktuelle politische Gewalt, Trockenheit und Benzinknappheit hatten die Menschen dieses Gebiets zu einer bedrückten Menge gemacht, die sich an den Nothilfeabwurfstellen und im Schatten der Veranden kleiner Gasthäuser sammelte. Die Namen der Städte, die wir passierten, klangen wie die Worte eines Liedes: Murewa, Mutoko, Nyamapanda. Die Fenster unseres Pick-up waren heruntergekurbelt, denn wie jedermann in diesem Teil der Welt wollten auch wir Benzin sparen. Die Klimaanlage einzuschalten wäre eine unverzeihliche Verschwendung gewesen.
K. war still geworden und sein Unterkiefer begann sich vorzuschieben. “Riechen Sie das?” fragte er mich mehr als einmal und schaute mich dabei an, als ob er erwartete, auf meinem Gesicht denselben bestürzten Ausdruck wie auf seinem wiederzufinden. Ich konnte riechen, wie die Sonne die Felsen erhitzte; ich konnte Ziegen riechen, den Rauch von verbranntem Holz und verbrannte Hühnerfedern. Doch was ich roch, war etwas anderes als das, was K. roch. Es war seine erste Fahrt zurück in diese Gegend nach mehr als 25 Jahren, seit er seinen Dienst quittiert hatte. Ich roch das Jetzt; er roch die Vergangenheit.
“Ich weiß, wie Angst riecht. Haben Sie das schon einmal gerochen?”, fuhr er am Steuer sitzend fort. “Es ist unverkennbar, he? Alle Angst ist - es ist der Geruch von ausgestoßenem Adrenalin. Kennen Sie diesen Adrenalinstoß, der einen überfällt, wenn der erste Schuss gefallen ist, und du denkst, das war’s jetzt, das versaut es jetzt, und du wartest auf diesen Adrenalinstoß und alles läuft in Zeitlupe ab?”
“Das macht einen guten Anführer aus. Zu wissen, wann dieser Adrenalinstoß zugeschlagen hat. Wenn du zu lange wartest, ist es schon wieder vorbei und das Adrenalin hat sich in Angst verkehrt, und du hast es nur noch mit einem Haufen Hosenscheißer zu tun. Doch wenn du den richtigen Zeitpunkt erwischst, dann stürmst du mit der ganzen Meute raus aus der Deckung, Arghhh!’ Und dann hast du nicht dieses Scheißgefühl. Verstehen Sie das? Da kommt einfach dieses Gebrüll aus deiner Kehle, und du denkst an nichts anderes als ans Töten. Ich meine nicht, dass du töten willst, es ist einfach das Gegenteil davon, selbst getötet zu werden; also rennst du geradewegs auf die gooks zu und versuchst, ruhig genug zu bleiben, das Gewehr ist dann wie eine Verlängerung von dir, du versuchst einfach, alles so weit zu verlangsamen, dass du einen vernünftigen Schuss abgeben kannst. Und wissen Sie, was uns gerettet hat?”
Ich schüttelte meinen Kopf. “Die munts können nicht geradeaus schießen. Das hat uns gerettet. Die hatten eine beschissene Ausbildung und wurden mit nur der Hälfte der Nahrung und Ausrüstung, die wir hatten, mitten in das verdammte Nirgendwo geschickt. Ihre Gewehre waren hoffnungslos. Bedenken Sie, ein munt kann in der halben Zeit zwei Mal so weit wie wir gehen. Wir konnten es dort draußen vielleicht - wie viel? - drei Tage ohne Wasser aushalten. Ein munt konnte es fünf. Ein munt konnte laufen - ich habe einbeinige munts gesehen, die sich selbst zehn, zwölf, achtzehn Kilometer weit aus dem Busch geschleppt haben. Doch wenn es zum Kontakt kam, dann haben wir sie einfach umgeblasen. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Wir waren besser ausgebildet und ausgerüstet. Während sie über unsere Köpfe hinwegschossen, sind wir einfach auf sie zugerannt. Wir waren schon da, und sie fummelten noch an ihren verdammten Sicherungshebeln herum. Und dann - klick - Schuss - waka. Ein Mal. - Toter gook.”
K. hatte einen harten Krieg. Die R.L.I.-Truppen gehörten zu denen, die es an der Front mit Guerilla-Gruppen aufnehmen mussten, die ihnen manchmal zahlenmäßig bis zum Drei- bis Vierfachen überlegen waren. Die meiste Zeit seiner fünf Dienstjahre war K. an der Nordostgrenze stationiert, in der staubig-heißen Stadt Mukumbura, ein sandiges Ödland, das die Soldaten scherzhaft “Mukumbura am See” nannten. Von dort aus wurden er und seine Männer auf aufeinander folgende dreiwöchige Missionen in das raue und feindliche Gelände Mosambiks und des Mount Darwin geschickt, um Guerilla-Einheiten aufzuspüren und zu vernichten, und die Dorfbewohner, die sie unterstützten. Einmal explodierte eine Panzerfaust in seinem Gesicht.
“Ich konnte eine Zeit lang nicht mehr gut sehen”, sagte er zu mir.
