Eine politische Reise durch das Heilige Land
Viele Menschen haben im Hinblick auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern längst Partei ergriffen. Andere schweigen, erschrocken über den Hass auf beiden Seiten und weil ihnen keine Verständigung möglich erscheint. Heribert Adam und Kogila Moodley, zwei erfahrene Soziologen mit deutschem bzw. südafrikanischen Hintergrund haben Israel/Palästina vor kurzem bereist und mit den verschiedensten Menschen aus beiden Lagern gesprochen.
von Heribert Adam und Kogila Moodley
Warum sollen wir uns überhaupt mit Israel beschäftigen, wenn es so viel schlimmere Menschenrechtsverletzungen auf Seiten seiner arabischen Kritiker gibt, haben uns einige unserer jüdischen Freunde gefragt. Warum hackt die Welt auf der einzigen Demokratie im Mittleren Osten herum - wenn nicht aus latentem Antisemitismus? Dieser Verdacht sitzt tief und ist möglicherweise teilweise gerechtfertigt, während er gleichzeitig als passender Schutzschild dient, um jede Kritik am jüdischen Staat zum Schweigen zu bringen. Nein, man sollte Israel nicht mit strengeren Maßstäben beurteilen als andere.
Dass dem Land unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil wird, hat eine Reihe von Gründen: Erstens wird Israel, weil es eine westliche Demokratie ist, an diesem Maßstab gemessen. Zweitens hat der jüdische Staat eine hochkarätige Diaspora, für die er geistige Heimat und sichere Zuflucht zu sein beansprucht. Drittens wird das Land, als westlicher Vorposten in strategisch wichtigem Umfeld, von US-Steuerzahlern und Geberorganisationen kräftig unterstützt und steht so mit seinen Partnern im Ausland in Verbindung. Viertens wird israelische Politik benutzt, um islamistische, antiwestliche Stimmung zu schüren. Vor allem wird von Überlebenden und Nachkommen als ehemaligen kollektiven Opfern eine besondere Sensibilität erwartet, die sie davon abhält, ethnische Diskriminierung zu wiederholen. Kurz gesagt, eine Auseinandersetzung mit der israelischen Politik aus vielen Gründen ist zu unterscheiden von Antisemitismus. Kritik an der israelischen Regierung stellt die Legitimität des Staates Israel nicht in Frage und ist erst recht nicht als Angriff auf das Judentum zu verstehen.
Problematische ethnische Solidarität darf auch hinterfragt werden. Viele unserer jüdischen Freunde sind über die israelische Politik zutiefst besorgt. Doch diese Kollegen mit ihren hohen Grundsätzen schweigen und kritisieren Israels Regierungspolitik nicht öffentlich, schon gar nicht im Ausland.
Bei unserem Besuch in Israel und in Palästinensergebieten suchten wir bewusst nicht nur Menschen mit ähnlichen politischen Ansichten auf. Wir brachen das Brot mit einem einnehmenden Führer der heute an den Rand der Gesellschaft gedrängten und desillusionierten israelischen Friedensbewegung und mit einem geschätzten Kollegen, der uns stolz ein Bild von Scharon an der Wand zeigte. Als wir die jeweilige Reaktion auf die Meinung des Gegners abzuschätzen versuchten, zuckten beide mit den Schultern: "Was erwarten Sie sonst von solchen Irren?" Der kultivierte Scharon-Anhänger ließ keinen Zweifel. Selbst die herausragende israelische Tageszeitung Ha'aretz (die auch in englischer Sprache als Beilage zur International Herald Tribune veröffentlicht wird) tat er kurzerhand als "voraussagbaren linken Unsinn" ab. Das führte uns wieder einmal vor Augen, dass die internen politischen Spaltungen in der israelischen Gesellschaft mindestens ebenso tief sind wie die Kluft zur arabischen Welt. Hier handelte es sich um säkularisierte Menschen, die wahrscheinlich beide die 20-Prozent-Minderheit der ultraorthodoxen Juden in ihren dunklen Anzügen als weiteres separates Element der Gesellschaft betrachten. Hinzu kommen 1 Million russischer Juden, die in erster Linie kulturell Russen und in ihrer Mehrheit politische Hardliner sind, die 200.000 Siedler in Palästinensergebieten mit ihrer eigenen Ideologie sowie die 200.000 Bewohner der staatlich geförderten Wohngebiete auf nach 1967 erobertem arabischen Land auf den Hügeln rund um Jerusalem.
