Subcommandante Marcos hat die Indios in Chiapas benutzt und ihnen geschadet
Der Aufstand der Zapatisten, der Anfang 1994 in Chiapas ausbrach, galt vielen Sympathisanten als Erhebung gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik oder sogar gegen die ungezügelte Globalisierung. Diese Deutung geht der Selbstinszenierung des Anführers der Zapatisten, Subcommandante Marcos, auf den Leim. Marcos hat die Indios benutzt, um Che Guevara und seinen Revolutionsidealen nachzueifern. Den Interessen der Indios hat das geschadet: Sie sind von der Demokratisierung des Landes abgeschnitten, und der Staat ist heute weniger bereit als früher, ihnen Selbstverwaltungsrechte zuzugestehen.
von Maite Rico und Bertrand de la Grange
Mexiko erlebt heute eine neue Revolution, weit entfernt von den gewaltsamen Auseinandersetzungen, die in den Jahren von 1910 bis 1917 das Land erschüttert hatten. Es ist eine leise und friedfertige Revolution, wie der Historiker Enrique Krauze sagt, eine Revolution, die in den achtziger Jahren begann und heute ihre ersten Früchte trägt. Die Demokratie hat die Schlacht gegen den althergebrachten Autoritarismus gewonnen, der sich mittels Wahlbetrug an der Macht gehalten hatte. Heute verfügt die Opposition über die Mehrheit im Kongress, regiert in sechs Bundesstaaten und in der Hauptstadt. Die Massenmedien sind jetzt von der Regierung unabhängig und bieten eine zuvor nicht gekannte Vielfalt der Informationen. Die Mexikaner glauben, dass nun endlich das Ende einer Ära der verfehlten Politik gekommen sei.
Doch während in Mexiko alles in Bewegung ist, scheint die Zeit im Dschungel von Chiapas stehen geblieben zu sein. Immer wieder einmal ist der Kriegsschrei des "Subcommandanten Marcos" vom Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), der Zapatistischen Armee für die Nationale Befreiung, zu hören. Einer der Erfolge von Marcos – sein einziger wirklicher Erfolg – ist, dass er das offizielle Bild einer blühenden demokratischen Nation, die respektvoll mit der eingeborenen Bevölkerung umgeht, entlarvt hat. So sind nach und nach alle Masken gefallen – ausgenommen seine eigene. Der Subcommandante hat sich in seinem Lehen eingerichtet und zeigt sich unfähig, die Veränderungen im Land zu akzeptieren. Dabei hat sein blinder Glaube an die leninistische Strategie von der Verschärfung der Widersprüche in die Sackgasse geführt. Die einheimischen indianischen Kommunen jedoch müssen die Konsequenzen tragen.
Der berühmteste Maskierte des Planeten hat weiterhin treue Gefolgsleute in Europa. Doch die öffentliche Meinung in Mexiko ist seiner Panikmache, des Fehlens von Vorschlägen und seines ständigen Boykotts einer politischen Veränderung überdrüssig. Die vielen Solidaritätskomitees in Europa und Lateinamerika sind seit Beginn des Konfliktes Opfer eines Blendwerks geworden, das es ihnen unmöglich gemacht hat zu erkennen, wie aus einer Erhebung im Namen einer scheinbar gerechten Sache nach und nach ein Hindernis für den Friedens-prozess und die von den Mexikanern ersehnte Demokratisierung geworden ist.
Die Gefolgsleute des neuen Messias haben die offizielle Geschichtsschreibung der Zapatisten, verbreitet in den Medien und im Internet, wie die Worte des Evangeliums aufgenommen, obwohl sie mit dem wirklichen Leben der Indianer in Chiapas nicht übereinstimmt. Heute beginnen einige zu zweifeln. Es mag also hilfreich sein, wenn wir im Folgenden die Geschehnisse rekonstruieren, wobei wir uns auf die in dreijähriger Untersuchungsarbeit und langen Aufenthalten im Dschungel von Chiapas zusammengetragenen Informationen stützen.