“Wurden Sie zur Erholung nach Hause geschickt?” K. starrte mich ungläubig an. “Ich konnte nicht sehr gut sehen”, sagte er. “Ich war aber nicht blind. Nein, ich bin im Busch geblieben.” Er ist auch über drei Landminen gefahren, die daraufhin detonierten. “Das ging so weit, dass keiner der ous (Slang für “Männer”) mit mir zusammen in einem Fahrzeug sitzen wollte, denn ich zog Landminen geradezu magnetisch an”, scherzte er, als wir gerade durch eine Region fuhren, die für ihre zahlreichen Minen bekannt ist.
Fünf Jahre lang war K.s Welt eine enge, selbstständige Insel von vier oder fünf weißen Männern in einem Land, in dem jeder und alles, was sich bewegte, für den Feind gehalten wurde. K. hatte Talent zu kämpfen und war ein hingebungsvoller Soldat. In nur neun Monaten stieg er vom einfachen Soldaten zum Obergefreiten auf - eine Beförderung, die er sich auf charakteristische Weise erwarb.
Eines Tages war er mit seiner Truppe in einer besonders trockenen Gegend von Mosambik, etwa zwei Marschtage von der letzten Wasserstelle entfernt. K. war mit seiner eigenen Wasserversorgung ausgekommen und hatte noch über eine halbe Flasche übrig. Der Feldwebel befahl K., ihm etwas abzugeben. K. weigerte sich. “Das ist ein Befehl. Gib mir etwas Wasser.” K. gab nicht nach. “Wenn Sie mein Wasser anrühren”, sagte er, “dann töte ich Sie.” Der Feldwebel zögerte. “Hätten Sie ‘bitte’ gesagt”, fuhr K. fort, “hätte ich darüber nachgedacht.” Der Feldwebel wand sich und blickte verwirrt: “Bitte?”, sagte er schließlich. “Nein, Sir.”
Als sie ins Hauptquartier zurückkamen, empfahl der Feldwebel K. für eine Beförderung. “Er ist zu verdammt halsstarrig, um einfacher Soldat zu bleiben”, sagte er. Zwei Jahre später war K. Feldwebel und kommandierte seine eigene Truppe.
Bischof Paul Burrough, von 1968 bis 1981 anglikanischer Bischof der Mashonaland-Provinz, hatte während des Krieges das Verhalten sowohl der Sicherheitskräfte als auch der Guerilla-Kämpfer kritisiert und war überzeugt davon, dass der Krieg beide Seiten brutalisiert hat. Es gibt Beweise dafür, dass die Guerilleros Dorfbewohner terrorisiert, mutmaßliche “Verräter” getötet, unschuldige Familien ermordet und Kirchen geschändet haben. Den Sicherheitskräften wird zur Last gelegt, ihre Gefangenen gefoltert und ermordet, Dörfer niedergebrannt und Frauen aus den Dörfern sexuell misshandelt zu haben.
Ich habe K. gefragt, ob er je bei einem Psychologen gewesen wäre, um ihm zu helfen, die Auswirkungen seiner Kriegsjahre zu verarbeiten. K. schnaubte verächtlich. “Ja, ein paar Mal. Das sind doch nur ein Haufen blöder Affen, wenn Sie mich fragen. Gegen Ende des Krieges wurde ich für eine halbe Stunde zu einigen Seelenklempnern geschickt. Was soll das? Sechs Minuten für jedes einzelne Jahr im Busch, he? Er fragte mich: ‘Spüren Sie Gewissensbisse für das, was Sie getan haben?’ Ich sagte: ‘Gewissensbisse? Nein, Sir, ich habe meinen Job getan. Ich fühle überhaupt keine Gewissensbisse.’”
“Und das andere Mal?”, fragte ich. Plötzlich veränderte sich in K. etwas. Seine Hände krallten sich fest ums Lenkrad und er schaute mich an, als hätte ich ihn gekränkt. Dann kurbelte er die Fensterscheiben hoch und machte die Klimaanlage an. “Da gab es etwas... Ich habe nie darüber gesprochen”, sagte er. “Es gab da Dinge, die im Krieg geschehen sind, die mich gequält und heimgesucht haben.” Dann schwieg er für ein paar Minuten und fing zu weinen an.
“Wir waren im Darwin-Gebiet”, begann er schließlich und zeigte dabei mit dem Gesicht über das Tal nach Westen, wo der Berg jetzt zu sehen war. “Wir saßen all die Tage auf einem Hügel und beobachteten ein Dorf. Es herrscht dort reges Treiben unter den Frauen, was ganz ungewöhnlich war, denn es war Erntezeit. Wir gingen in das Dorf runter und betraten eine Hütte. Dort saßen drei Frauen mit drei riesigen Essenstöpfen. Wir fragten sie: ‘Für wen ist das Essen?’ Sie sagten: ‘Es ist für die Kinder.’ Doch wir wussten, dass sie logen. Es musste für gooks gewesen sein. Man findet sonst keine Frau, die mitten am Tag eine solche Menge Essen für ihre Kinder kocht. Am Mittag sollte die Frau bei der Ernte sein und nicht kochen.” K. fuhr fort: “Eine Frau kann unglaublich viel Schmerz ertragen und ist unglaublich stark. Ein Mann - du kannst ihn mit Prügeln zum Reden bringen, aber Frauen”, er schüttelte seinen Kopf, “da musst du schon deine Psychologie auspacken. Nun, ein weiblicher munt ist unglaublich anständig - sie wollen ihre Haut nicht zeigen.” Er stoppte.