Ähnlich tiefe interne ideologische Spaltungen gibt es bei den Palästinensern. Kaum einer der mehreren Dutzend politisch interessierten Palästinenser, mit denen wir uns ausführlich unterhielten, zeigte Begeisterung für Arafat und seinen korrupten Sicherheitsdienst, geschweige denn für die Fundamentalisten der Hamas und des kleineren Dschihad. Niemand wagt es zwar, Arafat als Symbolfigur der palästinensischen Befreiung aus dem Amt zu jagen, aber alle wissen um seine Grenzen. Eine Verbannung Arafats allerdings, wie sie der ehemalige Premierminister Benjamin Netanjahu befürwortet, sehen die Palästinenser einmütig als Vorspiel zur eigenen Vertreibung an. Laut nationalen Meinungsumfragen vom März 2002 sprechen sich rund 46 Prozent der israelischen Juden für einen "Transfer" der Palästinenser aus ihren Gebieten aus, 31 Prozent befürworten sogar den "Transfer" der 1 Million israelischen Araber aus Israel selbst. Mit Verweis auf die demografische Bedrohung sagte uns ein führender Intellektueller: "Ein Araber ist einer zu viel!"
Ein palästinensischer Intellektueller bezeichnete den anhaltenden "weichen Transfer" abwandernder Fachkräfte als wesentliches Problem. Inakzeptable Bedingungen, von Ausgangssperren bis hin zu Reise- und Arbeitsbeschränkungen, veranlassen Menschen, welche diese Wahl haben, freiwillig zu emigrieren. Man muss eine Bevölkerung nicht terrorisieren, um sie zu demoralisieren und ihre besten Köpfe zu vertreiben.
Die gefürchteten Kamikaze-Piloten der kaiserlichen japanischen Armee steuerten ihre Flugzeuge in heroischer Selbstaufopferung in die US-Flotte. Aber damals beschränkte sich der tödliche Kampf wenigstens auf zwei Militärapparate, die offiziell Krieg gegeneinander führten. Selbstmordattentäter in Israel und Palästina wollen vorsätzlich Juden töten, gleich ob sie Zivilisten oder Soldaten, Kinder oder Erwachsene, Linke oder Rechte sind. Und wenn es auch nicht offizielle Politik ist, so werden, wenn die israelischen Streitkräfte militante Palästinenser verfolgen, regelmäßig mehr Zivilisten als Bewaffnete getötet, seien es apolitische Pazifisten oder gewalttätige Aktivisten. In dem Krieg ohne Kriegserklärung im Heiligen Land sind die Unschuldigen auf beiden Seiten die Hauptopfer. Wie üblich sind auch die Armen, die in Flüchtlingslagern leben oder an Bushaltestellen warten, unverhältnismäßig stark gefährdet und leiden am meisten.
Der israelisch-palästinensische Konflikt weist alle Anzeichen ethnischer Aussonderung auf. Die Wahl fällt auf dich, weil du Jude bist. Nur palästinensischer Besitz wird enteignet, nur Araber mit anderen Nummernschildern werden an zahlreichen Straßensperren kontrolliert, und es gibt lange Straßen nur für Juden zu den Siedlungen in der Westbank. Wahllos, unterschiedslos und unvorhersehbar werden Lebenschancen beschnitten, nur weil man mit einem historischen Stempel geboren wurde. Aus der bitteren Geschichte gibt es kein Entrinnen, solange man im Konfliktgebiet lebt. Zwei verfeindete Völker betrachten einander als kollektive Feinde, üben kollektive Rache, verdächtigen und dämonisieren alle Mitglieder der anderen Gruppe, ungeachtet der weit differierenden Einstellungen von Einzelpersonen auf beiden Seiten. Das macht es den friedensuchenden Kräften so schwer, die notwendigen Bündnisse über ethnische Grenzen hinweg zu schließen. Kein anderer Konflikt zwischen Volksgruppen ist so von gegenseitigen Vorurteilen, Schuldvorwürfen und Ressentiments geprägt wie der zwischen den zwei Völkern mit dem höchsten Bildungs- und Entwicklungsstand im Nahen Osten.
"Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie die blutigen Überreste Ihrer Tochter wegen irgendeines indoktrinierten Fanatikers identifizieren müssten?", fragte uns unser jüdischer Gastgeber in Jerusalem. "Erwarten Sie, dass wir passiv herumstehen, wenn ihre Siedler weitere Teile unseres Landes besetzen, unsere Olivenbäume niederreißen, während ihrer Ausgangssperren auf uns schießen und uns mit endlosen Wartezeiten an ihren Kontrollpunkten demütigen?", fragte unser palästinensischer Gastgeber zehn Kilometer weiter in Ramallah. "Sie haben alle Waffen der Welt - wir haben nur unseren Körper und unseren Willen, um uns ihrer anhaltenden Kolonialisierung zu widersetzen."
Der Rachezyklus eskalierte, als eine Hoffnung gebende Verhandlungspolitik im Januar 2001 abbrach. Seitdem bestimmen Extremisten auf beiden Seiten den Gang der Dinge. Apologeten auf beiden Seiten diskutieren endlos über Ursache und Wirkung. Palästinenser geben die Schuld dem eklatanten Expansionismus der Siedler auf ihrem Land. Israelis führen legitime Sicherheitsbedürfnisse angesichts beispielloser Angriffe auf ihren Lebensalltag an. Beide "rechtschaffenen Opfer" brutalisieren einander. Das macht jede Hoffnung auf friedliche Koexistenz in der Zukunft zunichte.
Außenstehende können Betroffenen, die täglich darum kämpfen, in einer schmerzlichen Situation normal zu leben, schlecht Ratschläge geben. Gäste sollten zuhören, lernen und beobachten, aber nicht belehren. Was aber, wenn Ihr Gastgeber die Frage zurückgibt und auf eine Antwort drängt: "Was würden Sie in unserer Lage tun?" Unwissenheit vorzutäuschen oder sich in ausweichende Allgemeinplätze zu flüchten, hieße sich vor einer moralischen Pflicht zu drücken.
In diesem Dilemma antworteten wir unseren palästinensischen Zuhörern geradeheraus: Man muss versuchen, moralisch wieder die Oberhand zu gewinnen! Öffentlich Stellung beziehen gegen die kontraproduktiven Selbstmordanschläge. Vorsätzliches Töten unschuldiger Zivilisten ist unmoralisch und nach dem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es marginalisiert das israelische Friedenslager, einen wichtigen Verbündeten. Leisten Sie statt dessen passiven Widerstand im Stile Gandhis, lassen Sie die Gewaltlosigkeit der ersten Intifada wieder aufleben, die von der Bevölkerung und von Protestaktionen durch Ladenbesitzer und Schulkinder getragen wurde.
Die zweite Intifada dagegen wird im Geheimen und mit militärischen Mitteln von autonomen, rivalisierenden Milizen in einem fragilen, noch nicht richtig existierenden Staat geführt. Mit Sprengsätzen und Schießereien werden Gegner dort herausgefordert, wo sie am stärksten sind, anstatt Israel mit der moralischen Bloßstellung seines Expansionismus dort zu beschämen, wo es am schwächsten ist. Palästinenser lassen sich als Terroristen brandmarken und lösen massive Vergeltungsmaßnahmen aus, die das soziale Gefüge des entstehenden Staates zerstört haben.
Erhalten Sie, so unsere Antwort, die wenigen institutionellen Errungenschaften der palästinensischen Autonomie, und erlauben Sie den israelischen Rechten nicht, Sie in Vergessenheit zu stürzen. Der zerschmetterte Krankenwagen auf einem Trümmerhaufen auf Arafats Gelände schien uns eine Mahnung, dass dies ein Krieg mit wenig Regeln ist. Spätestens nach dem 11. September hätte man die militaristische Strategie aufgeben müssen. Warum Scharons Behauptung, die Palästinenser seien örtliche Bin Ladens, noch unfreiwillig bestätigen? Da Sie mit dem dogmatischen Antiamerikanismus von Hisbollah-Führern nichts gemein haben fragten wir zurück, warum sagen Sie das nicht öffentlich, wie es einige palästinensische Intellektuelle intern bereits getan haben? Distanzieren Sie sich von Al Quaeda, die sich Ihrer Sache für eigene Zwecke bedienen will.
