Zu Beginn des neuen Jahrtausends befinden sich weltweit etwa acht Millionen Menschen in Haft. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren beständig angewachsen, viele Gefängnisse sind restlos überfüllt, es werden sogar neue gebaut. Wo Angst vor Kriminalität und Gewalt herrscht, verschafft die Vorstellung, dass man die Täter hinter Mauern verschwinden lassen kann, Erleichterung: "Sperrt sie ein, und werft den Schlüssel fort". Kaum jemand weiß -oder möchte wissen - wie es in Gefängnissen aussieht.
Auch wer keinerlei Sympathie für verurteilte Delinquenten hat, müsste beim Blick in die Statistik oder in manche Haftanstalten erschrecken. In den Gefängnissen sitzen nämlich viele Menschen ein, die vielleicht gar nicht dorthin gehören.
von Renate Wilke-Launer
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch führt in ihrem Jahresbericht für 1999 19 Länder namentlich auf, in denen mehr als 50 Prozent der Häftlinge Untersuchungsgefangene sind, also noch nicht rechtskräftig verurteilt wurden. In Indien hat ein besonders schockierender Fall jüngst das oberste Gericht und die Öffentlichkeit beschäftigt: 34 Jahre hat ein an Schizophrenie erkrankter Mann ohne Prozess in der Haft verbracht, bevor er in ein Krankenhaus und jetzt in ein Altenheim überwiesen wurde.
In vielen Ländern der Dritten Welt aber landen jugendliche Untersuchungsgefangene und Straftäter im Knast für Erwachsene; dort werden sie - meist ziemlich brutal - in die kriminelle Welt eingeführt. Frauen stellen weltweit nur fünf Prozent der Häftlinge, sie sitzen meist wegen geringfügiger Vergehen wie Ladendiebstahl ein, weil sie Sex gegen Geld gewährt haben, von Männern ausgenutzt wurden (zum Beispiel als Drogenkurier) oder sich gegen Misshandlung zur Wehr gesetzt haben. Die kenianische Menschenrechtskommission hat im Dezember 1999 eine Untersuchung über weibliche Häftlinge vorgelegt, nach der fast alle befragten Frauen Straßenhändlerinnen oder Prostituierte waren oder illegal Alkohol gebraut hatten. Wie armselig und von Gewalt geprägt die Lebensbedingungen mancher Frauen sind, zeigt die in einigen US-Frauengefängnissen beobachtete Tatsache, dass sich Insassinnen dort bei vergleichsweise guter Kost und ohne gewalttätige Übergriffe vom harten Leben in Freiheit regelrecht erholen.
Vergleicht man die Haftbedingungen in aller Welt, so lassen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede feststellen. Was Vaclav Havel und Nelson Mandela beobachtet haben, gilt wohl überall auf der Welt. In seinen "Briefen an Olga" notierte Havel, was Haft für die Beziehungen unter den Menschen dort bedeutet: "Alles hier ist viel elementarer, in mancher Hinsicht: soziale Beziehungen und Mechanismen, die im Leben draußen verborgen und auf komplexe Weise maskiert sind, erscheinen drinnen ganz nackt. Alles liegt offen zu Tage wie es ist, unvermittelt, transparent. Alles ist mit großer Klarheit zu erkennen, wie in einem konvexen Spiegel." Nelson Mandela hat analysiert, was große Nähe und von außen erzwungener Abschied bedeuten: "Oft hat man dort mit jemandem monatelang unter außerordentlich intimen Umständen zusammengelebt, und dann sieht man ihn niemals wieder. Es hat etwas Entmenschlichendes, denn es zwingt einen, sich mehr und mehr auf sich selbst zu beschränken." "Das Gefängnis", so schreibt Mandela an anderer Stelle in seiner Autobiographie, "beraubt den Menschen nicht nur der Freiheit, es sucht ihm auch die Identität zu nehmen. Jeder trägt die gleiche Kleidung, isst das gleiche Essen, hält sich an den gleichen Tagesablauf. Ein Gefängnis ist per Definition ein rein autoritärer Staat, der keinerlei Unabhängigkeit oder Individualität toleriert."