“Also haben Sie sie ausgezogen?”, fragte ich. “Als Waffe?” K. nickte. “Eine Standardprozedur”, sagte er. “Die Frauen saßen also da - eine alte Frau, eine Mutter und ein junges Mädchen. Ich vermute, sie dürfte sechzehn oder siebzehn gewesen sein. Ich sagte zu den Jungs: ‘O.K., holt sie raus. Zieht ihr die Kleider aus und schlagt ihr mit dem sadza-Stock - einem Stock, mit dem der lokale Getreidebrei angerührt wird - auf ihre Brüste und Rippen und auf ihre Fußsohlen und Schultern.’ Ein munt mag auch kein Wasser. Also nimmst du ein T-Shirt oder etwas Ähnliches, tauchst es ins Wasser und ziehst es ihnen über den Kopf. Dann schlägst du sie in den Solarplexus (in die Magengrube), und wenn sie dann nach Luft schnappen, bekommen sie das T-Shirt in den Mund und glauben, sie ertrinken. Das haben wir also mit ihr gemacht.” K. schnappte nach Luft und schlug um sich, indem er mit beiden Händen in die Luft griff und dabei ihre Antwort nachahmte, so dass der Transporter für einen Augenblick führerlos die Straße entlang rumpelte.
Ich muss schockiert ausgesehen haben. “Das ist eine Standardprozedur”, wiederholte er sich. “Ich verschwand für eine halbe Stunde und kam zurück. Sie hatte uns immer noch nicht verraten, wo die gooks steckten. Also sagte ich den Jungs: ‘Schlagt sie noch mehr.’ Wir schlugen noch weiter auf ihre Füße und ihren Rücken ein, doch dann begann ich wütend zu werden. Ich sagte den Jungs, sie sollten mir den sadza-Stock geben. Den habe ich dann in den heißen Brei getaucht und das sadza zwischen ihre Beine tropfen lassen. Sie redete immer noch nicht. Also sagte ich zu ihr: ‘Wenn du nicht redest, werde ich diesen Stock in das sadza tauchen und es dir vorne reinstopfen.’ Sie wollte immer noch nicht reden. Also schöpfte ich einen ganzen Löffel voll heißem sadza.” Er schwieg für eine Minute.
“Warum musste ich das tun?”, sagte er schließlich, immer noch unter Tränen. “Ich hatte das Wissen, die Technik und die Möglichkeit, die gooks zu finden. Ich hätte sie aufspüren können. Ich hätte nichts weiter tun müssen, als aus dem Dorf zu gehen und immer größere Kreise zu schlagen. So hätte ich sie gefunden. Doch es hat mich schier verrückt gemacht, dass sie nicht reden wollte. Dass sie sich mir so widersetzen musste. Es war pure animalische Wut, dass sie nicht kooperieren wollte. Also nahm ich einen Löffel voll sadza und schob es ihr rein, wissen Sie? Ich habe gestopft und gestopft, und als sie zu schreien anfing, habe ich ihr noch mehr sadza reingeschoben. Schließlich hat sie dann geredet. Sie sagte uns endlich, wo sie waren, und wir gingen los und haben elf von ihnen getötet. Dann kamen die Hubschrauber und ich war so beschäftigt mit den Leichensäcken und dem Adrenalin - das ist ein höllischer Adrenalinstoß, wenn es zur Feindberührung kommt, he -, da habe ich sie vergessen. Ich wollte sie ins Krankenhaus bringen, um sie wieder zusammenflicken zu lassen, aber ich war zu abgelenkt. Sie war in Deckung gerannt, um sich zu verstecken und wir konnten sie danach nicht mehr finden. Zwei Wochen später ist sie an ihren Verletzungen gestorben. Sie hatte eine Infektion bekommen.”
Er hielt inne. “Ich hätte ihr das nicht antun müssen”, sagte er. “Ich war wie ein Tier. Ein absolut verfluchter Wilder. Ich hatte damals schon so lange gekämpft, ich hatte so viel von dem gesehen, was diese Typen machten, ich war erschöpft. Aber jetzt hören Sie mir zu, wie ich versuche, mich zu rechtfertigen - kann man überhaupt vertreten, was ich da getan habe?”
Für einen Augenblick dachte ich an die siebziger Jahre zurück, welch selbstgefälliges weißes Schulmädchen ich damals in Rhodesien war. Als die Soldaten in ihren aufstaubenden Panzerfahrzeugen an uns vorbeizogen, habe ich ihnen zur Ermutigung zugewunken, den dünnen Arm zum Siegesgruß in die Luft gestreckt.