Die Welt kam aus dem Erstaunen nicht heraus, als in einem Chiapas genannten Gebiet am 1. Januar 1994 eine Gruppe von Indios sich mit Waffen gegen den allmächtigen mexikanischen Staat erhob. War das eine neue lateinamerikanische Guerilla im ausgehenden 20. Jahrhundert? Das internationale Klima hätte für eine solche Bewegung kaum ungünstiger sein können. Der Fall der Berliner Mauer 1989, der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des kalten Krieges schienen die Option des bewaffneten Kampfes für einen politischen Richtungswechsel erledigt zu haben. In Mittelamerika selber machten Bürgerkriege einem Prozess des demokratischen Übergangs Platz, was sich vor allem in der Wahlniederlage der sandinistischen Revolution in Nikaragua 1990 und in der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1992 in El Salvador zeigte. Zu dieser Zeit gab es auch in Guatemala Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla, die 1996 zum Abschluss gelangen sollten. Außerdem entstand die neue mexikanische Guerilla in einem Land, das auf dem ganzen Kontinent als ein Beispiel für politische Stabilität galt und das gerade in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada (NAFTA) feierte.
Das Auftauchen der Zapatistischen Armee war zweifellos Aufsehen erregend: Mehr als 2000 schlecht bewaffnete Indios dringen in fünf Dörfer ein, darunter die touristisch attraktive Kolonialstadt San Cristobal de las Casas. Angeführt werden sie von einem jungen Weißen, vermummt und mit einer UZI-Maschinenpistole bewaffnet. Er bezeichnet sich als "Subcommandante Marcos" und erklärt, das Ziel der neuen Revolution seien Demokratie und Gerechtigkeit. Mit seinem schwarzen Umhang, einer Mao-Mütze, dem Patronengürteln quer über der Brust und einer Pfeife bietet er einen fesselnden Anblick – wie eine Mischung aus Emiliano Zapata und Che Guevara.
Die Kämpfe dauern zwölf Tage und enden mit dem vom damaligen Präsidenten Carlos Salinas verfügten Waffenstillstand. Die genaue Anzahl der Toten ist nicht bekannt, doch inoffiziell wird von 600 geredet, in der Mehrzahl Indios. Ein exotischer Aufstand in Mexiko ist alleine schon eine Sensation für die Nachrichten. Doch so richtig medienwirksam wird er erst durch die betörende Gestalt: Der Subcommandante sieht gut aus, ist gebildet, drückt sich gewählt aus, benutzt Zitate aus Literatur und Rockmusik, hat Sinn für Humor, ist ein bisschen kokett und verfügt über literarisches Talent.
Innerhalb weniger Tage stilisiert die Weltpresse Marcos zu einem neuen Robin Hood im Dienste von fast zehn Millionen mexikanischen Indianern. Die neueste Version des "neuen Menschen", der Schimäre der sechziger Jahre, war im lakandonischen Dschungel entdeckt worden! Die europäische Linke, immer auf der Suche nach einer neuen Identität, findet bei den Zapatisten die verloren geglaubte Sache wieder: den Widerstand eines alteingesessenen Volkes, der gleichzeitig auch als verbindendes Element gegen einen gemeinsamen Feind dient – den Neoliberalismus. Lateinamerika erhebt sich aufs Neue als ein imaginärer Kontinent voller Stereotypen: gute Wilde, Guerilleros als Erlöser von hinterhältigen Regierungen. Dieses Bild fasziniert die Gesellschaften, die ein schlechtes Gewissen wegen ihrer ehemaligen Kolonialpolitik umtreibt.
In einem kleinen Dorf im lakandonischen Dschungel, in La Realidad, richtet Marcos sein Hauptquartier ein. Heute ist es ein Wallfahrtsort für den Revolutionstourismus auf der Suche nach der Utopie. Hierher pilgern Internationalisten aus aller Welt, unter ihnen auch Berühmtheiten wie Alain Touraine, Régis Debray, Danielle Mitterand und Oliver Stone. Geblendet von den darstellerischen Fähigkeiten von Marcos, gelingt es ihnen nicht, zu verstehen, was wirklich vorgeht. Sie sind von vornherein davon überzeugt, dass alle Indios in Chiapas, ungefähr eine Million, Zapatisten sind. Sie sehen nicht, dass die überwiegende Mehrheit außerhalb der Konfliktzone und damit am Rande der Geschehnisse lebt, wenn sie nicht sogar gegen die EZLN eingestellt sind. Sie sehen auch nicht, dass fast die Hälfte der 65.000 Bewohner des lakandonischen Dschungels ihre Häuser wegen des bewaffneten Aufstandes verlassen haben. Und schlussendlich wollen sie nicht einsehen, dass das demokratische Paradies von Marcos nicht existiert und die Gemeinden einer eisernen militaristischen Struktur unterworfen sind. Nach und nach gewinnt das Bild des "imaginären Chiapas" die Oberhand, wie es der mexikanische Historiker Juan Pedro Viqueira nennt.