Schon die Inhaftierung an sich ist also schwer zu verarbeiten. Im besten Fall bleibt es bei Ausschluss und Fremdbestimmung, gibt es sogar Hilfe in Form von Therapie und Berufsausbildung, Besserung hat man das zunächst genannt, später dann Rehabilitation. Doch weitaus häufiger ist die Haft mit Horror verbunden: Überfüllung, unerträgliche Bedingungen, Willkür und Gewalt bestimmen den Alltag. Zu dem harten Gefängnisregime kommt die Gewalt von Mitgefangenen. Wer neu eingeliefert wird, wird erst einmal gedemütigt, gar durch Vergewaltigung in eine Hackordnung gezwungen. Gruppen von Gefangenen pflegen tödliche Feindschaft mit anderen Inhaftierten, vereint sind sie nur in ihrem Hass auf den Staat und seine Gefängniswärter.
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enerell lässt sich sagen, dass dort, wo rechtsstaatliche Regelungen und Institutionen existieren, die Haftbedingungen besser sind. Trotzdem gibt es zum Beispiel auch in Westeuropa unerträgliche Haftbedingungen, wie jüngst in Frankreich eine Ärztin bekannt gemacht hat, oder inakzeptable Diskriminierungen, wie die immer wieder aufflammende Diskussion über Rassismus von britischen Gefängnisbeamten zeigt.Der schlechte Zustand vieler Dritte-Welt-Nationen spiegelt sich auch in ihren Gefängnissen: Menschen werden unschuldig oder wegen Bagatelldelikten viel zu lange festgehalten, sie können sich keinen Anwalt leisten und bekommen keinen fairen Prozess. Umgekehrt müssen Kriminelle, die genügend Geld habe, um zu bestechen, oft gar nicht erst in den Knast oder erkaufen sich dort Luxusbedingungen, wie Human Rights Watch aus Indien, Mexiko und Kolumbien berichtet. Schlecht ausgebildete und miserabel bezahlte Wärter versuchen, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen oder verhöhnen die Gefangenen. amnesty international hat dokumentiert, dass aus Anlass des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember 1998 in einem brasilianischen Gefängnis 400 Gefangene aus ihren überfüllten Zellen geholt und misshandelt wurden. Für Gewalt unter Gefangenen sind neben Brasilien und Venezuela auch Kenia und Südafrika berüchtigt. Human Rights Watch macht dafür die Behörden verantwortlich: Die Gewalt sei das vorhersehbare Ergebnis der offiziellen Untätigkeit, da die Gefängnisverwaltungen die Häftlinge nicht genügend überwachten und kontrollierten, auf Gewalttätigkeit nicht reagierten, korrupt genug seien, um Waffenschmuggel ins Gefängnis zuzulassen, und die Tyrannei der stärksten über die schwächeren Gefangenen duldeten.
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rei Staaten mit Anspruch auf Weltgeltung müssen wegen besonderer Missstände erwähnt werden: China, weil es oft kurzen Prozess macht und Delinquenten dann auch gleich hinrichtet und weil es gnadenlos Menschen verfolgt und zu hohen Haftstrafen verurteilt, die eine den Behörden nicht genehme Meinung vertreten oder – schlimmer noch – sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen. Auch lässt das sehr auf seine Souveränität bedachte China unabhängige Untersuchungen über die Zahl der Gefängnisse und die Zustände dort nicht zu.Die Verhältnisse in Russlands Gefängnissen spotten jeder Beschreibung. Die Kerker, die schon den Zaren und den Kommunisten gedient haben, sind noch so grauenhaft wie eh und je und zudem hoffnungslos überfüllt. Mehr als eine Million Menschen sind in Russland inhaftiert, überwiegend Personen, die man eher als elende Gestalten denn als professionelle Kriminelle bezeichnen muss.
Was die Zahl der Inhaftierten im Verhältnis zur Bevölkerung angeht, so sind die USA Russland direkt auf den Fersen. Seit 1973 ist dort die Zahl der Insassen stark angestiegen, im Februar dieses Jahres hat sie die 2-Millionen-Grenze überschritten. Damit sind 25 Prozent der Häftlinge der Welt in den USA inhaftiert. Zurückzuführen ist das auf die harte Bestrafung von Drogendelikten und drei Strafgrundsätze, die Entschlossenheit und Gerechtigkeit vorspiegeln, oft genug aber unangemessen und gnadenlos sind. Obligatorische Mindeststrafen (Mandatory Sentencing), langjährige, oft lebenslange, Haft nach der dritten Straftat (Three Strikes and You’re out) und die Bestimmung, dass bei bestimmten Delikten 85 Prozent der Haftzeit abgesessen werden müssen (Truth in Sentencing).