K. fuhr fort. “Ihre Familie hatte mich deswegen wegen Totschlags rangekriegt. Der befehlshabende Offizier sagte, ich müsste auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Drei Tage lang musste ich mit Psychologen sprechen - ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelogen wie damals. Das sollte ich auf Anweisung des Offiziers tun. Er sagte, ich müsse geisteskrank wirken. Also habe ich diesen lächerlichen, verdammten Zeit verschwendenden Seelenklempnern gesagt, dass ich Blut trinken müsse. Dass ich geradezu durstig nach Blut sei. Ich erzählte ihnen ... Lügen. Das waren doch nur ein Haufen verdammter Pisser. Sie schrieben in ihre Bücher, stellten mir Fragen und hatten solch eine Angst davor, so zu sein wie ich - sie wussten nämlich, dass es auch sie leicht hätte erwischen können. Tag für Tag im Busch kann jeden meschugge machen. Sie wussten das. Und ich kam davon.”
K. bog von der Straße ab, fuhr eine seichte Böschung hinunter und holperte über eine von Ziegen abgegraste stoppelige Weide schließlich zu einem schattigen Götterbaum, wo wir mit unserem Pick-up Rast machten. Er machte den Motor aus. “Ich muss mir die Füße vertreten”, sagte er.
Wir stiegen beide aus dem Auto. Er lief auf den nahe gelegenen Hügel zu. Ich ging, so wie ich es als kleines Kind gelernt hatte, nach afrikanischer Art in die Hocke und ließ mein Gesäß zwischen den gespreizten Knien herunterhängen. Ich hielt meinen Rücken in den Schatten des Baumes und zündete eine Zigarette an, um die Mopane-Fliegen abzuwehren.
Als K. endlich seinen Weg durch den Busch zurückgefunden hatte, trank ich gerade warmes Bier. K. und ich hoben einen Benzinkanister vom Pick-up herunter. Aus einer gebrauchten Wasserflasche machten wir einen Siphon und hielten ihn mit Hilfe eines aufgeklappten Taschenmessers in den Tanköffnung. K. schüttete zwanzig Liter in den Pick-up. Dann weitere zwanzig Liter. “Ich sollte das Zeugs einfach hinunterschlucken”, sagte er und beobachtete dabei den rosaroten Strahl des in den Tank fließenden Benzins. “Dann würde es ein Arschloch weniger auf der Welt geben.”
Vom Nyamapanda-Grenzposten durch das Herz von Nordwest-Mosambik gab es eine schnurgerade, neue und auf beiden Seiten großzügig planierte Straße, die mit Geldern von Hilfsorganisationen gebaut worden war. Sie sah wie ein hastig vergebenes Geschenk aus, dessen Nutzen nicht weiter erklärt wurde. Die Straßenschilder waren zu ausgefeilt für die Orte, auf die sie hinwiesen, dafür fehlten aber die Entfernungsangaben. K. konnte sich nicht daran erinnern, wie weit es bis zur nächsten Stadt war. “Ich glaube, wir haben sie sowieso bombardiert”, sagte er, “und wenn wir es nicht waren, dann haben sie es selbst gemacht.”
Nachdem Mosambik im Jahre 1975 seine Unabhängigkeit von Portugal errungen hatte, erklärten sich die Guerillakämpfer, die dort den Krieg geführt hatten - die Frente da Libertação de Moçambique (FRELIMO) - zu Marxisten-Leninisten und wandten sich zur Unterstützung an die Sowjetunion. Als Antwort darauf gründete die rhodesische Regierung die M.N.R. (Mozambique National Resistance, später RENAMO), mit der sie die FRELIMO-Regierung destabilisierte, die die schwarzen Rebellen aus Rhodesien unterstützt und ihnen Unterschlupf gewährt hatte. Der Krieg zwischen FRELIMO und RENAMO - ein bizarrer Unglücksfall von Herrschaft, Unabhängigkeit und Geografie - dauerte bis Oktober 1992. Doch erst 1994 waren alle Kämpfer demobilisiert. Bis dahin hatte der Konflikt fast einer Million Mosambikaner das Leben gekostet, etliche weitere Millionen waren vertrieben worden. Die beiden Seiten zugeschriebene Brutalität gelangt in ihrer Reichweite zur trauriger Berühmtheit: Vergewaltigung, Folter, Mord, Sexsklaverei und jede nur erdenkliche Form der Misshandlung.
Die Ortschaften, durch die wir jetzt fuhren, sahen wahllos angeordnet und provisorisch aus, aus Ruinen geborene Orte, die schon die nächste Katastrophe fürchteten. Während des Krieges wurden nicht nur die Straßen vermint, sondern auch Stromleitungen, Brücken, Eisenbahnstrecken, Flughäfen, Schulen, Fabriken, Felder und Viehdesinfektionsanlagen. Gegen Ende des Krieges gab es ungefähr eine Million Landminen in Mosambik, grob geschätzt eine für achtzehn Personen. Die höchste Konzentration gab es in den Westprovinzen entlang der Grenze zu Simbabwe, wo K. und ich unterwegs waren.