Unsere palästinensischen Zuhörer quittierten diese pessimistische und kritische Sicht der Dinge mit höflicher Abweisung. Wunschdenken anstelle realistischer Anerkennung von Machtunterschieden kennt keine Grenzen, wenn man an die Gerechtigkeit der eigenen Sache glaubt. Warum wir das Schimpfwort "Selbstmordattentäter" verwendet hätten anstelle des korrekten Begriffs "Märtyrer", wollte jemand wissen. Wüssten wir denn nicht, dass Steine werfende Kinder keinen einzigen Siedler dazu bringen, unser Land zu verlassen? Aber ein Scheitern der Gewaltlosigkeit bedeute nicht zwingend, dass Gewalt zum Erfolg führen wird, warfen wir ein. Außerdem habe der Protest der ersten Intifada den Palästinensern einige greifbare Erfolge gebracht: das Oslo-Abkommen, die Aussicht auf einen souveränen palästinensischen Staat und weltweite Sympathie. Aber was für ein lebensunfähiges, zerstückeltes Bantustan (homeland nach dem Muster des südafrikanischen Apartheidsstaates; d. Red.) werde da geschaffen, beharrte unser Gesprächspartner. Ein anderer warf ein: "Wir wären die Wächter unserer eigenen Haftlager, Israel auf Gedeih und Verderb ausgeliefert". In der Tat, etwas Ähnliches hat Ariel Scharon wohl im Sinn, wenn er von "schmerzlichen Zugeständnissen" spricht: einen künftigen palästinensischen Staat auf - derzeit offiziell unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde stehenden - 40 Prozent des Gebiets von Westbank und Gaza nach Rückzug der israelischen Streitkräfte.
Ein palästinensischer Anwalt fragte: "Nachdem wir Israel im Oslo-Abkommen von 1993 bereits 78 Prozent des britischen Mandatsgebiets Palästina zugestanden und sein Recht auf Koexistenz mit uns anerkannt haben, wie viele Vertreibungen und Zugeständnisse sollen wir denn noch ertragen? Koloniale Siedler sind unersättlich in ihrem Hunger nach Land und knappem Wasser. Sie erlassen ein Rückkehrgesetz für alle Juden auf der Welt, während Millionen palästinensischen Flüchtlingen - einige noch in diesem Land geboren - die Rückkehr für immer verwehrt ist."
Die Rückkehr der Flüchtlinge in die Häuser ihrer Vorfahren ist der hartnäckigste Streitpunkt in diesem Konflikt. Manche Palästinenser lehnen jeden Kompromiss zu diesem "prinzipiellen Recht" wie Ersatz für verlorenes Land oder symbolische Rückkehr einer begrenzten Zahl ab. Wenige politische Köpfe auf jüdischer Seite denken an einen föderalen, ethnisch neutralen, gemeinsamen Zweivölkerstaat, in dem Juden und Araber in relativer multikultureller Harmonie zusammenleben, wie das zweisprachige Kanada oder Südafrika, das zumindest formal der Rassendiskriminierung ein Ende gesetzt hat. Doch eine wachsende Zahl palästinensischer Intellektueller überdenkt angesichts der israelischen Okkupation das Ziel eines eigenen Staates. Sie definieren ihre Freiheit heute eher als Kampf um Bürgerrechte in einem gemeinsamen Staat denn als nationale Befreiung in einem eigenen Staat.
Der Versuch, dieses Problemgeflecht zu entwirren, läuft auf die unmögliche Aufgabe hinaus, der Geschichte eine neue Ordnung zu geben. Wenige nationale Bewegungen waren so erfolgreich wie der Zionismus, dem es gelang, trotz wiederholten militärischen Widerstands seiner arabischen Nachbarn und der örtlichen palästinensischen Bevölkerung einen modernen ethnischen Staat zu schaffen. Juden, die vor dem europäischen Antisemitismus flohen, besiedelten das unfruchtbare Land nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern wegen ihrer ideologischen Bindung an den Mythos der Rückkehr in eine heilige alte Heimat. Hätte es keine russischen Pogrome in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und keinen Nazi-Holocaust gegeben oder hätte Amerika die jüdischen Ausgestoßenen herzlich aufgenommen, gäbe es Israel nicht. Die vertriebenen Palästinenser sind die indirekten Opfer europäischer Verbrechen gegen eine verwundbare Minderheit, die eine sichere Zuflucht suchte.
Unsere palästinensischen Kollegen stimmten unserem Plädoyer für Gewaltlosigkeit in privaten Gesprächen weitgehend zu. Sie wollten aber auch, dass wir ihre Zwangslage und den Kontext des selbstmörderischen Widerstands verstehen. Es verursachte ihnen Unbehagen, das höchste Opfer, das Aktivisten auch für sie erbracht hatten, abzuwerten. Unter dem Konformitätsdruck, die "tapferen Märtyrer" zu ehren, konnten sie sich von diesen auch nicht öffentlich distanzieren, ohne sich selbst aus der palästinensischen Politik auszugrenzen. Israelische Palästinenser in Jaffa erzählten uns von einem Gedenkgottesdienst für palästinensische Nebenopfer eines Selbstmordanschlags, bei dem die trauernden Angehörigen keinerlei Kritik an dem Attentäter äußerten. Aus Angst oder Überzeugung?