Als der Konflikt ausbrach, war Chiapas für die meisten Korrespondenten ein Geheimnis. Im Laufe des ersten Jahres beschränkten sich die Informationsquellen auf drei: den Subcommandanteen Marcos, die mexikanischen Behörden und die Diözese von San Cristobal de las Casas mit seinem Vertreter, Bischof Samuel Ruiz, einem Verfechter der Theologie der Befreiung. Sie alle nutzten die allgemeine Unkenntnis, um die Informationen nach ihrem Gutdünken einzusetzen.
Die Regierung, die sich in Wirklichkeit nie für die Indios eingesetzt hatte, außer wenn sie ihre Stimmen kaufen konnte, versicherte, der Aufstand sei von dunklen ausländischen Urhebern angefacht worden. Marcos hingegen stellte die EZLN als eine Bewegung mit ethnischen Wurzeln dar, die von einem geheimnisvollen Comité Clandestino Revolucionario Indígena (CCRI), einem geheimen indigenen Komitee, geleitet werde und dabei auf die einstimmige Zustimmung der lakandonischen Dörfer zählen könne. Die Medien erhielten aber keinen Zugang zu diesen Dörfern. Der Bischof hingegen, der seit den sechziger Jahren am Modell einer eigenständigen Kirche gearbeitet hatte, versicherte, dass er nichts von dem wüsste, was gerade passiere. Beide Seiten verbreiteten Lügen, erklärte er. Das bestätigte sich nach und nach, als zuvor verborgene Informationen zugänglich wurden.
1995, nachdem die Regierung ein Jahr lang blinde Vermutungen angestellt hatte, wird die Identität von Marcos enthüllt: Es handelt sich um einen jungen Grafiklehrer namens Rafael Guillén, geboren in der im Norden gelegen Stadt Tampico. Die Verhaftung mehrerer zapatistischer Anführer, die Monate später frei gelassen werden, ergibt neue Anhaltspunkte.
Die Spuren der EZLN führen zu keiner Organisation alteingesessener Indios, sondern zu den Fuerzas de Liberación Nacional (FLN), den Kräften der Nationalen Befreiung, einer bewaffneten Gruppierung, die 1969 in Monterrey, einer Industriemonopole im Norden des Landes, entstanden war. Diese Handvoll von Studenten, Anhänger der kubanischen Revolution, hatte sich auf die Fahne geschrieben, in Mexiko eine "sozialistische demokratische Revolution" zu machen. Ihren Ausgangspunkt fanden sie 1972 im Dschungel von Chiapas, der ihnen wegen seiner schwierigen Zugangswege und seiner Nähe zur guatemaltekischen Grenze geeignet erschien. Doch zwei Jahre später entdeckte die Armee die Gruppe und tötete fast alle der Anführer.
Anfang der achtziger Jahre bauten zwei der Überlebenden, Fernando Yañez (Kommandant Germán) und Gloria Benavides (Kommandantin Elisa), mit viel Geduld die Bewegung wieder auf und kehrten nach Chiapas zurück, um das alte Vorhaben des bewaffneten Kampfes wiederzubeleben. Doch dieses Mal wollten sie den Boden besser vorbereiten. Deshalb nahmen sie Kontakt zur Diözese von San Cristobal auf und knüpften Freundschaft mit Jorge Santiago, einem der Schützlinge des Bischofs Samuel Ruiz.
Es war die Zeit der heißen Jahre in Mittelamerika. Der Bischof und seine Mitstreiter waren von der Revolution in Nikaragua und der sandinistischen "Volkskirche" fasziniert. Als im März 1980 Oscar Arnulfo Romero, der Erzbischof in San Salvador, von rechtsextremistischen Kräften ermordet wurde, führte dies zu einer Radikalisierung der Diözese. Viele glaubten, dass der revolutionäre Prozess unumkehrbar sei und bald auch Chiapas erreichen würde. Die alten Guerilleros der FLN wollten sich für den "großen Tag" vorbereiten, und dafür brauchten sie die Hilfe oder zumindest die Zustimmung der einzigen wirklichen sozialen Kraft, die es in den von den Indios bewohnten Gebieten von Chiapas gab: der Diözese und ihres umfassenden Netzes von Katechisten. Am 17. November 1983 siedeln sich Germán und Elisa nahe der Lagune von Miramar an, das zum ersten Guerilla-Lager ihres Chiapas-Zweiges werden sollte: der Zapatistischen Armee.