“Das stand alles unter Kriegsrecht, als ich hier war”, sagte K.. “All diese Dorfbewohner mussten damals verschwinden. Einige gingen in die Städte oder über die Grenzen nach Malawi, Rhodesien und andere Länder, doch andere versteckten sich. Wir sind auf ihre kleinen Lager getroffen: Nur eine kleine Buschstruktur - etwa ein aus Zweigen hergestelltes Zelt - und vielleicht ein, zwei Meilen davon entfernt war die Stelle, wo sie ihre Tagesmahlzeit gekocht haben. Sie sind damals etliche Kilometer zu ihren Feldern marschiert - sie haben nie in der Nähe der Plätze geschlafen, an denen sie aßen oder ihre Feldfrüchte anbauten. Sie wollten nicht gefangen werden, diese armen Schweine. Sie haben die ganze Zeit wie Tiere gelebt. Sie hatten eine Scheißangst vor uns, sie hatten eine Scheißangst vor den Porks (Portugiesen) und sie hatten eine Scheißangst vor den gooks. Stellen Sie sich vor! Hundertzehn Prozent Scheißangst morgens, mittags und abends.”
Ein Freund von K. in Harare kannte einen Mann namens Roger Connor, der eine Fischfarm ganz in der Nähe am Cabora-Bassa-See besaß und uns vielleicht aufnehmen könnte. Drum schlugen wir diese Richtung ein.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, an welcher Stelle die gerade neue Teerstraße sich in eine Staubpiste verwandelt und wann diese sich wiederum in so etwas Ähnliches wie einen Fußweg aufgelöst hatte. Doch wir hatten schließlich alle Reifenspuren hinter uns gelassen. Es wurde Abend und in der ziemlich frischen Nachtluft lag ein Geruch von Buschland. Ungefähr eine Stunde fuhren wir in der Stille der Nacht weiter. Jetzt war die Sonne, die noch hinter den Bäumen hervorgelugt hatte, untergegangen. Die kurz angeleuchteten Mopane-Büsche blitzen, groß wie Soldaten, im Vorbeifahren auf. Hinter uns schimmerte eine Staubwolke rosarot in unseren Rücklichtern.
“Meinen Sie, wir fahren in die richtige Richtung?”, fragte ich schüchtern. “Natürlich.” “Es ist nur, wir scheinen nicht anzukommen.” K. starrte mich an: “Ich kenne diesen Ort wie meine Westentasche”, sagte er. “Ich bin das ganze Land hier abgelaufen. Shit, ich bin über die Hälfte davon auf meinem Bauch gekrochen.”
Wir fuhren seitlich um den Fußweg herum und polterten auf so etwas Ähnlichem wie einer Ziegenspur entlang. Auf diese Art und Weise schlängelte sich unser Weg mehr oder weniger willkürlich, wie es schien, eine halbe Stunde oder so von einer engen Spur zur nächsten, soweit es die Bäume zuließen. Wir kamen dabei durch etliche Dörfer und verpassten ein oder zwei Mal nur knapp einen verblüfften Fußgänger oder einen sich abquälenden Radfahrer. Dann hielt K. endlich an und machte den Motor aus. In die dann folgende atemlose Stille sagte er: “Ich habe nicht die geringste Scheißahnung, wo wir sind.”
Plötzlich richteten sich Scheinwerfer aus der Dunkelheit auf uns. “Roger Connor”, sagte ein weißer Mann, als er aus seinem Landcruiser stieg und uns die Hand reichte. “Ich habe die Nachricht erhalten, dass hier draußen zwei wazungu (Weiße) seien, da dachte ich, dass Sie es sein müssten. Sie haben sich wohl verirrt, oder?”
Ich sagte: “Wir sind stundenlang um den See herum gefahren.” Er lachte. “Ja, nun”, sagte er heiter, “gut, dass ich sie gefunden habe, bevor sie auf irgendeiner dieser Nebenstraßen hier gelandet sind. Überall liegen Landminen herum. Die Gegend hier ist übersät damit.”
Connor war ein energischer Mann, etwa Ende dreißig, und hatte eine auffällig pragmatische Sicht der Dinge. Er war vor fünf Jahren von Simbabwe nach Cabora Bassa gezogen und unterhielt nun einen kapenta-Fischfangbetrieb. Er wohnte in einem hohen, feuchten Schuppen, in dem sich die Hitze des Tages zu stauen und nachts in einen übelriechenden Dunst zu verwandeln schien. Es gab drei kleine Gästezimmer - Hütten aus Zement um genauer zu sein -, die um das Ufer des Sees herum gebaut waren. Connor zeigte mir die “Präsidenten-Suite”, wie sie genannt wurde, weil sie eine Dusche und eine Toilette hatte.