Wir glauben, Israel macht sich selbst etwas vor, wenn es die Loyalität seiner 20 Prozent arabischen Bürger als gegeben voraussetzt. Diese Bürger zweiter Klasse fühlen sich zunehmend entfremdet, wie wir an unserem ersten Tag in einem großen palästinensischen Haus in Jaffa spürten. Bei einer Runde durch verfallene Infrastruktureinrichtungen beklagte man sich in erster Linie über die ungerechte Zuteilung öffentlicher Mittel bei gleichem Steueraufkommen. An den Schlaglöchern und Bürgersteigen ist bereits zu erkennen, ob man sich in einem jüdischen oder arabischen Viertel befindet.
Viele Menschen denken an Emigration, aber solange die Intellektuellen vor Ort nicht explizit die moralische Führung übernehmen, bleiben die Reaktionen auf die Besetzung zersplittert und irrational. Die palästinensische Gesellschaft wird ebenso wie die israelische Sicherheit zunehmend von autonomen Milizen außerhalb jeder politischen Kontrolle bedroht. Bei einer militanten Jugend, die nichts zu verlieren hat, genießen die Funktionäre der Palästinensischen Autonomiebehörde keinen guten Ruf, weil ihnen persönliche Bereicherung und Kollaboration vorgeworfen wird. Völlige Ohnmacht und häufige persönliche Erniedrigung rufen eine alles verzehrende Wut hervor, die Außenstehende kaum nachvollziehen können. Wir hatten angenommen, religiöse Indoktrination motiviere zum Märtyrertum, aber man gab uns ganz andere Erklärungen.
Ein angesehener palästinensischer Ortsvorsteher erzählte die Geschichte einer gut angepassten Oberschülerin aus einer säkularen, liberalen Familie, die sich in einem Supermarkt in die Luft sprengte. Sie forderte zwei Frauen in traditioneller palästinensischer Kleidung auf, das Gebäude zu verlassen, bevor sie auf eine Gruppe Kundinnen mit Kindern zuging. Sie wurden alle getötet, als ihr Sprengsatz explodierte. Warum hat sie das getan? "Bestimmt nicht, weil sie eine religiöse Psychopathin war!" Der Lehrer erklärte, er mache sich keine Sorgen, wenn ein oder zwei Mädchen dem Unterricht fernbleiben - aber wenn zehn auf einmal fehlen, fürchte er, dass sie um die Ehre wetteifern, wer die nächste Märtyrerin sein dürfe. "Die Mädchen sparen ihr Taschengeld, um den Sprengsatzgürtel zu kaufen." Er kennt auch Familien, die das Geld zurückwiesen, das ihnen später angeboten wurde, denn: "es ist kein Ersatz für unser geliebtes Kind". Aber wer macht aus beeinflussbaren Kindern mobile Bomben?
Wir fragten eine attraktive 23-jährige Palästinenserin, wie sie die Situation erlebt. Ihre Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Erniedrigung. Sie fühle sich von den jungen Männern in grünen Uniformen an den vielen Kontrollpunkten symbolisch vergewaltigt, und sie veranschaulichte dies mit zahlreichen Geschichten über schikanöse Behandlung. Sie erzählte von kleinen Jungen, deren Schultaschen ausgeleert wurden, und nachdem sie ihre Bücher wieder eingesammelt hatten, begann die Wache das Spiel lachend von vorn.
Als wir von Jordanien aus über den Allenby-Grenzübergang zum zweiten Mal nach Israel einreisten, sahen wir mit eigenen Augen, wie Araber in der Warteschlange behandelt wurden. Ein würdiges älteres Paar um die Siebzig wurde mit herrischen Gesten herumkommandiert. Ihre ärmlichen Haushaltswaren in zwei vollgestopften Tüten wurden geringschätzig auf den Boden geworfen. Die Körpersprache waffenstarrender Jugendlicher einschließlich hartgesottener junger Frauen sagte alles. Wir reis-ten mit zwei Diplomaten aus Kanada - immer geduldig, ruhig und höflich -, die bei der unfreundlichen Schikane in stundenlanger Prozedur erstmals hörbar zornig wurden. Wenn schon privilegierte Besucher so behandelt werden, wie kann Israel erwarten, dass normale Touristen wiederkommen?