Sechs Monate später gab Rafael Guillén seinen Unterricht an der Universidad Autónoma Metropolitana auf und schloss sich seinen Kameraden im Dschungel an, wo er seinen Jugendtraum verwirklichen wollte: Ernesto Che Guevara zu verkörpern, den er in allen Einzelheiten imitierte – Mütze, Pfeife, zwei Uhren, sich als Arzt ausgeben. Sogar das spätere Auftreten von Asthma passt dazu. Marcos war brillant und zu allem entschlossen. Dies ging so weit, dass er die anderen Anführer (alle weiß und aus dem Norden) beiseite drängte und die Kontrolle über die Truppe übernahm, die ausnahmslos aus Indios bestand.
Die Guerilleros stießen auf eine geeinte und bewusste Bevölkerung, die seit Jahren für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände gekämpft hatte. Der Staat glänzte durch Abwesenheit, und die Kirche hatte eine autarke Republik gegründet, die sich auf die Grundfesten des Zweiten Buches Mose berief. Die Indios, die von ihrem Land vertrieben worden waren und nun den lakandonischen Dschungel besiedelten, sollten gesehen werden wie das jüdische Volk nach der Flucht aus Ägypten. Die politische Organisation dieser Menschen ging auf das Konto einiger maoistischer Gruppierungen, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Diözese ausgenutzt hatten.
Einige Geistliche, die in dieser Zeit im Dschungel arbeiteten, erklärten uns, manche Gemeinden hätten die neu angekommenen jungen Leute als Mittel angesehen, ihre alten Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen: Sie brauchten Schulen, medizinische Versorgung, Straßen, gerechte Preise für ihre Produkte (Vieh, Mais und Kaffee) sowie Besitztitel für ihre Ländereien. Die Revolutionäre waren bereit ihnen zu helfen, doch mit einer anderen Zielrichtung. "Die Gemeinden sahen den bewaffneten Kampf als Mittel zum Selbstschutz", erklärte uns die Kommandantin Elisa. "Doch für uns war dies ein Mittel zu einem politischen Wandel."
Dies war der Beginn eines fürchterlichen Missverständnisses zwischen den indigenen Reformkräften und den weißen Revolutionären. Ein Missverständnis, das erklärt, warum später, in den ersten Januartagen des Jahres 1994, die indigene Bevölkerung Todesopfer erleiden musste, während Marcos es verstand, sich als neuer Anführer der internationalen Linken darzustellen.
Nach und nach wuchsen in den achtziger Jahren die zapatistischen Lager. Die Gemeinden verkauften ihr Vieh und nutzten ihre Bankkredite, um Waffen zu kaufen, die ihnen Marcos zu einem Dreifachen des Marktwertes beschaffte. Auf diese Weise wurden die städtischen Kader der FLN finanziert. 1988 war praktisch die gesamte Region unter Kontrolle der EZLN. Doch die strikte Hierarchie und das autoritäre Gehabe der Milizen gaben Anlass zu Reibungen mit der Bevölkerung. Anders denkende wurden bestraft und aus ihren Gemeinden ausgestoßen. Die ärmsten Dörfer lehnten sich nun gegen die Lasten auf, die ihnen zur Unterstützung der Guerilla auferlegt wurden.
Bischof Samuel Ruiz fühlte sich von Marcos ausgenutzt. Die Guerilla war in Dörfer eingedrungen, die seine soziale Basis bildeten, und hatte sie in einen Konflikt verwickelt, der ihm jetzt selbstmörderisch erschien. 1989 begann die Diözese eine Gegenoffensive, um die Gemeinden zu überzeugen, diese "verdammte Organisation zu verlassen, die Krieg und Tod lobpreist". Aber es war schon zu spät. Wie der Zauberlehrling hatte Don Samuel ein Wesen geschaffen, das er nicht mehr aufhalten konnte. "Marcos redete von einem nationalen Krieg der Arbeiter und Lehrer und davon, dass wir die Regierung stürzen würden", erinnert sich ein Mitkämpfer; "und am Ende haben wir den Aufstand allein getragen, und wir waren es auch, die Tote zu beklagen hatten."