Am nächsten Morgen fanden wir heraus, dass ein früherer Kamerad von K. auf einer Insel im See lebte. “Die munts nennen ihn Mapenga - weil er ein so verrückter Bastard ist”, sagte Connor. (penga ist das Shona-Wort für “verrückt”.) Als wir ihn trafen, zeigte sich Mapenga als genau das, was man von einem verrückten Mann erwarten darf, der alleine auf einem abgelegenen See in Mosambik lebt. Sein Bart wucherte seit einer Woche, sein Hemd war abgetragen, seine Arme und Beine waren übersät mit Kratzern und Schrammen und seine tiefe, raue Bräune ging in seinem Nacken in Rot über. Als K. und er sich zur Begrüßung umarmten und beide sich gegenseitig kräftig auf die Schulter klopften, sah das aus, als wenn sich zwei Gladiatoren treffen würden.
Mapenga diente während des Krieges in einer Sondereinheit der rhodesischen Armee. “Dorthin haben sie die schlauen Bastards geschickt”, sagte er und öffnete dabei ein Bier (“Frühstück”, wie er es nannte). “Was für ein Scheiß wir gemacht haben! Mann, wenn es ein Kriegstribunal gegeben hätte, jeder verdammte einzelne von uns - auf beiden Seiten, denn die gondies waren um keinen Deut besser -, wir säßen alle im Gefängnis. Krieg ist Scheiße.” Er zündete sich eine Zigarette an und musterte mich durch den Qualm. Dann entspannte sich seine Stimme und er lächelte: “Aber Krieg ist ein Geschenk”, sagte er zu mir. “Es ist ein Scheißgeschenk, aber es ist ein Geschenk. Wenn ich sterbe und dort hoch komme und Jesus Christus fragt mich, was ich mit meinem Leben angefangen habe, dann werde ich ihm sagen: ‘Ich hoffe, du hast genügend Zeit mitgebracht, um dich hinzusetzen und zuzuhören, denn ich hab’ eine Wahnsinnsgeschichte für dich!’” Mapenga fuhr fort: “Wir waren alle verrückt in diesem Krieg. Deshalb waren wir auch so verdammt gut. In der Schule haben wir alle nur Scheiße gebaut, wissen Sie, aber im Krieg waren wir klasse.”
Er machte eine Pause. “Weißt du, dass ich in Behandlung war, he?”, sagte er zu K. gewandt. “Am Ende, nach all diesen Jahren, in denen wir die Leute gepeinigt und sie kaputt gemacht haben, und den drei Ehefrauen und, Mann ... Eines Nachts habe ich beinahe meinen eigenen Bruder getötet. Da hat dann meine Familie zu mir gesagt: ‘Hey, entweder lässt du dir helfen oder wir wollen nichts mehr mit dir zu tun haben.’ Sie haben bei mir ADHD (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität) diagnostisiert. Nachdem sie es mal mit diesem, mal mit jenem Medikament versucht haben, haben sie mich auf Ritalin gesetzt und jetzt bin ich in Ordnung. Ich bin wiederhergestellt. Ich habe oft an dich gedacht” - Mapenga sah K. an -, “denn ich glaube, du wirst feststellen, dass du dasselbe hast wie ich. Saddam Hussein, George Bush, bin Laden - all diese Typen - sie alle hatten das. Hitler hatte es natürlich auch. Vielleicht hatte ja auch Jesus Christus ADHD.”
K. zuckte zurück und Mapenga beugte sich vor. “He, ich hab verlauten hören, dass dir das Glück jetzt hold ist. Ist das wahr?” K. nickte. “Nein Scheiße”, sagte Mapenga sanft, “verdammte Scheiße. He, ich respektiere das.” Er zündete sich eine weitere Zigarette an, öffnete ein weiteres Bier und lachte. “Cheers, wie auch immer, du verrückter, miserabler Bastard.”
In den späten siebziger Jahren war es für die rhodesische Regierung immer schwieriger geworden, die zunehmend ermüdete Bevölkerung davon zu überzeugen, dass dieser besonders grausame und kostspielige Krieg eine gangbare Alternative zur schwarzen Mehrheitsherrschaft sein sollte. Im Dezember 1979 vermittelte Großbritannien einen Waffenstillstand, der 1980 zu Mehrparteienwahlen führte. Fast ein Jahrhundert, nachdem die Pionier-Kolonne in das Gebiet um Harare einmarschiert war, wurde der einheimischen Bevölkerung dieses Territoriums endlich das Wahlrecht gewährt. Je nach dem Grad der Gehirnwäsche, der die weißen Rhodesier damals unterzogen worden waren, schockte sie am 4. März 1980 die Nachricht, dass Robert Mugabe, Führer einer der Guerilla-Fraktionen und ein Marxist - ein Mann, von dem viele weiße Rhodesier womöglich noch nie etwas gehört hatten -, die absolute Mehrheit in den Parlamentswahlen gewonnen hatte. Als die Schwarzen auf den Straßen des neuen unabhängigen Simbabwe feierten, standen die weißen Einwohner, die gerade einen langen und bitteren Krieg geführt und verloren hatten, wie gelähmt daneben.