Im schaurig leeren Novotel im Niemandsland zwischen Ost- und Westjerusalem trägt der Empfangschef eine Pistole im Gürtel. Bewaffnete Uniformierte bewachen die Eingänge der Universität und überprüfen ständig die Mülleimer in der Cafeteria. Wir kauten unsere Sandwiches in der Universität von Tel Aviv neben einem Studenten, der ein Uzi-Maschinengewehr lässig über der Schulter trug. Israelis leben am Abgrund, und die Nerven liegen blank. Aggressives Fahren und Hupen dienen als Ventil für den allgegenwärtigen Druck. Die Zahl der Deserteure und sogenannten "Problemsoldaten" mit posttraumatischer Belastungsstörung ist deutlich gestiegen. Es sind dies die verborgenen, unsichtbaren Kosten einer Belagerungsgesellschaft, die keiner Seite erspart bleiben. Der unvermutete Knall eines Luftwaffenjets über Jerusalem, der die Schallmauer durchbrach, verursachte Panik am Boden, weil er wie eine Bombenexplosion klang. Restaurants durchsuchen ihre wenigen Kunden am Eingang. Einen Bus zu fahren oder als Sicherheitspersonal in einem Einkaufszentrum zu arbeiten, zählt zu den gefährlichsten Tätigkeiten.
Gleichzeitig geht das Leben seinen üblichen Gang, als sei es so normal wie das Zähneputzen am Morgen, über das tägliche Überleben nachzudenken - oder nicht mehr nachzudenken. Unser zuvorkommender Gastgeber in Tel Aviv zeigte uns stolz seinen Bombenschutzraum neben der Küche und fuhr mit uns zu dem Supermarkt ein paar Häuserzeilen weiter, um uns zu zeigen, wo nur zwei Tage zuvor eine Explosion Menschen getötet hatte.
Die Palästinenser - die staatenlosen ehemaligen Pendler in den autonomen Gebieten ebenso wie die Einwohner von Ostjerusalem mit einem speziellen Ausweis - leiden am meisten unter der israelischen Wirtschaftskrise und der verständlichen jüdischen Paranoia. Ein vertrauenswürdiger arabischer Maler, der zehn Jahre lang bei der Hebrew University beschäftigt war, rastete plötzlich aus und legte eine ferngesteuerte Bombe in der überfüllten Studentencafeteria, die er erst am Vortag gestrichen hatte. Angeblich aus Kostengründen hat die Universität gerade - unter dem Protest einiger engagierter Fakultätsmitglieder - einen Großteil ihrer arabischen Reinigungskräfte entlassen. Dreihunderttausend Migranten aus dem Balkan und aus Asien haben die kollektiv entlassenen Palästinenser ersetzt. Die israelische Abriegelungspolitik hat die Arbeitslosigkeit in der Westbank und in Gaza drastisch erhöht. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Apartheid. Die südafrikanischen Herrschenden wollten ihre Untergebenen ausbeuten; Israels Herrschende wollen die Araber vertreiben. Die Logik des Zionismus fordert einen araberfreien Staat oder - wenn das nicht möglich ist - einen Status zweiter Klasse in einem offiziellen jüdischen Staat. Sind Verelendung und Benachteiligung einer verdächtigen Minderheit der Schlüssel zu größerer Sicherheit für die dominierende Mehrheit?
Was wird die Zukunft bringen? Gleiches und Schlimmeres durch einen allgemeinen Rechtsruck der israelischen Wähler, befürchtet der schrumpfende linke Block, der die Meretz-Partei unterstützt. Könnte ein gestärkter Scharon unter dem Druck der USA zu einem de Klerk oder einem de Gaulle mutieren, der sich gegen die Siedler wendet? De Gaulle gab eine sehr viel stärkere Siedlergemeinschaft in Algerien auf, die sich als verratener Teil des Mutterlandes sah und auf dessen Schutz zählte.
Wird die neu positionierte Arbeitspartei die apolitischen, aber verschreckten Wähler auf die ideologische Mitte zwischen einer erklärt antiarabischen Rechten und einem desillusionierten Friedenslager einschwenken? Unter Premierminister Ehud Barak von der Arbeitspartei sind am meisten neue Siedlungen in Palästinensergebieten angelegt worden.