Heute, sechs Jahre nach der Erhebung, hat sich die Lage der Tzeltal-Gemeinden im lakandonischen Dschungel in jeder Hinsicht verschlechtert. Der Konflikt hat das soziale Gefüge zerstört, und die Hälfte der Bevölkerung musste ihre Heimat verlassen. Wegen der ständigen politischen Mobilisierung, genährt durch die Angst vor einer Intervention des Militärs, wurde die landwirtschaftliche Arbeit vernachlässigt. Einstmals autarke Gemeinden sind heute von der nationalen und internationalen Unterstützung abhängig, um wenigstens die Grundnahrungsmittel wie Mais und Bohnen zu erhalten. Die Inszenierungen von Marcos haben die Wirklichkeit im angeblichen zapatistischen Paradies verhüllt, die weit entfernt ist von dem vom Subcommandanteen propagierten Idyll: Die "politischen Kommissare" der EZLN säen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Terror, indem sie hartnäckige Gegner als "Verräter" verstoßen und Unvorsichtige zu Zwangsarbeit verurteilen oder ihre Grundstücke konfiszieren. Seit 1994 hat die Diözese in San Cristobal aus ihren Gemeinden viele Dokumente über diese Vorgehensweise erhalten.
Die Gewalt hat längst die Grenzen des Konfliktgebietes überschritten und die Gemeinden der Choles und Tzotziles in den Bergen und im Norden erreicht, wo religiöse und politische Differenzen mit Gewehr und Machete ausgetragen werden. Die Ermordung von 45 Personen -überwiegend Frauen und Kindern -in der pro-zapatistischen Gemeinde Acteal am 22. Dezember 1997 hat die internationale Öffentlichkeit erschüttert. Seit dem Waffenstillstand vom 12. Januar 1994 sind mehr als tausend Indios ermordet worden. Chiapas hat sich in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem sich Zapatisten und Anhänger der PRI, Katholiken und Protestanten, Indios und Mestizen gegenüberstehen. Der Frieden ist im Endeffekt blutiger als der Krieg.
Auch auf politischem Gebiet hat der Aufstand keine Vorteile für die indigene Bevölkerung gebracht. Die ethnische Frage ist für Marcos und für den Rest der weißen Anführer der FLN nie vorrangig gewesen. Die 1993 verabschiedeten Statuten der Organisation sprechen von der "Diktatur des Proletariats", dem "revolutionären Internationalismus" und den "auf Dauer geltenden Thesen des Marxismus-Leninismus". Die lyrischen Ergüsse von Marcos haben vergessen lassen, dass die EZLN während der Rebellion vom 1. Januar auf die Hauswände von San Cristóbal "revolutionäre Gesetze" geschrieben hatte, unter anderem Dekrete, die die Einsetzung von Sowjets in Mexiko forderten. So hat Marcos auch die zuerst von ihm gelobten Vereinbarungen zurückgewiesen, die er selbst zusammen mit der Regierung im März 1994 unterzeichnet hatte. In diesen Vereinbarungen hatte die Regierung auch die 34 Forderungen anerkannt, die von den indigenen Gemeinden gestellt worden waren. Die Militäroffensive im Jahr 1995 schließlich hat die Rebellen wieder zurück an den Verhandlungstisch gebracht. Während aber der charismatische Anführer der Zapatisten sich zum Wortführer im weltweiten Kampf gegen Neoliberalismus und Globalisierung aufschwang, übernahm Samuel Ruiz gemeinsam mit einer Anzahl von Anthropologen die Moderation des Dialogs und lenkte ihn auf das unerforschte Gebiet der Autonomie für die Indigenen.
Zwei Jahre später, im Februar 1996, unterzeichneten die Beteiligten in San Andrés Larráinzar eine Reihe von Abkommen zu "indigenen Rechten und Kultur". Diese waren für die alteingesessenen Gemeinden wesentlich weniger vorteilhaft als die ursprünglichen Abkommen aus dem Jahr 1994. Darüber hinaus lassen sie sich im Rahmen der geltenden Verfassung nicht umsetzen. Bis heute sind sich die Unterzeichner nicht über das Ausmaß und die Bedeutung der indigenen Autonomie, die sie so viele Verhandlungen gekostet hat, einig geworden.
Auf der anderen Seite sehen sich die Gemeinden in dem Konfliktgebiet von dem Transformationsprozess abgekoppelt, den der Rest des Landes durchläuft. Marcos boykottiert seit 1994 mit Waffengewalt alle Wahlversammlungen und verhindert, dass die demokratische Linke in seinem Einfluss-gebiet starken Einfluss erhält. Die Behinderungen der normalen politischen Spielregeln haben die Macht der Kaziken noch gestärkt und neue Gewalt aufkeimen lassen.