Weil die Haftanstalten infolge dieser Regelungen ständig überbelegt sind, werden immer neue Gefängnisse gebaut. Und weil das viel Geld kostet, lässt man sie in vielen Bundesstaaten von Privatfirmen bauen und betreiben, die versprechen, Haft kostengünstiger zu gestalten. Etwa 160 solcher privaten Haftanstalten gibt es inzwischen in den USA, und Kritiker sprechen in Anlehnung an den 1961 von Eisenhower geprägten Begriff des militärisch-industriellen Komplexes bereits von einem Gefängnis-industriellen Komplex. Gemeint ist damit das Zusammenspiel von Politikern, die die Angst vor Kriminalität benutzen, um Wählerstimmen zu bekommen, wirtschaftlich schlecht gestellten Landstrichen, die sich vom Gefängnisbau ökonomische Entwicklung versprechen, und Privatfirmen, die in dem von den Steuerzahlern aufgebrachten Geld für den Strafvollzug einen lukrativen Markt sehen.
Noch leben weltweit erst zwei Prozent aller Gefangenen in privaten Haftanstalten, doch ihre Zahl wächst. Die einschlägigen Firmen werben längst international um Kundschaft. Ob hier zu Lasten der Gefangenen und der Angestellten gespart wird, wie Kritiker in den USA betonen, oder moderne Haftanstalten mit professionellem Management entstehen, wie man in Südafrika erhofft, muss wahrscheinlich für jede Haftanstalt, jede Firma und jedes Land immer wieder neu geprüft und entschieden werden. Entscheidend ist aber, dass der Staat Kontrollrechte hat und wahrnimmt und Missstände von Gefangenen, ihren Anwälten und den Medien aufgedeckt werden können.
Wenn so viel von (immer neuen) Gefängnissen die Rede ist, droht etwas anderes aus dem Blick zu geraten: Dass nämlich das Wegsperren keineswegs die einzig denkbare und schon lange nicht beste Methode ist, um sich vor Kriminalität und Gewalt zu schützen. Natürlich gibt es gefährliche Personen, die eingesperrt werden müssen, für andere Delinquenten aber gibt es Alternativen, die der Rehabilitation förderlicher sind.
Dafür gibt es auch in der Dritten Welt beeindruckende Beispiele. Im indischen Rajasthan zum Beispiel, so hat Rani Dhavan Shankardass Ende Januar auf einer Konferenz in London berichtet, gibt es sieben offene Siedlungen, in denen zu langen Haftstrafen verurteilte Häftlinge, die einen Teil ihrer Strafe bereits im Gefängnis verbüßt haben, mit ihren Familien leben. Seit 20 Jahren wird dieses Modell erfolgreich praktiziert. Und in Simbabwe hat Paddington Garwe, heute Richter am obersten Gericht des Landes, 1992 einen "Community Service" eingerichtet und so mehr als 32.000 Menschen vor der Haft bewahrt.
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eformer wie Shankardass, Garwe und viele andere haben sich in der NGO Penal Reform International(PRI) zusammengeschlossen und erhalten - zögerlich aber zunehmend - für ihre Arbeit auch internationale Unterstützung. Die britische Regierung zum Beispiel hat einige Vorhaben von PRI finanziert. Deutschland gehört zu den zögerlichen Regierungen, und auch die NGOs sind hierzulande zurückhaltend. "Brot für die Welt" unterstützt zwei Projekte in Peru, von denen sich eines nicht nur an die Gefängnisinsassen, sondern auch an deren Familien, die Polizei und das Gefängnispersonal wendet. Der Verein "Zukunft für Kinder in Not" setzt sich für Minderjährige in afrikanischen Gefängnissen ein.So wie Engagement für bessere Haftbedingungen in den reichen Ländern auf Ablehnung stößt, ist auch Hilfe für Gefangene in den armen Ländern nicht beliebt. Sie ist aber dennoch dringlich. Nicht alles, was notwendig und richtig ist, kann auch populär sein.
aus: der überblick 01/2000, Seite 4