Wenn die israelischen Wähler nur davon überzeugt werden könnten, dass die Abschaffung der Siedlungen und die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staats Frieden bringen, wäre eine Mehrheit wohl für ein Disengagement. In Ermangelung eines zuverlässigen Verhandlungspartners bei den zersplitterten Palästinensern befürworten viele Mitte-Links-Intellektuelle heute sogar einen einseitigen Rückzug. Ein langer Zaun soll nun Sicherheit zaubern. Während andernorts eiserne Vorhänge fallen, träumen viele Israelis davon, sich einzumauern. Die Siedler jedoch lehnen den Zaun ab, der sie ausgrenzt und wie eine endgültige Grenze aussieht und für den aus "Sicherheitsgründen" noch mehr palästinensisches Land beschlagnahmt werden muss.
Aber so attraktiv die Lösung "zwei Staaten für zwei Völker" klingt, sie muss scheitern, solange fanatische Siedler darauf bestehen, inmitten der palästinensischen Bevölkerung zu leben. "Was passiert mit den Siedlern, die sich weigern zu gehen?", fragten wir. "Sie werden im nationalen Interesse gehen müssen", war die sehnsüchtig-idealistische Antwort. Die Anwendung von Gewalt und der Einsatz des Militärs gegen jüdische Siedler würde aber auf einen Bürgerkrieg in Israel hinauslaufen. In ihrem kürzlich erschienenen und hochgelobten Buch The Global Political Economy of Israel stellen Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler fest: "Seit dem 'Friedens'-Abkommen von Oslo im Jahr 1993 haben die verschiedenen israelischen Regierungen nicht eine jüdische Siedlung in den Besetzten Gebieten aufgelöst. Im Gegenteil, sie haben neue errichtet." Wenn die Siedler nicht zum Verlassen der Siedlungen gezwungen und die Palästinenser nicht "transferiert" werden können, folgt daraus, dass sie mit gleichen Bürgerrechten in einem Staat zusammenleben müssen.
Es wird einige Zeit dauern, beide Seiten davon zu überzeugen, dass Koexistenz in einem gemeinsamen Zweivölkerstaat die wirtschaftlich sinnvollste - wenn auch noch nicht politisch machbare - Lösung sein kann. Die traurige Wahrheit ist: Selbst wenn die Palästinenser schließlich einen eigenen lebensfähigen Staat haben sollten (was die Unterhändler in Taba im Januar 2001 vereinbart haben, der jetzt regierende Likud aber ablehnt), wird das nichts daran ändern, dass viele Islamisten in Israel einen Staat von Ungläubigen auf heiligem muslimischem Boden sehen. Die muslimische Welt muss auch Israels moralisches Existenzrecht in den Grenzen vor 1967 anerkennen. Das war im Kern der saudische Vorschlag. Er fiel wegen der ungelösten Frage des Rückkehrrechts für Flüchtlinge durch.
Die Zwei-Staaten-Lösung würde in der Tat helfen, die militärische Konfrontation zu entschärfen. Allerdings würde ein halbsouveräner, entmilitarisierter palästinensischer Staat, der wirtschaftlich nahezu völlig von Israel abhängig wäre, höchstwahrscheinlich neuen Streit hervorrufen, vor allem wenn es ein zersplitterter Kleinstaat nach Scharons Vorstellung wäre. Ironischerweise waren es gerade die israelischen Erfolge - die Zerschlagung der Palästinensischen Autonomiebehörde, die erneute Besetzung palästinensischer Gebiete und die Bildung einer ganz Britisch-Palästina umfassenden geopolitischen Einheit - welche die Zwei-Staaten-Lösung entscheidend torpediert haben, sofern nicht Vertreibung oder dauerhafte palästinensische Bantustans das Ziel sind. Durch Geschichte, Geografie und wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit aneinander gebunden, können die zwei verfeindeten Völker durchaus lernen, gleichberechtigt zusammenzuleben, wenn nicht aus freier Wahl, dann doch notgedrungen, so wie Weiße und Schwarze in Südafrika widerstrebend gelernt haben, nach Jahrhunderten der Feindschaft zu koexistieren.
Ein eher zynischer Kommentar eines führenden südafrikanischen Apartheid-Ideologen lautete später: "Wir mussten Apartheid erst ausprobieren, um zu wissen, dass das System nicht funktionieren kann!" Ohne das Verbrechen zu wiederholen, kann Israel von Südafrika lernen, dass das Einsperren von Menschen in Stammesreservaten und die Beschränkung der Rechte anderer in einem ethnischen Staat keinen langfristigen Frieden bringen. Auch der mit Gewalt oder anderen Mitteln herbeigeführte "Transfer" löscht das Heimatgefühl und den Rückkehrwunsch eines Volkes nicht aus und ist außerdem ein noch größeres Verbrechen. Eine Regierungspartei, die zwischen diesen beiden Optionen - Transfer oder Apartheid - schwankt und sich in erster Linie von militärischen Überlegungen leiten lässt, erklärt ihren moralischen Bankrott.