Unterdessen hat die Regierung große Geldsummen für Chiapas freigegeben, die jedoch immer nur einzelne Hilfsleistungen finanzieren; ein umfassender Entwicklungsplan ist bislang nicht erarbeitet worden. Präsident Zedillo ist die fruchtlosen Diskussionen leid und scheint die heiße Kartoffel lieber seinem Nachfolger zu überlassen.
Während der Wind des politischen Wandels durch das Land streicht, entfernt sich Marcos offenbar immer mehr von der Wirklichkeit. Die demokratische Linke in Mexiko hat ihm nie getraut und scheint auch jetzt nicht bereit, ihm einen Gesinnungswandel zu erleichtern. Das umso weniger, als sie inzwischen wichtige Wahlsiege errungen hat und zum Beispiel den Bürgermeister von Mexiko-Stadt stellt. Die Zivilbevölkerung, die er so oft aufgefordert hat sich zu organisieren, folgt seinen Aufrufen nicht mehr, während gleichzeitig der Movimento de Liberación Nacional, die Bewegung der Nationalen Befreiung, wie auch die Frente Zapatista de Liberación Nacional, die Zapatistische Front der Nationalen Befreiung, von sektiererischen Gruppierungen unterwandert worden sind. Und Bischof Samuel Ruiz, Marcos wichtiger Beschützer, gleichzeitig aber auch sein gefährlichster Widersacher, ist seit seinem 75. Geburtstag im vergangenen November im Ruhestand.
Einige junge, in den Kaderschulen der Guerilla ausgebildete Indios haben die Organisation bereits verlassen. Dutzende Gemeinden, die vormals zapatistische Hochburgen waren, haben dem bewaffneten Kampf entsagt. Die engsten Mitarbeiter von Marcos – Moisés, Tacho, David und ein paar andere – werden so lange dabei bleiben, wie sie sich Hoffnungen auf vorteilhafte Verhandlungen für ihre eigenen Gemeinden machen können. Davon hängt auch ihre eigene politische Zukunft ab. "Die Indios lassen ihre weißen Berater entscheiden, aber nur so lange, wie es ihnen Vorteile verschafft", erklärt der Historiker Juan Pedro Viqueira, der viele Jahre in San Cristóbal gelebt hat. "In dem Moment, in dem sie ihnen nicht mehr von Nutzen sind, jagen sie sie davon. Und genau das kann auch Marcos passieren."
Doch der Subcommandante scheint nicht bereit zu sein, seinen revolutionären Elan einzustellen. Er wartet offenbar nur auf die Gelegenheit, wenn Chiapas wieder zum Epizentrum der mexikanischen Politik wird. Um den von ihm geschaffenen Mythos am Leben zu erhalten, dessen Gefangener er zugleich ist, hat der Chef der Zapatisten seine Stimme für eine CD hergegeben, kündigt die Vorbereitung einer CD-ROM an und wartet darauf, dass sich sein Freund Oliver Stone für die Verfilmung seiner Abenteuer entscheidet.
Marcos hat die Regeln des bewaffneten Kampfes geändert und ihn nach und nach in ein Schauspiel verwandelt. Wenn er davon redet, wie er den Weg sucht, eine "alle Welten umfassende Welt" zu schaffen, wird er genauer: "Wenn es diesen Weg nicht geben sollte, haben wir uns zumindest auf der Suche danach gut unterhalten, und wir haben auch niemanden umgebracht, es sei denn aus Langeweile." Sind die Indios der EZLN also gestorben, weil sie nicht verstanden haben, dass das ganze nur ein Spiel war? Mit dieser Art von Kommentaren untermauert Marcos nur, was viele schon seit langer Zeit vermutet hatten: sein ungeheures Talent für Theater und Showbusiness machen aus ihm, egal was er auch sagt, niemals einen verantwortungsvollen politischen Führer.
aus: der überblick 02/2000, Seite 24
AUTOR(EN):
Maite Rico:
Maite Rico ist Journalist und arbeitet als Korrespondent der Zeitungen El Pais und Le Monde in Mexiko und Mittelamerika. Sein Buch "Subcommandante Marcos - la genial Impostura" (Subcommandante Marcos, die geniale Hochstapelei) ist 1998 in Frankreich, Mexiko und Spanien erschienen.
Bertrand de la Grange :
Bertrand de la Grange ist Journalist und arbeitet als Korrespondent der Zeitungen El Pais und Le Monde in Mexiko und Mittelamerika. Sein Buch "Subcommandante Marcos - la genial Impostura" (Subcommandante Marcos, die geniale Hochstapelei) ist 1998 in Frankreich, Mexiko und Spanien erschienen.