Als ich Mapenga und K. über die Vergangenheit reden hörte, wurde mir klar, dass der Krieg für sie die leichtere Übung war. Was für sie schwierig war, war die Zeit danach, die “verlorenen Jahre”, wie sie sagten. Nach dem Krieg hatten K. und Denise ihr Leben mit dem Fischbetrieb gut eingerichtet. K. hatte sein eigenes Haus gebaut und sich dem Sporttauchen zugewandt (bis eine Begegnung mit einem Krokodil ihn davon abbrachte). Aber er hat bis zum Erbrechen gesoffen, wie er mir sagte - drei Wochen ohne Trinken folgte ein Wochenende, an dem er ununterbrochen becherte. “Voddies-and-Coke (Vodka und Cola) war mein Getränk”, sagte er mir. “Und meine Dämonen. Mai we! (Shona: etwa “ach du meine Güte”). Eines nachts war ich mit Denise in einem Hotelzimmer. Sie kennen ja diese Deckenventilatoren, die man am Kippschalter an- und ausmachen kann? Nun, im Schlaf, vermute ich, konnte ich den Ventilator hören - thuka, thuka, thuka -, und in meinem alkoholisierten Zustand dachte ich, es sei ein verfluchter Hubschrauber, der gekommen ist, um mich chaya - zu jagen. Oh Mann, ich bin aufgewacht, habe geschrien, bin um das Bett herum gesprungen und habe ein Kopfkissen auf diesen Ventilator gedonnert. Überall flogen Federn herum und Denise schrie auf mich ein. Aber ich habe ernsthaft geglaubt, ich würde angegriffen werden.”
Die Saufgelage endeten unvermeidlich in Schlägereien. Einmal in Bulawayo, als er gerade aus der Armee entlassen war, geriet K. in eine Schlägerei mit drei Taxifahrern und einem Taxi. Als er endlich fertig war, mussten die drei Taxifahrer ins Krankenhaus eingewiesen werden und das Taxi war Schrott. K. musste zweitausend Dollar Strafe zahlen und bekam zehn Jahre auf Bewährung. “Tiere wie Sie sollten die Straßen nicht unsicher machen dürfen”, sagte der Richter zu ihm.
Mapenga, K. und ich beschlossen, zusammen zum Train zu gehen. Als ein oben abgeflachter Berg mit ungefähr 25 Meilen Länge, der in den Dornbüschen versteckt lag, war der Train eine Auffüllstation für R.L.I.-Flugzeuge, die während des Krieges von ihren Stützpunkten in Rhodesien nach Mosambik flogen. Für kurze Zeit diente sie auch als Basis für schwarze rhodesische Guerilleros und FRELIMO-Soldaten. Während des Krieges wurden K. und sein Team hier oft von einem Hubschrauber abgesetzt, um Terroristen aufzuspüren. Viele R.L.I.-Mitglieder ebenso wie die Guerilla-Kämpfer haben den Berg als ein Erkennungszeichen gesehen, das den Beginn einer Schlacht anzeigte.
“Kommen Sie und laufen Sie für ein paar Stunden in diesem Gelände”, sagte K. zu mir. “Sie werden eine Ahnung davon bekommen, wie es für uns war.” Man kann den Train schon lange, bevor man ihn erreicht hat, sehen. Je näher Mapenga uns herangefahren hatte, desto besorgter wurde K. Die Straße war alles andere als voraussehbar und wir konnten uns bei dem Lärm des Lkw-Motors kaum unterhalten. Doch nach einer Stunde Schweigen begann K., mit gellender Stimme eine Geschichte zu erzählen. Er sagte uns, dass er einmal von vierzehn Guerilleros vom Train nach Mukumbura - über eine Distanz von vielleicht dreißig Meilen - gejagt wurde.
“Es gab keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, deswegen haben wir uns davon gemacht”, schrie er.
“Wir sind zwei Tage lang gerannt. Und ich wusste, dass sie nicht so schnell wie wir laufen konnten, denn wir waren nur vier ous in meiner Gruppe, sie aber waren zu vierzehnt. Ihre beste Chance wäre es gewesen, uns den Weg abzuschneiden. Ich wusste, dass sie glaubten, wir würden die Abkürzung nehmen, also habe ich die Jungs den Umweg rennen lassen. Zwei Tage und eine Nacht sind wir ohne anzuhalten gelaufen. Am Ende hatten wir allen unnötigen Ballast abgeworfen. Wir hatten unsere Gewehre, unser Gurtband mit Ausrüstungstaschen, unsere Wasserflaschen - das war alles, chete. Scheiße, ich war danach vielleicht müde und hungrig, das kann ich euch sagen.”
Mapenga schien sich um Brücken (so wie sie gerade waren), Flussbetten, Borstenvieh oder Dorfbewohner, nicht mal um die Straße selbst zu kümmern. Er schleuderte das Fahrzeug einfach, so schnell er konnte, in Fahrtrichtung voran. Schließlich brüllte er zu uns rüber: “Dort links ist ein Wildwechsel. Schaut aus dem Fenster und seht, ob ihr ihn ausfindig machen könnt.”
Während die Blätter hinter uns peitschten, fand K. den Pfad, Mapenga riss den Pick-up herum und raste los in den Busch. Sobald wir angehalten hatten, waren wir der Hitze und den Fliegen ausgeliefert. Wir entfernten uns vom Auto. Überall lag Elefantenkot herum, und auch kleine Antilopenarten - Duiker und Impala vielleicht - hatten ihre Zeichen hinterlassen. Das Land zeigte kaum noch Spuren von seinem Status als Symbol des Krieges. Nun war es nur noch dichtes Buschwerk auf trockenem Boden.