Ein Gefühl der Hoffnung muss auf beiden Seiten wiederbelebt werden. Menschen gehen Risiken ein, wenn sie klare Perspektiven für ein besseres Leben und Anteil an einer chancenreichen Zukunft haben. Die Aussicht auf Sicherheit, nicht auf vermehrte Unsicherheit, bringt Bewegung in verhärtete Positionen. Da die parteiischen USA mehr Krieg und Aufruhr in der Region befürworten, fällt der Europäischen Union (EU) die Aufgabe zu, eine Alternative aufzuzeigen. Das Angebot einer EU-Mitgliedschaft für Israel/Palästina könnte vielleicht Beweggrund genug für eine Verhandlungslösung sein. Wenn ein geteiltes Zypern mit einem großen türkisch-muslimischen Bevölkerungsanteil EU-Mitglied werden kann und ein Beitritt der Türkei für die Zukunft ernsthaft ins Auge gefasst wird, dann würde auch ein demokratisches Israel/Palästina, das sich westlichen Menschenrechtsstandards verpflichtet, die Voraussetzungen erfüllen. So wie die europäischen Staaten ihre historische Feindschaft in gemeinsamen Institutionen überwunden haben, so wären Israelis und Palästinenser in einem staatenübergreifenden System zum beiderseitigen Vorteil aneinander gebunden.
Israel und PalästinaNotwendige BündnisseWir haben in den vergangenen dreißig Jahren ethnische Konflikte in vielen Ländern als Insider und Outsider erforscht. Selten fühlten wir so zu schreiben gedrängt wie über unsere Erfahrungen in Israel. Dass einer von uns deutschen Ursprungs ist und die andere durchlebt hat, wie die Apartheid Menschen zu Opfern macht, schärft den Blick. Die schwere Bürde einer grausamen antisemitischen Geschichte mahnt uns zur Vorsicht vor einer Verurteilung der Nachkommen einer jahrhundertelangen Verfolgung, die im Schrecken des Holocaust gipfelte. Verletzliche, traumatisierte Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Schutz um jeden Preis, auch um den Preis des Expansionismus. Als die arabischen Bewohner des Zufluchtlandes Widerstand gegen neue jüdische Siedler leisteten, begannen die historisch Vertriebenen zwangsläufig selbst, Menschen zu vertreiben. Der Mythos eines verheißenen Landes hat - nach vier Kriegen seit 1948 - zur jüdischen Herrschaft über die arabische Bevölkerung geführt. Aber können sich die neuen, oft aus Amerika kommenden jüdischen Siedler in der Westbank und in Gaza noch immer auf den Opferstatus berufen? Mit staatlichen Zuschüssen und militärischem Schutz besetzen sie mehr arabisches Land und verbrauchen fünfmal mehr knappes Wasser pro Kopf als den Palästinensern zugeteilt wird. Israelis und Palästinenser betrachten einander als kollektive Feinde - die tiefe innere Spaltung beider Gesellschaften und die sehr unterschiedlichen Einstellungen von Einzelpersonen auf beiden Seiten nicht berücksichtigend. Das macht es den Frieden suchenden Kräften so schwer, die notwendigen Bündnisse über ethnische Grenzen hinweg zu schließen. Wenn der Ansatz "zwei Staaten in friedlicher Koexistenz" daran scheitert, dass die jüdischen Siedler unter keinen Umständen die palästinensischen Gebiete wieder verlassen wollen, so kann es nur eine Lösung nach dem Vorbild Südafrikas geben: ein gemeinsamer Staat von Bürgern zweier Ethnien mit gleichen Rechten. Heribert Adam und Kogila Moodley |
aus: der überblick 01/2003, Seite 60
AUTOR(EN):
Heribert Adam und Kogila Moodley:
Heribert Adam ist Soziologe an der "Simon Fraser University" in British Columbia und Kogila Moodley Soziologin an der "University of British Columbia", Kanada. Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit ist das Themenfeld Nationalismus und ethnischer Konflikt, insbesondere Apartheid in Südafrika.