Ich behielt beim Laufen K.s Rücken im Auge und hatte dabei die Augen wegen der lästigen Aufdringlichkeit der Mopane-Fliegen halb geschlossen. Mapenga eilte uns voraus. Er preschte mühelos durch den Busch. K. trug das Wasser. Auf unseren Zungen erstarb die Unterhaltung. Ich fühlte mich verwundbar, dünnhäutig und atemlos.
Nach etwa einer Stunde blieb Mapenga an einigen etwas ungewöhnlich ausschauenden Erdhügeln - jeder so groß wie eine verschüttete Hütte - stehen und wartete, bis wir ihn eingeholt hatten. “Was glaubt ihr?”, fragte er. K. spekulierte. “Munitionslager?” Mapenga sagte: “Oder Massengräber?” Die Männer tauschten einen Blick aus, aus dem ich nicht schlau wurde, ein Blick, der aus einer Zeit stammte, in der Stillschweigen vereinbart wurde über stumme Erdhügel. “Oder einfach nur ein merkwürdiger Haufen Dreck mitten im Niemandsland”, sagte Mapenga und trat in den Hügel.
Dann wandte sich K. mir zu. “Ich möchte Ihnen etwas zeigen”, sagte er. “Schließen Sie Ihre Augen.” Er nahm mich an den Schultern und dreht mich mehrmals im Kreis herum. “Zählen Sie bis hundert”, sagte er. Dann ließ er mich los und ging mit Mapenga weg.
Ich wartete und zählte. Schon nach wenigen Sekunden konnte ich die beiden nicht mehr hören. Ihre Fußtritte wurden vom Summen der Insekten und vom Geknister des verdörrten Grases übertönt. Ich öffnete meine Augen. Die Welt hatte eine bleiche, von der Sonne aufgesaugte Farbe angenommen, schattenlos und einförmig.
Ich zählte: “Neunundneunzig, hundert”, und ging los. Der Boden erzählte mir gar nichts. Es gab keinen Trampelpfad - keine deutliche Spur von einem Menschen, der ich hätte folgen können. Bis dahin war ich einfach nur Mapenga gefolgt. Die Erde schaute abgenutzt, aber nicht betreten aus. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf etwas zueilte, was hoffentlich der Train war, aber ich konnte es nicht sagen. Wo immer ich auch hinging, starrte jesse-Gestrüpp auf mich und verdeckte damit jeden Orientierungspunkt. Ich schaute auf den Himmel, aber die Sonne hatte sich ausgedehnt und füllte einen verschwommenen Raum, nach dem es immer währender Mittag hätte sein können. Jedenfalls hatte ich der Sonne keine Aufmerksamkeit geschenkt, als ich aus dem Auto gestiegen war, demnach hätte mir ihr jetziger Stand am Himmel auch kaum geholfen.
Innerhalb von Minuten spürte ich ein panikartiges Stechen in meinem Bauch. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte kein Wasser. Und es wurde mir klar, dass ich K. selbst nach all der Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte, nicht wirklich kannte. Ich wusste nicht, zu was er fähig sein könnte. Ich wusste nicht, bis zu welchem Grade er mich das Gefühl von Durst, Alleinsein und Gejagtwerden erfahren lassen wollte.
“Yoo-hoo”, rief ich. Die Welt stürzte hinter mir ein. Ich fragte mich, wo die nächste Wasserstelle war. Ich dachte daran, mich hinzusetzen und zu warten, um zu sehen, ob irgendjemand zurückkommen und mich finden würde. Auf meinen Handinnenflächen lag ein Film von kaltem Schweiß.
Plötzlich explodierte vor mir ein heller, mit Grün belaubter Strauch. “Waka-waka-waka!” Die Männer erschienen und besprühten mich mit Fantasiekugeln aus Fantasiegewehren, die sie in Hüfthöhe hielten. “Sie wären tot gewesen”, sagte K., drehte sich rum und ging.
“Abgemurkst”, stimmte Mapenga lachend zu. Dann sah er meinen Gesichtsausdruck und fragte: “Haben Sie sich dort einen Augenblick lang Sorgen gemacht? Haben Sie sich verloren gefühlt?” Ich lächelte schwach. “Wir haben Sie von Anfang an im Blickfeld gehabt”, sagte er. “Wir hätten Sie jederzeit erschießen können.”
aus: der überblick 03/2004, Seite 67
AUTOR(EN):
Alexandra Fuller:
Alexandra Fuller ist Autorin des Buches "Unter afrikanischer Sonne".
Wir drucken diesen übersetzten und leicht gekürzten Artikel, der in der Ausgabe des US-amerikanischen Wochenmagazins "The New Yorker" vom 1. März 2004 erschien, mit freundlicher Genehmigung der Liepmann AG Zürich. Copyright © 2004 by Alexandra Fuller.